Geschichte der EURO: Der schöne Fußball triumphiert

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Heute: die EM 2000 in Belgien und den Niederlanden.

Am 14. Juli 1995 kam es zu einem weiteren Novum in der EM-Historie. War das Teilnehmerfeld zur EM 1996 bereits verdoppelt worden, geschah dies an jenem Tag auch mit der Zahl der Gastgeber. Die UEFA vergab die Euro 2000 erstmals an zwei Länder, was angesichts der gestiegenen Herausforderungen nachvollziehbar war. Weder Belgien noch die Niederlande hätten alleine 16 Länderteams beherbergen und 31 Spiele in der Norm der entsprechenden Stadien austragen können. Gemeinsam aber ging es. Auch Österreich und die Schweiz gaben eine Doppelbewerbung ab, deren Zeit sollte bekanntlich noch kommen (EM 2008).

Ein Novum war auch die Teilnehmerzahl an der Qualifikation: 51 Länder wollten zur EM 2000, abzüglich der Gastgeber stritten 49 Teams um 14 Plätze. Der Fußballadel fand auch 2000 wieder den Weg zur kontinentalen Gala, aber so manch Großer musste unerwartet heftig zittern. Weltmeister Frankreich etwa, 1998 im eigenen Land im Finale 3:0-Bezwinger Brasiliens, quälte sich ein Jahr später an gleicher Stätte im Prinzenpark-Stadion zu einem 2:0 über Andorra und brauchte im Rückspiel gar einen Elfmeter in der 85. Minute.

Deutschland zittert sich zur EURO

Erst am letzten Spieltag sicherte die "Equipe tricolore" ihr EM-Ticket, während die Ukraine in die neu eingeführten Play-off-Spiele für die Gruppenzweiten musste. Dort landete auch die englische Mannschaft, die neun Punkte hinter Schweden einlief. Italien unterlag den Dänen 2:3 in Neapel, hatte aber letztlich einen Punkt mehr als der Champion von 1992.

Besonders heftig zitterte auch die deutsche Mannschaft, die nach internen Wirren nicht mehr zu alter Stärke fand. Der Titelverteidiger war nur noch ein Schatten seiner selbst, der deutsche Fußball durchlief eine Talsohle. Unter dem neuen Bundestrainer Erich Ribbeck, der den im September 1998 zurückgetretenen Berti Vogts ablöste, wurde gleich das erste Spiel verloren. Dem 0:1 in Bursa gegen die Türken lief die Auswahl während der ganzen Qualifikation hinterher. Vor dem Rückspiel im Oktober 1999 brauchten die Deutschen noch einen Punkt. Das Heimspiel in München geriet zum Auswärtsspiel, von 63.000 Tickets waren 43.000 an Türken gegangen. Glanzlos wie es in jener Epoche leider an der Tagesordnung war, löste die DFB-Elf dennoch ihr Ticket – mit einem 0:0. Die türkische Zeitung Hürriyet schrieb: "Wir haben den Fußball-Riesen ins Schwitzen gebracht. Eine Zitterpartie für den dreimaligen Welt- und Europameister. Wir verschenkten den Gruppensieg." Der Kicker bilanzierte: "Über den Krampf zum Ziel."

Im Land des Titelverteidigers überwog die Skepsis für eine Mannschaft, die noch immer mit Libero spielte und den Zug der Zeit verpasst zu haben schien. Symbolfigur deutscher Stagnation war der im Alter von 38 Jahren von Ribbeck reaktivierte Lothar Matthäus, der nicht mehr die Dynamik haben konnte, um seine Paraderolle im Mittelfeld zu spielen. So machte ihn Ribbeck zum "letzten Mann", während international schon überall Viererketten vor den Toren gespannt wurden. Doch Ribbeck war auch nur ein Mängelverwalter. Talente waren Mangelware und bedurften noch der Führung – wie ein Sebastian Deisler oder Michael Ballack am Anfang ihrer Karriere. Der spielende Libero vor der Abwehr, der 1996 das Team zum Titel trieb, Matthias Sammer, war Invalide. Bayerns Anführer Stefan Effenberg weigerte sich beharrlich zurückzukehren und von der Sieger-Elf von Wembley standen in München nur noch vier Spieler (Babbel, Ziege, Bierhoff, Scholl) auf dem Platz. Ausländer mit deutschen Wurzeln wie der Brasilianer Paolo Rink oder der Türke Mustafa Dogan kamen zu Länderspielehren, schlossen die Lücken aber kaum.

Scharfe Beckenbauer-Kritik an deutscher Mannschaft



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Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück. Heute: die EM 2000 in Belgien und den Niederlanden.

Am 14. Juli 1995 kam es zu einem weiteren Novum in der EM-Historie. War das Teilnehmerfeld zur EM 1996 bereits verdoppelt worden, geschah dies an jenem Tag auch mit der Zahl der Gastgeber. Die UEFA vergab die Euro 2000 erstmals an zwei Länder, was angesichts der gestiegenen Herausforderungen nachvollziehbar war. Weder Belgien noch die Niederlande hätten alleine 16 Länderteams beherbergen und 31 Spiele in der Norm der entsprechenden Stadien austragen können. Gemeinsam aber ging es. Auch Österreich und die Schweiz gaben eine Doppelbewerbung ab, deren Zeit sollte bekanntlich noch kommen (EM 2008).

Ein Novum war auch die Teilnehmerzahl an der Qualifikation: 51 Länder wollten zur EM 2000, abzüglich der Gastgeber stritten 49 Teams um 14 Plätze. Der Fußballadel fand auch 2000 wieder den Weg zur kontinentalen Gala, aber so manch Großer musste unerwartet heftig zittern. Weltmeister Frankreich etwa, 1998 im eigenen Land im Finale 3:0-Bezwinger Brasiliens, quälte sich ein Jahr später an gleicher Stätte im Prinzenpark-Stadion zu einem 2:0 über Andorra und brauchte im Rückspiel gar einen Elfmeter in der 85. Minute.

Deutschland zittert sich zur EURO

Erst am letzten Spieltag sicherte die "Equipe tricolore" ihr EM-Ticket, während die Ukraine in die neu eingeführten Play-off-Spiele für die Gruppenzweiten musste. Dort landete auch die englische Mannschaft, die neun Punkte hinter Schweden einlief. Italien unterlag den Dänen 2:3 in Neapel, hatte aber letztlich einen Punkt mehr als der Champion von 1992.

Besonders heftig zitterte auch die deutsche Mannschaft, die nach internen Wirren nicht mehr zu alter Stärke fand. Der Titelverteidiger war nur noch ein Schatten seiner selbst, der deutsche Fußball durchlief eine Talsohle. Unter dem neuen Bundestrainer Erich Ribbeck, der den im September 1998 zurückgetretenen Berti Vogts ablöste, wurde gleich das erste Spiel verloren. Dem 0:1 in Bursa gegen die Türken lief die Auswahl während der ganzen Qualifikation hinterher. Vor dem Rückspiel im Oktober 1999 brauchten die Deutschen noch einen Punkt. Das Heimspiel in München geriet zum Auswärtsspiel, von 63.000 Tickets waren 43.000 an Türken gegangen. Glanzlos wie es in jener Epoche leider an der Tagesordnung war, löste die DFB-Elf dennoch ihr Ticket – mit einem 0:0. Die türkische Zeitung Hürriyet schrieb: "Wir haben den Fußball-Riesen ins Schwitzen gebracht. Eine Zitterpartie für den dreimaligen Welt- und Europameister. Wir verschenkten den Gruppensieg." Der Kicker bilanzierte: "Über den Krampf zum Ziel."

Im Land des Titelverteidigers überwog die Skepsis für eine Mannschaft, die noch immer mit Libero spielte und den Zug der Zeit verpasst zu haben schien. Symbolfigur deutscher Stagnation war der im Alter von 38 Jahren von Ribbeck reaktivierte Lothar Matthäus, der nicht mehr die Dynamik haben konnte, um seine Paraderolle im Mittelfeld zu spielen. So machte ihn Ribbeck zum "letzten Mann", während international schon überall Viererketten vor den Toren gespannt wurden. Doch Ribbeck war auch nur ein Mängelverwalter. Talente waren Mangelware und bedurften noch der Führung – wie ein Sebastian Deisler oder Michael Ballack am Anfang ihrer Karriere. Der spielende Libero vor der Abwehr, der 1996 das Team zum Titel trieb, Matthias Sammer, war Invalide. Bayerns Anführer Stefan Effenberg weigerte sich beharrlich zurückzukehren und von der Sieger-Elf von Wembley standen in München nur noch vier Spieler (Babbel, Ziege, Bierhoff, Scholl) auf dem Platz. Ausländer mit deutschen Wurzeln wie der Brasilianer Paolo Rink oder der Türke Mustafa Dogan kamen zu Länderspielehren, schlossen die Lücken aber kaum.

Scharfe Beckenbauer-Kritik an deutscher Mannschaft

Die Kette enttäuschender Spiele nach dem WM-Aus 1998 (0:3 im Viertelfinale gegen Kroatien) hatte das Selbstverständnis erschüttert. Franz Beckenbauer, der deutsche Fußball-Kaiser, sagte es im Doppelpass des DSF auf seine Art sicher etwas zu drastisch am Sonntagmorgen nach der Qualifikation, aber das Volk stimmte ihm doch zu: "Wenn ich die WM-Elf von 1990 um Mitternacht wecke, dann gewinnt sie barfuß gegen die heutige Nationalmannschaft."

Und doch hätten andere gern die Sorgen der Deutschen gehabt. Österreich beispielsweise, bei der WM in Frankreich noch dabei, erlitt einen schweren Rückfall. Nicht Liechtenstein, Andorra oder die Färöer erlitten die höchste Pleite der gesamten Qualifikation – nein, es waren die vom deutschen Boulevard schon länger als "Dösis" verspotteten Nachbarn. Am 28. März 1999 gingen sie in Spanien 0:9 unter und verpassten durch das dermaßen ramponierte Torverhältnis die Endrunde. Die erreichten auf direktem Wege Spanien, das mit 42 Toren am treffsichersten unter allen Qualifikanten war, Rumänien, Portugal, Jugoslawien und der EM-Vize von 1996, Tschechien. Erst über die Play-offs stießen Dänemark (5:0 und 3:0 gegen Israel), England (2:0/0:1 gegen Schottland), Slowenien (2:1/1:1 gegen Ukraine) und erneut die Türkei (1:1/0:0 gegen Irland) dank der Auswärtstorregel hinzu.

"Schöne Bescherung...schon wieder England"

Am 17. November 1999 war das Feld komplett und nach der Auslosung im Brüsseler Expo-Palast zwölf Tage vor Weihnachten konnten die Spiele beginnen. "Schöne Bescherung…schon wieder England", titelte der Kicker. Hollands Fußball-Legende Johan Cruyff hatte das Klassiker-Los, das kurz zuvor auch vor der WM-Qualifikation 2002 fiel, gezogen. Thomas Helmer, Verteidiger der Sieger-Elf von 1996, brachte den Pokal zurück und war deshalb im Saal anwesend. Sein Kommentar: "Ich weiß nicht, wer lauter aufgestöhnt hat, die Deutschen oder die Engländer." Von den anderen Gegnern – Rumänien und Portugal – war weniger die Rede. Was sich rächen sollte.

Die letzten Tage des 20. Jahrhunderts waren die ersten Tage des Internets und so ließ der Kicker seine Leser nun "online" abstimmen, ob die DFB-Elf den Titel verteidigen würde. 1835 User nahmen teil, 74,3 Prozent antworteten mit Nein. Die Prognosen verschlechterten sich im Frühjahr 2000 beinahe täglich. Nach erschütternden Länderspielen in Amsterdam (1:2 gegen Niederlande) und Kaiserslautern (1:1 gegen die Schweiz) war das Ansehen der Nationalelf am Tiefpunkt. Englands Daily Telegraph spottete über "die schlechteste deutsche Mannschaft seit Menschengedenken" und selbst Nationalspieler Jens Jeremies bezeichnete ihren Zustand als "jämmerlich". Er führte im Kicker aus: "Es passt nichts zusammen, jeder spielt für sich." Die Krise erreichte im Mai ihren Höhepunkt. Vier Wochen vor dem Turnier ging Ribbecks Assistent Uli Stielike in einem Kicker-Interview auf Distanz zu seinem Vorgesetzten und der Nationalmannschaft. Kostprobe: "Wir sind jeden Tag mit negativen Schlagzeilen in den Medien. Wegen unserer Leistungen sind wir daran zum großen Teil aber auch selbst schuld!" Und dass DFB-Präsident Egidius Braun seinen Namen im Fernsehen "dreimal in einem Atemzug mit der A-Mannschaft nannte", habe er "gar nicht gerne gesehen".

Uli Stielike nach Kritik entlassen

Der DFB entließ daraufhin den Europameister von 1980 am 7. Mai 2000 aus seiner Mitverantwortung und beförderte einen anderen an seine Stelle: Horst Hrubesch, Trainer der damals eingeführten A2-Elf. Und noch ein Sieger-Typ verstärkte die Reisegruppe, die über ein Vorbereitungslager in Mallorca Anfang Juni in Vaalsbrook/Niederlande eintraf. Aus der Galerie der Weltmeister rekrutierte Ribbeck seinen letzten Trumpf: Er holte Thomas Häßler, damals 34 und bei 1860 München noch immer das Schwungrad, zurück. Mit dem mittlerweile in New York spielenden Matthäus, nun 39, war ein zweiter Sieger von Rom an Bord.

Euphorie schürte das auch nicht. Bezeichnend die Aktion eines Pfarrers aus Sylt: Er beschloss, vor jedem Spiel unter dem Motto "Erichs Buben in Gottes Stuben" eine Andacht abzuhalten. Bei Deutschland, damit schien der Pfarrer nicht alleine zu sein, schien im Sommer 2000 nur noch Beten zu helfen. Was das Turnier an sich anging, waren die Experten zuversichtlicher: "Diese Europameisterschaft wird großartig", sagte etwa Günter Netzer. Er sollte Recht bekommen.

Schon das Eröffnungsspiel am 10. Juni in Brüssel erhielt viel Beifall. Belgien bezwang Schweden 2:1 und die belgische Zeitung Les Sports schrieb: "Es ist selten, dass Eröffnungsspiele von großen Turnieren ihre Versprechungen halten. Dieser Eröffnungskampf hat uns begeistert." Auch wenn Schalkes Emile Mpenza vor dem 2:0 für Belgien die Hand zur Hilfe nahm und Markus Merk Schwedens Bayern-Profi Patrik Anderssson vom Feld stellen musste.

Den Drei-Tore-Schnitt festigte auch das zweite Spiel der Gruppe B – Italien schlug die Türkei 2:1 und festigte seinen Ruf als, positiv formuliert, clevere Mannschaft. Der Flug von Filippo Inzaghi in den türkischen Strafraum wurde gemeinhin ins Tierreich verortet, Inzaghi selbst verwandelte den Elfmeter. Die Heimat war dennoch zufrieden. "Italien, so gefällst Du uns", titelte die Gazetta dello Sport. Schon nach dem zweiten Spiel stand Italien gar als Viertelfinalist fest, gegen Gastgeber Belgien gab es einen überzeigenden 2:0-Erfolg für die von Torwart-Legende Dino Zoff trainierte "Squadra Azzurra". Die Belgier waren ernüchtert und doch stolz. Schalke-Profi Marc Wilmots behauptete: "Es gibt nicht viele Mannschaften, die Italien so an die Wand spielen können." Aber auf die Tore von Totti und Fiore hatte Belgien keine Antwort.

Die Türken und die Schweden trübten die Fußball-Party als erste, aber nach dem trostlosen 0:0 hatten beide noch Chancen aufs Weiterkommen. "Es geht vorwärts, aber im Tempo einer Schildkröte", freute sich die türkische Presse eher gedämpft über den ersten türkischen EM-Punkt überhaupt. Nach dem dritten Spieltag am 19. Juni hatten die Türken dann mehr zu feiern. Ihr Superstar Hakan Sükür schoss sie mit seinem Doppelschlag ins Viertelfinale und Mit-Gastgeber Belgien aus dem Turnier.

"Ultimativer Kater" für Belgien nach Gruppen-Aus

Die in Brüssel erscheinende Het Laatste Nieuws verkündete nach dem 0:2 den "ultimativen Kater". Sündenbock war Torwart Filip de Wilde, der vor Sükürs Kopfball zum 0:1 ins Leere faustete. "Wenn später jemand an diese EM denkt, denkt er nur an dieses Tor", jammerte de Wilde, der zu allem Übel auch noch vom Platz flog. Die Türken setzten sich nach dem Triumph größere Ziele. Sükür: "Jetzt wollen wir ins Halbfinale und dann ins Finale." Das trauten die Experten eher noch den Italienern zu, die auch ihr drittes Spiel gewannen. Zwei Minuten vor Schluss traf der bisherige Joker Alessandro del Piero Schweden mitten ins Herz (Endstand 2:1). 20 Monate mussten die "Tifosi" darauf warten, del Piero sagte beinahe schuldbewusst: "Dieses Tor hätte ich schon eher schießen sollen." Mit umgerechnet zwölf Millionen D-Mark Netto-Gehalt war der Juve-Stürmer anno 2000 der bestbezahlte Fußballer der Welt. In Eindhoven bewarb er sich darum, wieder zu den besten elf Italienern zu gehören. Schweden packte die Koffer, ohne Selbstvorwürfe. Patrick Andersson: "Wir haben alles versucht und sind zuletzt auf dem Zahnfleisch gekrochen. Es hat eben nicht gereicht."

Für die deutsche Mannschaft, Kopf der Gruppe A und doch kein Favorit, ließ sich nur ein Teil dieser Aussage übertragen. Sie gab nicht alles – und deshalb reichte es nicht. Schon nach dem einzigen Spiel, das sie nicht verlor, hagelte es Kritik. Bereits in der fünften Minute schlug es bei Oliver Kahn ein, sein Münchner Teamkollege Mehmet Scholl egalisierte Moldovans 0:1 mit einem sehenswerten Linksschuss (26.). Es sollte das einzige Tor bei diesem Turnier bleiben. Den einzigen Punkt retteten die DFB-Mannen mit einigem Glück über die Zeit, den Rumänen wurde ein klarer Elfmeter nach einem Nowotny-Foul verweigert. Scholl forderte nach Abpfiff eine Krisensitzung: "Über dieses Spiel muss geredet werden. Wenn wir gegen England und Portugal diese krassen Fehler nicht abstellen, dann sehe ich schwarz."

Portugal träumt vom Titel

Ribbeck erkannte, die Abwehr wackelte gewaltig: "Die Chancen des Gegners haben wir selber eingeleitet." Die alten Weltmeister konnten das Ruder nicht herum reißen. Matthäus und Häßler mussten ausgewechselt werden, sehr zur Freude der englischen Presse. "Der schlimme alte Feind. Deutschlands Mittdreißiger sahen aus, als wären sie in der Midlifecrisis", spottete The Sun, ehe sie sich der eigenen Mannschaft zuwenden musste. Am Abend unterlag das Team von HSV-Legende Kevin Keegan trotz früher 2:0-Führung gegen Portugal 2:3. David Beckham verabschiedete sich von den pöbelnden Fans mit Stinkefinger. Die Portugiesen, als "Brasilianer Europas" schon vor der EM gefeiert, bekamen zum Lohn einen trainingsfreien Tag. Superstar Luis Figo schwelgte: "Ein Team, das England so geschlagen hat wie wir, darf vom Titel träumen."

Erst recht, als sie im zweiten Spiel durch ein Tor in der Nachspielzeit Rumänien 1:0 besiegten und schon das Viertelfinale erreichten. Der Klassiker zwischen Deutschland und England bekam somit zusätzliche Brisanz. Eigentlich waren die beiden ersten Plätze doch für sie reserviert – nun musste einer ausscheiden. England durfte nicht verlieren, Deutschland besser auch nicht. Zumal der direkte Vergleich bei Punktgleichheit zählte. Die Bild-Zeitung druckte am 17. Juni drei Kleeblätter pro Ausgabe in den Nationalfarben, zum Ausschneiden und an den Fernseher kleben. Motto: "Ihr müsst kämpfen, wir sorgen für das Glück." Ein rührender und doch untauglicher Versuch.

Das Städtchen Charleroi sah schon vor der Partie eine Schlacht – die schlimmste des Turniers. Beinahe erwartungsgemäß randalierten englische Hooligans in der Innenstadt. Auch in Brüssel hatten sie zuvor ihr Unwesen getrieben, Passanten belästigt und Gaststätten demoliert. Die Polizeibilanz: 850 Festnahmen in Brüssel und in Charleroi, 56 Verletzte – und 3000 Beamte im Einsatz. Eine lange Kolonne von Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen erweckte am Spieltag in Charleroi Gedanken an kriegsähnliche Zustände.

0:1-Niederlage gegen England

Die Sorgen der deutschen Mannschaft waren da viel banaler. Kapitän Oliver Kahn, nach Oliver Bierhoffs Ausfall (Muskelfaserriss im Training) befördert, sah sich gezwungen, einige Kollegen zu maßregeln, die sich über fehlende Badewannen im Quartier beklagt hatten. Kahn: "Unwichtig, es geht nur um das Spiel."

Das gestaltete die Ribbeck-Elf, auf vier Positionen verändert, erfreulich offen. Wie bei der EM 1984 gegen Spanien führte nun ausgerechnet das beste Spiel zu einer 0:1-Niederlage – damals war es das definitive Aus, 2000 das gefühlte. Alan Shearer köpfte nach einem Fehler von Markus Babbel, der schlicht nicht bei ihm war, das goldene Tor (53.). Die verbesserte DFB-Elf, in der Sebastian Deisler seine Chance als Häßler-Vertreter nutzte und sechs aktuelle und drei ehemalige Spieler von Meister Bayern München standen, konnte ihre Chancen nicht nutzen. Die Größte vergab Carsten Jancker aus acht Metern nach einem Abpraller, als Torwart David Seaman schon am Boden lag. Nun kam also auch noch Pech dazu. Ribbeck klagte: "Das war eine unverdiente Niederlage, die weh tut. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind wir jetzt draußen." Für diesen Fall hatte Ribbeck seinen Rücktritt angekündigt, ohnehin endete sein Vertrag am 31. Juli 2000. In den Medien hatte die Nachfolge-Diskussion schon längst begonnen, nun entbrannte sie voll.

Am Tag vor dem Spiel der letzten Hoffnung gegen die Portugiesen sah man plötzlich Leverkusens Trainer Christoph Daum ins DFB-Quartier spazieren, er hatte ein Gespräch mit Vize-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder. Das Thema konnte man sich denken, schnell sickerte ein "Geheimplan" durch: "Er soll ein Jahr lang Leverkusen und die Nationalmannschaft trainieren", enthüllte die BZ. Für Franz Beckenbauer, wie er in seiner BZ-Kolumne schrieb, war Daum "der Richtige". Er sollte frischen Wind in diese Mannschaft bringen, in der noch zu viel Gestern lebte. "Wenn Lothar Libero spielen muss wie Worldcup Willi Schulz anno 1966, sehen wir uralt aus", analysierte Paul Breitner in der Bild am Sonntag. Für ihn war der deutsche EM-Traum schon vorbei: "Vergessen Sie die Möglichkeit, dass die Engländer gegen die Rumänen verlieren und Deutschland am Dienstag gegen Portugal gewinnt. Die Engländer werden die Rumänen niederwalzen."

Nun, in dem Punkt sollte Breitner irren. Dabei war die Lage vor dem 20. Juni noch verzwickter. Wegen der Ausschreitungen drohte die UEFA den Engländern unverhohlen mit Ausschluss. Generalsekretär Gerhard Aigner: "Wir überlegen, ob die englische Mannschaft noch dabei sein kann, wenn es Wiederholungen der Szenen wie in Charleroi und Brüssel gibt." An die englische Regierung erging ein offizieller Aufruf, "alle englischen Hooligans an der Ausreise zu hindern". So ergab sich noch eine zusätzliche Chance für die Deutschen, im Turnier zu bleiben. Doch dazu hätten sie zumindest den dritten Platz erreichen müssen.

Deutscher "Rumpelfußball" wird von Portugal zerlegt

Als am 20. Juni gegen 22.30 Uhr Bilanz gezogen wurde, war selbst dieses Ziel verfehlt worden. Im Stadion De Kuip zu Rotterdam wurde der deutsche "Rumpelfußball" (Zitat Beckenbauer) endgültig beerdigt. Gegen eine portugiesische B-Elf (mit neun Reservisten) unterlag Deutschland 0:3. Auch die DFB-Auswahl war nicht komplett: Ziege, Babbel und Jeremies hatten sich kurzfristig abgemeldet, aber unverzichtbar war ohnehin keiner in diesem Kader - außer vielleicht Oliver Kahn. Bei den Portugiesen machte der Reservist von Lazio Rom, Sergio Conceicao, auf sich aufmerksam. Er erzielte alle drei Tore und vollendete das schlechteste deutsche Abschneiden bei einem Turnier. 1:5 Tore und ein Punkt, vierter Platz, Aus.

"Unsere Kinder haben keine Vorbilder mehr", klagte die BZ, die Bild titelte: "Ihr seid eine Schande und die Fußball-Deppen der Nation." Innenminster Otto Schily saß auf der Tribüne und kleidete das Entsetzen einer ganzen Nation in Politikerworte: "Leider gibt es noch kein Gesetz, das solche Spiele verbietet." Erich Ribbeck trat am nächsten Morgen zurück, stilvoll und ohne Anschuldigungen: "Das ist zum einen die Konsequenz aus dem kastastrophalen Abschneiden der Mannschaft, für das ich die volle Verantwortung übernehme. Ich habe es nicht geschafft, aus den besten deutschen Fußballern eine richtige Mischung zu finden."

Diese Aufgabe sollte nun eigentlich Christoph Daum zufallen, aber es kam bekanntlich ganz anders. Wie so vieles im Fußball. Auch die Engländer mussten die Koffer packen – aus sportlichen Gründen. Eine in letzter Minute durch Elfmeter besiegelte 2:3-Pleite gegen Rumänien bedeutete das Aus. Kevin Keegan aber durfte bleiben. Gruppe B stellte die Ordnung der Fußballwelt auf den Kopf: Portugal und Rumänien zogen ins Viertelfinale ein. Aus Gruppe C schafften es mit Spanien und Jugoslawien dagegen die Favoriten. Aber wie. Jugoslawien wurde im ersten Spiel von der einstigen Teilrepublik Slowenien schier überrannt, nach 57 Minuten hieß es 0:3 – nach 90 dann 3:3. Spanien verlor zum Auftakt gegen Norwegen 0:1, aber Trainer Jose Camacho nicht seinen Gleichmut: "Fußball ist Fußball – ein Spiel, das man gewinnen oder verlieren kann." Kollege Nils Johann Semb dagegen verlor seine Linie und hob die Sperrstunde auf. Seine Sieger durften eine Nacht durchfeiern – und gewannen nichts mehr. Gegen Jugoslawien unterlagen sie 0:1, nun wurde dessen Trainer Vujadin Boskov übermütig. Er empfahl seinen Kritikern sich stärkere Brillen "mit höherer Dioptrinzahl" zuzulegen. Auch dann hätten einige vielleicht den Blitzauftritt von Matej Kezman übersehen, der in Lüttich einen EM-Rekord aufstellte: 37 Sekunden nach seiner Einwechslung flog er nach einem Foul vom Platz.

Spaniens Camacho: "Das Wichtigste ist, zu gewinnen"

Spanien kam im zweiten Anlauf zu seinem ersten Sieg, Raul und Etxeberria schossen die Tore beim mühsamen 2:1 über Slowenien. "Der Sieg hat uns am Leben gehalten, aber so zu siegen, nimmt uns die Hoffnung", philosophierte das Sportblatt Marca. Camacho blieb bei seinen Weisheiten: "Das Wichtigste ist zu gewinnen, und wir haben gewonnen. Wenn man gut spielt und verliert, zählt es nichts."

Am 21. Juni war auch der Ex-Profi von Real Madrid mit seinen Weisheiten am Ende und genoss schlicht die Faszination Fußball. "Ich habe schon viele schöne und aufregende Momente erlebt. Aber was hier geschehen ist, kann ich noch nicht realisieren." Gegen Jugoslawien lag Spanien nach 90 Minuten 2:3 zurück, dann pfiff der Schiedsrichter Elfmeter. Mendieta glich aus, aber es hätte nicht gereicht. Norwegen hatte seinen Punkt gegen Slowenien (0:0). Aber es gab fünf Minuten Nachspielzeit und als davon noch zwölf Sekunden übrig waren, traf Alfonso von der Strafraumgrenze. Am Ende waren beide Teams weiter, Norwegen schied wegen eines Tores aus.

"Die norwegischen Spieler bekamen die gerechte Strafe nach einer Demonstration von Anti-Fußball. Ein mieser Abschied", urteilte Aftenposten aus Oslo gnadenlos. Um wie viel entspannter verlief da doch die Gruppe D. Die Topfavoriten Gastgeber Niederlande und Weltmeister Frankreich gewannen ihre ersten beiden Spiele und waren vor dem Gipfeltreffen schon durch. Die von Frank Rijkaard trainierte Elf von "Oranje" hatte in der langen Zeit der Vorbereitung, man war ja automatisch qualifiziert, von 15 Tests nur zwei gewonnen. Aber als es darauf ankam, waren sie da. Gegen Tschechien (1:0) hatten sie in der hochmodernen Amsterdam-Arena, der ersten mit Schiebedach, noch einiges Glück. Erst ein umstrittener Elfmeter in vorletzter Minute brachte die Punkte. Frank de Boer traf und Johan Cruyff empfahl dem Verband: "Schickt dem Schiedsrichter einen Blumenstrauß. So einen Elfmeter gibt man nicht." Die frustrierten Tschechen, zweimal hatten sie den Pfosten getroffen, erhielten noch einen Platzverweis für den Schalker Latal. Er fehlte nun gegen Frankreich, das gleich zum Auftakt (3:0 gegen Dänemark) glänzte. "Diese Weltmeister wollen einen weiteren Titel als Bestätigung. Das haben sie mit ihrer Moral bewiesen", lobte ihr Trainer Roger Lemerre. Er schloss mit der Erkenntnis: "Als Weltmeister hat man den außergewöhnlichen Willen, gut zu sein." Es war auch die EM der Trainer-Philosophen.

Phantastischer Fußball im Gipfeltreffen zwischen Frankreich und Niederlande

Auch gegen die wackeren Tschechen waren die Franzosen gut genug (2:1), Thierry Henry und Kaiserslauterns Youri Djorkaeff schossen die Tore ins Viertelfinale. Trainer Roger Lemerres Freude war verflogen, als er in der Nacht vom Tod seines Vaters erfuhr. Mit dem Auto machte er sich auf die Heimreise, kehrte aber wieder zurück. Denn das Leben ging weiter und für Frankreich diese EM. Die Tschechen gingen mit Applaus, Weltstar Pavel Nedved vergab eine hundertprozentige Chance. "Aus zehn solcher Chancen mache ich neun Tore, leider war heute die zehnte."

Weit chancenloser waren die Dänen gegen die Niederländer (0:3), deren Tormaschine nach der Pause ins Rollen kam. Voraus ging eine auch für Außenstehende hörbare Standpauke von Rijkaard in der Halbzeit. "Danach sind wir regelrecht eingebrochen, wir hatten nicht mehr die Mittel, die Holländer in Gefahr zu bringen", sagte Dänen-Coach Bo Johansson. Am dritten Spieltag ging es nur noch um den Gruppensieg und den spielten die zweiten Garnituren Frankreichs und der Niederlande aus. Beim Reservistenball von Amsterdam gewann "Oranje" 3:2, obwohl "Les Bleus" zweimal führten. Rijkkard fühlte sich bestätigt: "Da waren einige Spieler auf dem Platz, die es ihrem Trainer zeigen wollten." Das Niveau dieser Partie war ein Versprechen auf das, was ab dem Viertelfinale noch kommen sollte – phantastischer Fußball.

Mehr als drei Tore pro Spiel

Schon die Vorrunde hatte nie erreichte 3,123 Tore pro Spiel gesehen. Im Viertelfinale steigerte sich das auf 3,5, weil bei fast allen Teams die Spielfreude dominierte. Gerade in K.o.-Spielen ein eher seltenes Phänomen, aber bei der EURO 2000 häufig anzutreffen. Die Auftaktpartie war da noch die Ausnahme. Doch auch hier gewann die mutigere und bessere Mannschaft: Portugal schickte die Türken heim (2:0), die unmittelbar nach dem Rückstand einen Elfmeter verschossen – was dieses Turnier auch auszeichnen sollte. So viele Tore auch fielen, am Elfmeterpunkt versagten vielen Schützen die Nerven. Hier war es der Türke Arif, der an Vitor Baia scheiterte. Alleiniger Sündenbock war er nicht, denn es gab ja noch Alpay Özan. War er 1996 noch dafür gescholten worden, keine Notbremse gezogen zu haben, was seinem Team ein Gegentor, ihm aber den Fairplay-Preis eingebracht hatte, war nun das Gegenteil der Fall.

Wegen seiner Tätlichkeit an Gomes spielten die Türken 70 Minuten in Unterzahl. "Oh weh, Arif! Alpay, was hast Du gemacht? Zwei Amateure haben unseren Rückflug gebucht", zeterte die türkische Presse. Portugal avancierte dagegen zum echten Turnierfavoriten, sehr zur Freude der Reporter von Diario de Noticias (Lissabon): "Ruhm für Portugal! Eine Tonnenladung von Talenten erreicht das Halbfinale, was ihr vor vier Jahren versagt blieb." Nuno Gomes ist mit seinen beiden Toren der Held des Tages, aber auch Spielmacher Luis Figo wird verherrlicht – eine Zeitung findet seine Leistung "figomenial".

Hagi als Rumäniens Buhmann

Rumäniens Superstar Gheorghe Hagi dagegen banden sie keine Lorbeerkränze am Abend des 24. Juni in Brüssel. Der Exzentriker leistete sich beim Stand von 0:2 gegen Italien zuerst ein Brutalo-Foul (Gelb) an Conte, der heimreisen musste, dann eine Schwalbe (Gelb-Rot) und beraubte sein Team aller Chancen. Francesco Totti und Filippo Inzaghi hatten schon vor der Pause mit ihren Toren die Weichen gestellt. Zoffs Italien beeindruckte: vier Spiele, vier Siege und kein 1:0. Das Ende des Minimalismus führte zu schierer Euphorie im Stiefelstaat: „Das Halbfinale ist das Reich der Großen. Italien ist im Paradies“ (Gazetta dello Sport). Verbandspräsident Luciano Nicolai bot Dino Zoff spontan einen neuen Vertrag bis 2002 an, aber „der Schweiger aus Friaul“ mahnte: „Zum Jubel ist es zu früh. Die schweren Gegner kommen noch.“

Das sollte sich am nächsten Tag zeigen, als man das Gefühl bekam die Finalisten gesehen zu haben. Die Niederländer nahmen überforderte Jugoslawen regelrecht auseinander (6:1). Patrick Kluivert erzielte drei Tore, Marc Overmars zwei, ein Eigentor kam hinzu – und die Jugoslawen durften erst in der Schlussminute jubeln, als Milosevic der Ehrentreffer gelang. „Erniedrigung ohne Ende. Es war das schlechteste Spiel der Jugoslawen seit 20 Jahren“, schrieb die Belgrader Zeitung Danas. Die Holländer dagegen überzeugten sogar Chefkritiker Johan Cruyff, der 1974 noch in der vermeintlich besten Oranje-Elf im WM-Finale gestanden hatte. „Das war fantastischer Fußball. Wir wollen vergessen, was ich letzte Woche gesagt habe.“

Raul patzt vom Punkt

Bliebe noch die Neuauflage des EM-Finales von 1984 zwischen Frankreich und Spanien, das sich seinen dramatischen Höhepunkt bis zur letzten Sekunde aufsparte. Die Franzosen führten dank Treffern von Zinedine Zidane (33.) und Youri Djorkaeff (44.) bei einem Gegentor Mendietas (38., Elfmeter) mit 2:1, als Spanien einen zweiten Elfmeter bekam.

Spezialist Mendieta war bereits ausgewechselt worden und es mangelte an Freiwilligen. Dann schnappte sich Raul Gonzales Blanco von Real Madrid den Ball. Der maximale Stressmoment in einer Fußballerkarriere – an seinem Schuss hängt das Weiterkommen seines Landes. Raul war dem Druck nicht gewachsen und schoss über das Tor von Fabien Barthez. „Es tut mir leid vor allem für unsere Fan und Kameraden. Aber ich war mir sicher, dass ich treffe“, klagte der spätere Schalker und weinte in sein Trikot. Dass ihn El Mundo einen „ausgelaugten Millionär“ nannte, hatte er dann doch nicht verdient. Es sollten noch ganz andere Elfmeter verschießen bei dieser EM. Keineswegs allesamt satte Millionäre.

Zidanes später Elfmeter

In Brüssel freilich bewahrte der einzige Elfmeterschütze des Tages die Nerven. Frankreich und Portugal waren am 28. Juni mit 1:1 in die Verlängerung gegangen und als diese noch drei Minuten dauern sollte, gab es einen Elfmeter für den Weltmeister, der mehr für das Spiel getan hatte. Was natürlich kein Grund ist, Elfmeter zu geben. Aber Schiedsrichter Benkö blieb nach der Torwart-Parade des Verteidigers Abel Xavier (später Hannover 96) keine andere Wahl.

Die Portugiesen wussten, dass dies bei der Golden Goal-Regel das sofortige Aus bedeuten könnte und bestürmten Benkö uns seinen slowakischen Assistenten, der das Handspiel angezeigt hatte, heftigst. Zwar völlig zu Unrecht, aber aus nachvollziehbarem Grund. Xavier blieb auch in den Katakomben uneinsichtig: „Ich kann doch meine Hand nicht abhacken. Auch im Fußball brauchst Du deine Hände. Zum Verteidigen, zum Schutz.“ Man solle ihm ein .Regelbuch schenken, witzelten die Reporter. Er wurde neun Monate gesperrt, Gomes deren sechs.

Zinedine Zidane ließ sich nicht beirren und entschied die hochklassige Partie und ganz nebenher auch das inoffizielle Duell der großen Spielmacher. Luis Figo konnte an diesem Tag Zidane das Wasser nicht reichen. Die Portugiesen gingen als schlechte Verlierer nach einer guten EM-Performance in die Annalen ein. Nuno Gomes sah noch nach dem Abpfiff die Rote Karte, was nicht den Regeln entsprach. Doch Benkö wollte „damit nur ausdrücken, dass ich mich von niemandem tätlich angreifen lasse.“ Gomes hatte ihn vor die Brust geschlagen.

Toldo lässt Oranje verzweifeln

All das war nichts gegen die Aufregung am Folgetag, als in Amsterdam Niederländer und Italien aufeinandertrafen. Italien fand zu alten Mustern zurück, zerstörte lieber als anzugreifen, schoss in zwei Stunden nur vier Mal aufs Tor und war schon nach 34 Minuten dezimiert: Zambrotta sah Gelb-Rot. Fünf Minuten später begann das einmalige Elfmeter-Drama in der EM-Historie. Frank de Boer scheiterte an Francesco Toldo. 50.000 stöhnen entsetzt auf, als Patrick Kluivert nach 61 Minuten einen zweiten Elfmeter vergab – er traf den Pfosten.

Auch in der Verlängerung fielen keine Tore und nun mussten die Niederländer das tun, was sie an diesem Tag offensichtlich nicht konnten: Elfmeterschießen. Nun, es endete 1:4. Von insgesamt sechs Elfmetern verwandelte „Oranje“ nur einen. Frank de Boer scheiterte gleich zwei Mal an Teufelskerl Toldo, der auch einen Schuss von Peter Bosvelt hielt, während Jaap Stam in Uli Hoeneß-Manier kraftvoll übers Tor schoss.

Der 1,96 Meter-Riese Toldo stand ratlos vor dem Resultat seiner Magie: „Ich kann mir nicht erklären, wie ich sie so verunsichern konnte, dass sie gleich fünf Elfmeter vergeben konnten.“ Der Heimat war es egal. Tuttosport schrieb: „Ihr seid Helden! Dieser Kampf wird als Legende in die Geschichte des Fußballs eingehen. Jetzt steht nur noch Zinedine Zidane zwischen Italien und dem EM-Titel!“

Holland leckt seine Wunden

Was die Welt von Italiens Abkehr vom schönen Fußball hielt, störte sie nicht. Eine Brüsseler Zeitung schrieb von „einer bezaubernden Hässlichkeit, zynisch vollendet und grausam rein.“

Holland leckte derweil seine Wunden, Frank Rijkaard trat frustriert zurück. Gleichsam mit einem philosophischen Statement: „Wir sind in Holland als Kollektiv gut, wenn man hingegen einen Elfmeter schießt ist man ganz allein. Wir wachsen damit auf, dass unser Selbstvertrauen als Gruppe wächst und verfügen über weniger Individualisten. Vielleicht liegt es daran.“ Zum vierten Mal in den letzten fünf Turnieren waren die Niederlande auf diese Weise ausgeschieden – da wird Nachdenken über die Ursachen erlaubt sein.

Dem Finale blieb ein Elfmeterschießen erspart. Das hätte diese EM auch nicht verdient gehabt. Aber auch Frankreich und Italien machten es am 2. Juli 2000 in Rotterdam noch mal richtig spannend. Italien zeigte nach torloser erster Hälfte, von 9000 Tifosi angefeuert, plötzlich wieder sein mutiges Gesicht. Delvecchio gelang nach 55 Minuten mit einem Volleyschuss die verdiente Führung.

Italien fehlen 32 Sekunden

Roger Lemerre lief die Zeit davon und in seinen Bemühungen, den von Nesta organisierten Defensivwall zu knacken, setzte er letztlich vier Stürmer gleichzeitig ein. Zwei davon hatten das Zeug zu Retter und beide kamen sie von der Bank. Es lief bereits die Nachspielzeit, als Sylvain Wiltord Alessandro Nesta respektlos tunnelte und Toldo überwand. 32 Sekunden vor Schluss. Von diesem Schock erholte sich Italien nicht mehr.

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David Trezeguet, schon Vorbereiter des 1:1, wurde in der Verlängerung zum ganz großen Helden der Grande Nation. In der 103. Minute schoss er das Golden Goal, das erstmals einen Weltmeister auch zum Europameister machte.

Lemerre atmete durch: „Es war Schwerstarbeit. Aber wir haben gegen die beste Abwehr der Welt zwei Tore erzielt.“ Kollege Dino Zoff ernannte seine Elf zum moralischen Sieger, ehe auch er zu den Fußballweisheiten griff: „Aber wir haben verloren – und das zählt nun einmal.“

Fußball als Sieger des Turniers

Der Fußball aber hatte gewonnen. Ein großartiges Turnier fand einen würdigen Champion. 2,74 Tore pro Spiel bedeuteten EM-Rekord seit die Endrunde in Turnierform gespielt wird (ab 1980) und zum zweite Mal knackte die Besucherzahl die Millionenmarke (1.102.850). Deutsche Ohren mochten es vielleicht nicht so gerne hören, aber Widerspruch legte niemand ein als UEFA-Generalsekretär Gerhard Aigner Bilanz zog: „Das war die beste Euro aller Zeiten.“ Südeuropa dominierte und damit das was diese Breiten ausmacht: Temperament, Phantasie. Kreativität, Feuer. Ins All-Star-Team schafften es fünf Franzosen, drei Italiener, zwei Portugiesen und zwei Spanier. Von Deutschen war 2000 nicht die Rede.

Fernsehjournalist Marcel Reif prophezeite in einer BZ-Kolumne: „In fünf, eher in zehn Jahren, kann Deutschland international wieder Anschluss finden.“ sein mit dem was wir hier erreicht haben.“ Ähnlich äußerte sich Ex-Bundestrainer Berti Vogts, Paul Breitner und wer sonst alles gefragt wurde. 2002 stand Deutschland bereits wieder im WM-Finale, mit sieben Spielern die 2000 so enttäuscht hatten.