Geschichte der EM: Vorrundenaus in letzter Minute

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil fünf thematisiert die EM 1984, als Deutschland in der Vorrunde gegen Spanien ausscheidet - Antonio Maceda lässt die deutschen EM-Träume mit seinem Kopfballtor in der 90. Minute platzen.

Favoritensterben in der Qualifikation

Mit der EM in Italien war die UEFA nicht zufrieden gewesen und wieder entbrannten Diskussionen über die Zukunft dieser Veranstaltung. Der DFB nahm dabei wesentlichen Einfluss, denn der Vorschlag seines Präsidenten Hermann Neuberger, wieder Halbfinals einzuführen, wurde vom Exekutiv-Komitee angenommen. Ansonsten blieb es beim Modus mit acht Mannschaften und zwei Vierergruppen. Nur dass nun die beiden Ersten jeder Gruppe weiterkamen.

Am 10. Dezember 1981 vergab die UEFA das Turnier an Frankreich, sehr zum Leidwesen von Mitbewerber Deutschland, der noch vier Jahre würde warten müssen. Den Ausschlag für Frankreich gab kurioserweise der marode Zustand der Stadien. Staatliche Zuschüsse waren im Vorfeld einer EM, die viel Geld ins Land bringen sollte, eher zu erwarten. So wurde die EM 1984 eine Art Sanierungsobjekt. Wer in den sieben Stadien würde auflaufen können, entschied sich in sieben Qualifikationsgruppen.

Das Resultat erschütterte die Machtverhältnisse des europäischen Fußballs. Waren in Italien noch alle Großen dabei gewesen, musste man sie 1984 mit der Lupe suchen. Weltmeister Italien gewann nur ein (!) Spiel, ließ selbst auf Zypern Federn (1:1) und wurde in seiner Gruppe nur Vierter. Der WM-Dritte Polen machte es kaum besser, auch die in Spanien starke Sowjetunion blieb auf der Strecke. Die Niederländer, die schon die WM verpasst hatten, scheiterten diesmal hauchdünn am Torverhältnis. In der Differenz gleich mit Spanien, gaben die mehr erzielten Tore den Ausschlag für die Iberer, die im letzten Spiel genau wussten, wie hoch sie gewinnen mussten.

Das 12:1 gegen Malta kam nicht nur den Niederländern Spanisch vor, die UEFA leitete eine ergebnislose Untersuchung ein. Und Altmeister England übte sich erneut in der Rolle des Zuschauers. Ein Punkt fehlte in seiner Gruppe zum Sensations-Sieger Dänemark, der erst einmal (1964) zu einer Endrunde gefahren war. Unter dem deutschen Trainer Sepp Piontek stürmten sie im September 1983 die Feste Wembley und gewannen durch einen Elfmeter des Ex-Gladbachers Allan Simonsen. 82.500 Zuschauer wurden Zeugen der Geburt einer Mannschaft, die ein Jahrzehnt lang Fußball-Geschichte schreiben würde.

Zitterpartie gegen Albanien

Die Deutschen schrieben in den Jahren 1982 und 1983 auch Geschichte, doch es waren düstere Kapitel. Der Titelverteidiger, zwischenzeitlich auch Vize-Weltmeister, durchlebte in der Endphase der Ära Jupp Derwall eine schwere Krise. Hatte es in allen Qualifikationsspielen des DFB in seiner Historie bis dahin nur eine einzige Niederlage (1967 in Jugoslawien) gegeben, kamen in dieser Ausscheidung gleich zwei hinzu. Beide gegen Fußballzwerg Nordirland, beide mit 0:1. Und so war die DFB-Auswahl am Totensonntag 1983 gezwungen, ihr letztes Heimspiel gegen Albanien zu gewinnen. Obwohl die Stimmung nach der Heimpleite gegen die Nordiren in Hamburg denkbar schlecht war, gab es keine Ausreden gegen das sieglose Schlusslicht.

Doch zum Entsetzen der 40.000 Zuschauer im vollbesetzten Saarbrücker Ludwigspark gingen die Skipetaren in der 23. Minute in Führung. Ein abgefälschter Freistoß von Kapitän Karl-Heinz Rummenigge brachte zwar im Gegenzug den Ausgleich, aber auch keine Sicherheit ins deutsche Spiel. Sollte man wie 1967 an Albanien scheitern? Unmittelbar vor der Pause flog Albaniens Torschütze Tomori vom Platz, aber auch dieser Vorteil machte sich kaum bemerkbar. Es wurde bereits dunkel an diesem trüben November-Nachmittag, da segelte noch einmal eine Flanke von Bernd Förster in den Strafrum der Albaner. Gerd Strack, der aufgerückte Libero vom 1. FC Köln, stieg am höchsten und köpfte den Ball zum 2:1 ein.

Zehn Minuten vor Schluss erst wurde das Ticket für Frankreich gelöst. Was sie dort sollte, fragten sich jedoch viele Anhänger. Auch der Kicker mahnte: "Die deutsche Nationalmannschaft kann nun in Frankreich ihren Titel verteidigen. Will sie das auch tun, muss sie bis dahin ihre Form um 100 Prozent steigern." Das Kardinalproblem jener Tage war das spielerische Defizit. Gab es 1980 und 1982 eher noch zuviel Spielmacher – Paul Breitner, Felix Magath, Bernd Schuster und Hansi Müller – stand nun keiner mehr zur Verfügung. Breitner war 1982 zurückgetreten, die anderen litten an Verletzungen oder waren wie Italien-Legionär Müller schlicht außer Form.

Suche nach der perfekten Elf

Müller wäre mit seiner Einstellung ("Das ist eine einzige Quälerei") auch nicht der Richtige gewesen. Rummenigge beschied ihm öffentlich: "Auf einen, der in der Nationalelf nur spielen will, wenn es läuft, können wir verzichten." Und so mussten unerfahrene Männer wie der Bremer Norbert Meier und Gladbachs Lothar Matthäus versuchen, das Spiel anzutreiben. Zur Seite standen ihnen Wasserträger-Typen wie Wolfgang Rolff (HSV), Johnny Otten (Bremen) und Guido Buchwald vom kommenden Meister VfB Stuttgart. Nie versprühte ein deutsches Mittelfeld weniger Glanz als in jenen Tagen, als die Deutschen gegen Atomkraftwerke und das Waldsterben und für den Weltfrieden demonstrierten.

Das Stichwort vom "heißen Herbst" steht für jene bewegten Tage, in dem sich nur der deutsche Fußball nicht bewegte. Er schien seine kontinentale Vormachtstellung einzubüßen und von allen überholt zu werden. Als signifikantes Alarmzeichen galt, dass 1983 erstmals überhaupt alle Bundesligisten im Europapokal nicht über den Winter kamen. Der Kicker schrieb: "Die Schwächen der Bundesliga sind nun einmal auch die Schwächen der Nationalmannschaft." Jupp Derwall war nicht zu beneiden.

Als es auch nach dem Sieg im Testspiel gegen die Sowjetunion im März 1984 heftige Kritik gab, bot er DFB-Präsident Hermann Neuberger seinen Rücktritt an. Das wurde erst nach der EM bekannt. Da sagte Derwall: "Auf mich wurde ein solcher Druck ausgeübt, die Mannschaft wurde mit einem solchen Ballast konfrontiert, dass unter dem Strich kaum noch etwas Positives herauskommen konnte. Für mich war es ein vergebliches Ankämpfen gegen das gesamte Umfeld, und deswegen wollte ich Konsequenzen ziehen." Kurz vor dem Turnier sagten verletzungsbedingt auch noch Bernd Schuster, damals in Barcelona, und Bayerns Wolfgang Dremmler ab.

Volles Haus bei allen Spielen

In dieser Stimmung also flog der Titelverteidiger nach Frankreich. Immerhin hätte es bei der Auslosung am 10. Januar 1984 schlimmer kommen können: Portugal, Rumänien und Spanien waren nicht mal Geheimfavoriten des Turniers. Bei den internationalen Wettbüros stand Gastgeber Frankreich ganz oben und dann kam – Deutschland. Der Mythos von der Turniermannschaft eilte dem Gepäck schon voraus, die Fachwelt wollte nicht glauben dass Deutschlands Fußball seine Kraft verloren hätte.

Immerhin war die DFB-Auswahl dank früherer Verdienste Gruppenkopf, also bei der Auslosung gesetzt worden. In der anderen Gruppe traf der Gastgeber auf Außenseiter Dänemark, Jugoslawien und Vize-Europameister Belgien, das sich in der Qualifikation unter anderem gegen die DDR durchsetzte, die wiederum erst mit dem Gewinnen begann (3:0 gegen Schweiz, 2:1 gegen Schottland) als es zu spät war.

Frankreich hatte sich hübsch gemacht, sechs von sieben Stadien waren renoviert worden. Nur der Pariser Prinzenpark war schön und groß genug für das EM-Turnier, das zur Freude der Veranstalter nur volle Stadien erleben sollte. Das Gros der 760.000 Tickets war schon vor der Eröffnungspartie am 12. Juni weg, endlich grassierte in Europa EM-Fieber.

Müder Auftakt mit Platini-Tor

Das erste Spiel trug dazu nicht allzu viel bei, doch das Ergebnis stimmte. Michel Platini schoss Frankreich in der 78. Minute mit einem abgefälschten Schuss zum Sieg gegen Dänemark. Schlimmer als die Niederlage traf die Dänen der Schienbeinbruch von Allan Simonsen nach einem Foul von Le Roux. Das Krachen hörte man bis auf die obersten Tribünenränge des Prinzen-Parks, nur der davon benommene Simonsen realisierte sein Schicksal noch nicht: "Nicht auswechseln, nicht auswechseln", rief er den Betreuern zu, ehe sie ihn vom Platz trugen.

Für ihn war die EM schon zu Ende, in Kopenhagen wurde er operiert. Kurz vor Schluss flog Manuel Amoros nach einem Kopfstoß gegen Jesper Olsen vom Platz. Er wurde für drei Spiele gesperrt. Nur ein Tor und schon zwei böse Fouls – war das ein böses Omen für das Turnier? Aufgrund der regelmäßig 1:0 endenden Europacup-Finals jener Jahre befürchteten Experten für die EM die Fortsetzung des "Schachbrettfußballs". Aber sie sollten sich irren, vor allem in Bezug auf die Gruppe 1.

Im Parallelspiel ging bereits der erste EM-Stern auf. Der 18-jährige Enzo Scifo vom RSC Anderlecht, dem in vier Jahren in der Jugend rund 300 Tore gelungen waren, führte Belgien zum 2:0 über ein schwaches Jugoslawien. Belgiens Erfolg überraschte: Wegen eines Bestechungsskandal waren nur drei EM-Helden von 1980 übrig geblieben, Guy Thys musste eine neue Mannschaft herbeizaubern. Scifo etwa, ein Mann mit sizilianischen Wurzeln, erhielt erst sechs Tage vor dem Turnier einen belgischen Pass. Ihn kannten nicht mal seine Mitspieler.

Dänemark überrascht die Konkurrenz

Drei Tage später jedoch gerieten die Belgier gegen Frankreich fürchterlich unter die Räder, in Nantes verloren sie 0:5. Platini erwischte einen Gala-Tag, erzielte drei Tore und plötzlich war Frankreich nicht nur wegen seiner Gastgeber-Rolle Favorit. "Wir sind stärker als bei der WM 82", drohte der Kapitän der Equipe tricolore bereits Großtaten an. "Ein Hauch von Brasilien lag in der Luft", schwärmte Ex-Nationalspieler Raymond Copa und fand viele Befürworter.

Kurios: Auch das zweite Spiel des Abends endete 5:0. Die Dänen überrannten die desolaten Jugoslawen, der heutige HSV-Sportdirektor Frank Arnesen schoss zwei Tore. 15.000 "Rooligans", wie sich die sympathischen Dänen-Fans selbstironisch nannten, feierten "Danish Dynamite". Trainer Piontek staunte: "Dass wir so stark sind, hatte ich nicht im Tram erwartet." Sein Rezept, das die Fußball-Welt damals nicht kannte: "Unsere Legionäre bieten eine Mischung aus allen europäischen Stilen, mannschaftliche Disziplin schließt individuelle Freiheit nicht aus."

Nur sechs seiner Spieler waren Profis in Dänemark, der Rest verteilte sich auf Europas Top-Ligen. Kollege Veselinovic wiederum dachte nicht, dass Jugoslawien so schwach sein würde und bereits ausgeschieden war. So ging er wegen plötzlicher Krankheit gar nicht mehr zur Pressekonferenz, sein Assistent Mladinic nutzte die Gelegenheit, mit seinem Chef abzurechen. Auch im Wissen darum, dass dieser ohnehin fliegen würde, attestierte er ihm, noch wie "nach dem Krieg zu trainieren, doch der ist schon fast 40 Jahre aus". Loyalität nach Balkan-Art...

Trotzdem rafften sich die Jugoslawen noch einmal zu einer besseren Leistung auf und schockten 48.000 Zuschauer in St. Etienne, denn zur Pause führten sie gegen Frankreich. Doch in der Stunde der Not war bei diesem Turnier Verlass auf den Kapitän: wieder schoss Platini drei Tore, diesmal war es sogar ein klassischer Hattrick binnen 18 Minuten. So führte ein Mittelfeldspieler die Torjägerliste der EM 1984 an, Stürmertore erzielte Frankreich in der Vorrunde nicht. Stojkovic verkürzte noch per Elfmeter, dann war der Gruppensieg der Franzosen unter Dach und Fach. Wieder beklagten sie Platzverweise an diesem Tag, aber sie zogen diesmal keine Sperren nach sich. Nur Gelächter.

Platzverweise für Maskottchen

Der rumänische Schiedsrichter Daina erwies sich nämlich als Gegner von Maskottchen und ließ drei gallische Hähne aus dem Innenraum vertreiben. Das Lachen erstarb schon bald nach dem tragischsten Vorkommnis des Turniers: Jugoslawiens Teamarzt erlitt auf der Bank einen Herzinfarkt und starb im Krankenhaus.

Nichts für Herzkranke war das Parallelspiel, in dem es zwischen Belgien und Dänemark um den zweiten Platz ging. Die Belgier führten schon 2:0, aber Dänemark gewann noch 3:2. Der Ex-Kölner Preben Elkjaer-Larsen schoss den von den "Rooligans" gefeierten Siegtreffer in der 84. Minute. Das Tor kostete einen Unbeteiligten Geld: Bayern-Manager Uli Hoeneß hatte mit Sören Lerby, damals Profi in München, um 500 D-Mark gewettet, dass Dänemark die Vorrunde nicht überstehen würde. Lerby hielt dagegen und kassierte.

Bezeichnend für das noch geringe Standing der Dänen ist auch diese Lerby-Anekdote nach dem Spiel. Da wollte ein österreichischer Reporter von "Herrn Qvist", das war der Torwart der Dänen, was das Geheimnis seiner Paraden sei. Lerby verulkte ihn: "Ich spiele immer so, ich behalte immer die Ruhe". Dann wurde der Reporter von Kollegen auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht und brach das Interview peinlich berührt ab. Die Welt musste sie eben erst noch kennenlernen, diese Dänen.

"Wir wissen halt nicht, wo wir stehen"

Das Problem hatten die Deutschen nicht. Sie kannten sich nur selbst nicht so recht. "Wir wissen halt nicht, wo wir stehen", sagte Libero Ulli Stielike vor dem Auftakt gegen Portugal. Auch die von Ausrüster Adidas zur Verfügung gestellten leichtesten Schuhe aller Zeiten (220 Gramm) konnten eine gewisse Leichtfüßigkeit nicht so einfach herbeizaubern. Im Gegenteil. Die Hitzeschlacht von Straßburg war ganz schwere Kost. Tore fielen nicht, Pfiffe und "Aufhören"-Rufe gab es umso mehr.

"Das Mittelfeld der Handwerker war überfordert", schrieb die Deutsche Presseagentur (dpa). Es hatte vor allem noch nie zusammengespielt. Die Defensiven Guido Buchwald, in seinem zweiten Länderspiel, Andreas Brehme, in seinem sechsten, und Wolfgang Rolff (elfter Einsatz) waren zudem noch ausgesprochen unerfahren. Weltklassestürmer Karl-Heinz Rummenigge in seiner neuen Rolle ebenfalls. "Wenn es nach mir geht, ist meine Mittelfeld-Karriere beendet", sagte der Kapitän frustriert. Jupp Derwall schob einiges auf die Umstände: "Wir haben die Nervosität, Unruhe und Verkrampftheit gezeigt wie sie im ersten Spiel üblich ist."

Das Turnier lief, die Mannschaft war noch nicht gefunden. Das war nichts Neues und schlechte Eröffnungsspiele hatten Tradition. Aber diesmal schwang die Angst im eigenen Lager mit. Derwall: "Wir müssen uns alle von der Vorstellung befreien, dass die Deutschen wie früher auf den Platz gehen und alles wegfegen können." Immerhin verbreiteten die kommenden Gegner weder Angst noch Schrecken. Rumänien und Spanien trennten sich in einem ähnlich ideenarmen Spiel 1:1, die DFB-Beobachter Berti Vogts und Gero Bisanz schickten ihre mit Schreibmaschine getippte Berichte stets mit Kurier ins deutsche Quartier "La Forrestiere" in Paris.

Völlers Doppelpack gegen Rumänien

Alarmierendes stand nicht darin, und so gab es berechtigte Hoffnung, das 500. Länderspiel der DFB-Historie, zumal am Nationalfeiertag 17. Juni, zu gewinnen. In Lens warteten die Rumänen und weil Rudi Völler einen großen Tag erwischte, ging der Wunsch in Erfüllung. Völler traf doppelt beim mehr erkämpften als erspielten 2:1. Mehr Probleme bereitete die Anreise. Obwohl von französischen Polizisten eskortiert, verpasste der Mannschaftsbus die Ausfahrt nach Lens. Busfahrer Walter Kohr fuhr auf eigene Faust 50 Kilometer über Landstraßen und verdiente sich ein Extra-Lob von Neubergers Ehefrau: "Herr Kohr, das haben Sie sehr gut gemacht!" Neuberger selbst half beim Auspacken der Koffer, es ging um jede Minute.

Eine halbe Stunde später als von der UEFA vorgeschrieben, aber noch rechtzeitig zum Anpfiff, waren die für ihre Pünktlichkeit gerühmten Deutschen im Stadion angekommen. Wo sie ihren ersten Sieg einfuhren und plötzlich Tabellenführer waren, da Spanier und Portugiesen sich 1:1 trennten. War nun die Mannschaft gefunden? Rummenigge spielte wieder neben Völler und Klaus Allofs im Sturm, Lothar Matthäus kam für Guido Buchwald, Norbert Meier für Wolfgang Rolff und mit ihnen mehr Kreativität ins Mittelfeld.

"Ich bin überrascht und erfreut über die Leistung von Lothar", sagte Derwall. Der Gelobte versprach, dass "wir ganz gewiss lockerer in das nächste Spiel gegen". Vorsichtiger Optimismus machte sich auch in den Medien breit, der Kicker titelte: "Deutliche Steigerung unserer Elf. Jetzt steht die Tür zum Halbfinale offen." Allzu viele Schlagzeilen erschienen übrigens nicht, denn ausgerechnet während der EM tobte in der Heimat ein Drucker-Streik um die 35 Stunden-Woche.

Deutschland spielt, Maceda trifft

Die deutsche Mannschaft trat in ihrem letzten Spiel, das es natürlich nicht sein sollte, alles andere als in Streik. Das ist die Tragik an den Ereignissen des 20. Juni. Im Prinzenpark zu Paris machte sie gegen Spanien ihr bestes EM-Spiel 1984, und wenn sie 3:0 gewonnen hätte, hätten sich die Spanier nicht beschweren können. Doch 3:0 stand es nur nach Aluminiumtreffern. Hans-Peter Briegel köpfte in den ersten 20 Minuten gleich zweimal an die Latte, in der 27. Minute traf Brehme den Pfosten.

Glück hatte sie freilich auch, als es kurz vor der Pause nach einem Stielike-Foul Elfmeter gab. Kurz bevor Carrasco anlief, flog eine Silvester-Rakete auf den Platz, und der Rauch waberte noch durch den Strafraum, als er anlief. Er schoss schwach, Toni Schumacher hielt und genoss seinen persönlichen Triumph. Wurde er doch in Frankreich wegen des Fouls an Battiston bei der WM 1982 bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen.

Nach der Pause boten sich Klaus Allofs gleich drei Chancen, Deutschland ins Halbfinale zu schießen. Erst als Portugals Führung gegen die Rumänen in der 78. Minute bekannt wurde, wagten sich die Spanier in die Offensive. Auch Libero Maceda ging mit nach vorne, und ihn hatte keiner auf der Rechnung, als nach exakt 89 Minuten und 22 Sekunden eine Flanke von Senor in den Strafraum segelte. Maceda köpfte unbedrängt ein – 1:0. 90 Sekunden später war Schluss und Deutschland erstmals überhaupt in einer Vorrunde ausgeschieden.

Ende der "Ära Derwall"

Das befürchtete Ergebnis war eingetreten, aber auf diese Weise war es nicht zu erwarten. Nun hingen die Köpfe tief. Rummenigge sprach von "einer Schmach für den deutschen Fußball", und dpa stellte fest: "Deutschland ist zwar keine Bananenrepublik des Fußballs geworden, aber international zweitklassig – nun auch offiziell." So etwas hatte man noch nie lesen müssen, seit eine DFB-Auswahl zu Turnieren fuhr. Das Ausland hielt sich mit Schadenfreude nicht zurück. Frankreichs Le Soir bediente gar alte Ressentiments: "Das deutsche Monster hat zu lange überlebt, seit mehreren Spielzeiten, seit mehreren Wettbewerben. Die Deutschen hatten schon die peinliche Einbildung, dass die Geschichte nach ihrem Sinn laufen wird, dass es ein Schicksal gibt, das es immer gut ausgeht für den deutschen Fußball."

Schon am übernächsten Tag wurde das Ende der Derwall-Ära eingeleitet. Da erschien die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile: "Derwall vorbei – Franz: Bin bereit". Derwall hatte zwar noch Vertrag, doch sein Rücktritt schien unvermeidlich. Gegen Franz Beckenbauer konnte er nicht an, dabei hatte der Kaiser nur gesagt: "Ich bin zu einem Gespräch mit dem DFB bereit. Man müsste sich natürlich noch genau über die Aufgabenverteilung unterhalten." Da er keinen Trainerschein hatte, wollte er als eine Art Technischer Direktor arbeiten, als Bundestrainer-Kandidaten kursierten Namen wie Helmut Benthaus (Meistertrainer des VfB Stuttgart), Derwall-Assistent Horst Köppel oder Olympiateamtrainer Erich Ribbeck.

Ein "Weiter so" würde es nicht geben, das stand fest. Aber als die Deutschen schon am nächsten Tag in Frankfurt landeten und unfreundlich empfangen wurden, war Derwall noch Bundestrainer, und Reporter, die ihn nach Rücktritt fragten, kanzelte er ab: "Das ist meine persönliche Entscheidung. Ich frage Sie auch nicht, ob Sie den Arbeitsplatz wechseln."

Am 26. Juni, dem Tag vor dem Finale, wurde im zehnten Stock des Pariser Hilton-Hotels dann reiner Tisch gemacht. Hermann Neuberger gab bekannt: "Jupp Derwall wird nicht mehr die deutsche Nationalmannschaft betreuen." Die Nachfolge blieb offen, letztlich wurde bekanntlich Franz Beckenbauer als Teamchef installiert.

Dänen scheitern an den eigenen Nerven

Das Turnier ging ohne die Deutschen weiter, dank ihrer Initiative nun mit Halbfinalspielen. Frankreich hatte in Marseille zwei schwere Stunden zu überstehen, ehe es Portugal aus dem Weg räumte. Natürlich war wieder Platini der Erlöser, diesmal traf er in der 119. Minute zum 3:2-Endstand. "Jetzt spricht ein glücklicher Trainer nach einem glücklichen Sieg", leitete Michel Hidalgo die Pressekonferenz ein.

In Lyon endete derweil der dänische Finaltraum. Von 13.000 Fans waren nur noch 3000 geblieben, längere Reisen hatten die meisten nicht gebucht. Dänemark überraschte alle, auch die eigenen Fans. Zunächst auch die Spanier, Lerby traf schon nach neun Minuten. Doch wieder rettete ein Tor (68.) von Maceda Spanien, diesmal in die Verlängerung und ins Elfmeterschießen.

Nur einer von zehn Schützen versagte: Elkjaer-Larsen schoss über das Tor, Opfer seiner Nerven: "Ich spürte einen tonnenschweren Druck auf meiner Brust, sonst nichts." Aber die Dänen sonnten sich im Lob der Presse. "Niemals zuvor haben Sportler so große Werbung für das kleine Dänemark gemacht", lobte die dänische Zeitung BT.

Frankreich feiert vor den eigenen Fans

Der britische Schiedsrichter Courtney vergällte den Spaniern die Finalfreude etwas. Er warf mit Karten nur so um sich (acht Verwarnungen), Maceda und Gordillo waren nun gesperrt, als am Mittwoch, 27. Juni, der Pokal vergeben wurde.

Der Prinzenpark war natürlich wieder ausverkauft (47.368 Zuschauer). Frankreich war Favorit, wegen des Heimvorteils und der gezeigten Leistungen. Spaniens Verband erhöhte spontan die Prämie auf umgerechnet 54.000 Mark pro Kopf. Aber es half alles nichts. Zwar hielt das Team von Miguel Munoz in einer mäßigen Partie lange mit, aber ein Fangfehler von Torwart Arconada ließ sie scheitern. Er ließ einen harmlosen Platini-Freistoß unter dem Bauch durchkullern (57.).

Nun hatten die Franzosen leichtes Spiel, und Bruno Bellone schloss mit Abpfiff noch einen Konter zum 2:0 ab. Damit triumphierte der "Champagner-Fußball", wie Frankreichs Offensivstil gefeiert wurde. Auch die EM 1984 triumphierte im Vergleich mit ihren Vorgängern. „Das Niveau war höher als 1980 in Italien oder bei der WM 1982 in Spanien“, lobte der siegreiche Trainer Hidalgo. Der Torschnitt stieg von 1,93 auf 2,73, mit Platini stellte die EM den bis dato besten Torschützen aller EM-Turnier (neun Treffer), und 40.094 Zuschauer pro Spiel bedeuteten auch Rekord. Allerlei Ansporn für den Gastgeber der kommenden EM 1988: Deutschland.

[um]

[bild1]

Zum 14. Mal findet in diesem Sommer die Europameisterschaft statt, erstmals in Polen und der Ukraine. Für DFB.de blickt der Autor und Historiker Udo Muras in einer Serie jeden Freitag bis zur EURO 2012 auf die bisherigen Turniere zurück.

Teil fünf thematisiert die EM 1984, als Deutschland in der Vorrunde gegen Spanien ausscheidet - Antonio Maceda lässt die deutschen EM-Träume mit seinem Kopfballtor in der 90. Minute platzen.

Favoritensterben in der Qualifikation

Mit der EM in Italien war die UEFA nicht zufrieden gewesen und wieder entbrannten Diskussionen über die Zukunft dieser Veranstaltung. Der DFB nahm dabei wesentlichen Einfluss, denn der Vorschlag seines Präsidenten Hermann Neuberger, wieder Halbfinals einzuführen, wurde vom Exekutiv-Komitee angenommen. Ansonsten blieb es beim Modus mit acht Mannschaften und zwei Vierergruppen. Nur dass nun die beiden Ersten jeder Gruppe weiterkamen.

Am 10. Dezember 1981 vergab die UEFA das Turnier an Frankreich, sehr zum Leidwesen von Mitbewerber Deutschland, der noch vier Jahre würde warten müssen. Den Ausschlag für Frankreich gab kurioserweise der marode Zustand der Stadien. Staatliche Zuschüsse waren im Vorfeld einer EM, die viel Geld ins Land bringen sollte, eher zu erwarten. So wurde die EM 1984 eine Art Sanierungsobjekt. Wer in den sieben Stadien würde auflaufen können, entschied sich in sieben Qualifikationsgruppen.

Das Resultat erschütterte die Machtverhältnisse des europäischen Fußballs. Waren in Italien noch alle Großen dabei gewesen, musste man sie 1984 mit der Lupe suchen. Weltmeister Italien gewann nur ein (!) Spiel, ließ selbst auf Zypern Federn (1:1) und wurde in seiner Gruppe nur Vierter. Der WM-Dritte Polen machte es kaum besser, auch die in Spanien starke Sowjetunion blieb auf der Strecke. Die Niederländer, die schon die WM verpasst hatten, scheiterten diesmal hauchdünn am Torverhältnis. In der Differenz gleich mit Spanien, gaben die mehr erzielten Tore den Ausschlag für die Iberer, die im letzten Spiel genau wussten, wie hoch sie gewinnen mussten.

Das 12:1 gegen Malta kam nicht nur den Niederländern Spanisch vor, die UEFA leitete eine ergebnislose Untersuchung ein. Und Altmeister England übte sich erneut in der Rolle des Zuschauers. Ein Punkt fehlte in seiner Gruppe zum Sensations-Sieger Dänemark, der erst einmal (1964) zu einer Endrunde gefahren war. Unter dem deutschen Trainer Sepp Piontek stürmten sie im September 1983 die Feste Wembley und gewannen durch einen Elfmeter des Ex-Gladbachers Allan Simonsen. 82.500 Zuschauer wurden Zeugen der Geburt einer Mannschaft, die ein Jahrzehnt lang Fußball-Geschichte schreiben würde.

Zitterpartie gegen Albanien

Die Deutschen schrieben in den Jahren 1982 und 1983 auch Geschichte, doch es waren düstere Kapitel. Der Titelverteidiger, zwischenzeitlich auch Vize-Weltmeister, durchlebte in der Endphase der Ära Jupp Derwall eine schwere Krise. Hatte es in allen Qualifikationsspielen des DFB in seiner Historie bis dahin nur eine einzige Niederlage (1967 in Jugoslawien) gegeben, kamen in dieser Ausscheidung gleich zwei hinzu. Beide gegen Fußballzwerg Nordirland, beide mit 0:1. Und so war die DFB-Auswahl am Totensonntag 1983 gezwungen, ihr letztes Heimspiel gegen Albanien zu gewinnen. Obwohl die Stimmung nach der Heimpleite gegen die Nordiren in Hamburg denkbar schlecht war, gab es keine Ausreden gegen das sieglose Schlusslicht.

Doch zum Entsetzen der 40.000 Zuschauer im vollbesetzten Saarbrücker Ludwigspark gingen die Skipetaren in der 23. Minute in Führung. Ein abgefälschter Freistoß von Kapitän Karl-Heinz Rummenigge brachte zwar im Gegenzug den Ausgleich, aber auch keine Sicherheit ins deutsche Spiel. Sollte man wie 1967 an Albanien scheitern? Unmittelbar vor der Pause flog Albaniens Torschütze Tomori vom Platz, aber auch dieser Vorteil machte sich kaum bemerkbar. Es wurde bereits dunkel an diesem trüben November-Nachmittag, da segelte noch einmal eine Flanke von Bernd Förster in den Strafrum der Albaner. Gerd Strack, der aufgerückte Libero vom 1. FC Köln, stieg am höchsten und köpfte den Ball zum 2:1 ein.

Zehn Minuten vor Schluss erst wurde das Ticket für Frankreich gelöst. Was sie dort sollte, fragten sich jedoch viele Anhänger. Auch der Kicker mahnte: "Die deutsche Nationalmannschaft kann nun in Frankreich ihren Titel verteidigen. Will sie das auch tun, muss sie bis dahin ihre Form um 100 Prozent steigern." Das Kardinalproblem jener Tage war das spielerische Defizit. Gab es 1980 und 1982 eher noch zuviel Spielmacher – Paul Breitner, Felix Magath, Bernd Schuster und Hansi Müller – stand nun keiner mehr zur Verfügung. Breitner war 1982 zurückgetreten, die anderen litten an Verletzungen oder waren wie Italien-Legionär Müller schlicht außer Form.

Suche nach der perfekten Elf

Müller wäre mit seiner Einstellung ("Das ist eine einzige Quälerei") auch nicht der Richtige gewesen. Rummenigge beschied ihm öffentlich: "Auf einen, der in der Nationalelf nur spielen will, wenn es läuft, können wir verzichten." Und so mussten unerfahrene Männer wie der Bremer Norbert Meier und Gladbachs Lothar Matthäus versuchen, das Spiel anzutreiben. Zur Seite standen ihnen Wasserträger-Typen wie Wolfgang Rolff (HSV), Johnny Otten (Bremen) und Guido Buchwald vom kommenden Meister VfB Stuttgart. Nie versprühte ein deutsches Mittelfeld weniger Glanz als in jenen Tagen, als die Deutschen gegen Atomkraftwerke und das Waldsterben und für den Weltfrieden demonstrierten.

Das Stichwort vom "heißen Herbst" steht für jene bewegten Tage, in dem sich nur der deutsche Fußball nicht bewegte. Er schien seine kontinentale Vormachtstellung einzubüßen und von allen überholt zu werden. Als signifikantes Alarmzeichen galt, dass 1983 erstmals überhaupt alle Bundesligisten im Europapokal nicht über den Winter kamen. Der Kicker schrieb: "Die Schwächen der Bundesliga sind nun einmal auch die Schwächen der Nationalmannschaft." Jupp Derwall war nicht zu beneiden.

Als es auch nach dem Sieg im Testspiel gegen die Sowjetunion im März 1984 heftige Kritik gab, bot er DFB-Präsident Hermann Neuberger seinen Rücktritt an. Das wurde erst nach der EM bekannt. Da sagte Derwall: "Auf mich wurde ein solcher Druck ausgeübt, die Mannschaft wurde mit einem solchen Ballast konfrontiert, dass unter dem Strich kaum noch etwas Positives herauskommen konnte. Für mich war es ein vergebliches Ankämpfen gegen das gesamte Umfeld, und deswegen wollte ich Konsequenzen ziehen." Kurz vor dem Turnier sagten verletzungsbedingt auch noch Bernd Schuster, damals in Barcelona, und Bayerns Wolfgang Dremmler ab.

Volles Haus bei allen Spielen

In dieser Stimmung also flog der Titelverteidiger nach Frankreich. Immerhin hätte es bei der Auslosung am 10. Januar 1984 schlimmer kommen können: Portugal, Rumänien und Spanien waren nicht mal Geheimfavoriten des Turniers. Bei den internationalen Wettbüros stand Gastgeber Frankreich ganz oben und dann kam – Deutschland. Der Mythos von der Turniermannschaft eilte dem Gepäck schon voraus, die Fachwelt wollte nicht glauben dass Deutschlands Fußball seine Kraft verloren hätte.

Immerhin war die DFB-Auswahl dank früherer Verdienste Gruppenkopf, also bei der Auslosung gesetzt worden. In der anderen Gruppe traf der Gastgeber auf Außenseiter Dänemark, Jugoslawien und Vize-Europameister Belgien, das sich in der Qualifikation unter anderem gegen die DDR durchsetzte, die wiederum erst mit dem Gewinnen begann (3:0 gegen Schweiz, 2:1 gegen Schottland) als es zu spät war.

Frankreich hatte sich hübsch gemacht, sechs von sieben Stadien waren renoviert worden. Nur der Pariser Prinzenpark war schön und groß genug für das EM-Turnier, das zur Freude der Veranstalter nur volle Stadien erleben sollte. Das Gros der 760.000 Tickets war schon vor der Eröffnungspartie am 12. Juni weg, endlich grassierte in Europa EM-Fieber.

Müder Auftakt mit Platini-Tor

Das erste Spiel trug dazu nicht allzu viel bei, doch das Ergebnis stimmte. Michel Platini schoss Frankreich in der 78. Minute mit einem abgefälschten Schuss zum Sieg gegen Dänemark. Schlimmer als die Niederlage traf die Dänen der Schienbeinbruch von Allan Simonsen nach einem Foul von Le Roux. Das Krachen hörte man bis auf die obersten Tribünenränge des Prinzen-Parks, nur der davon benommene Simonsen realisierte sein Schicksal noch nicht: "Nicht auswechseln, nicht auswechseln", rief er den Betreuern zu, ehe sie ihn vom Platz trugen.

Für ihn war die EM schon zu Ende, in Kopenhagen wurde er operiert. Kurz vor Schluss flog Manuel Amoros nach einem Kopfstoß gegen Jesper Olsen vom Platz. Er wurde für drei Spiele gesperrt. Nur ein Tor und schon zwei böse Fouls – war das ein böses Omen für das Turnier? Aufgrund der regelmäßig 1:0 endenden Europacup-Finals jener Jahre befürchteten Experten für die EM die Fortsetzung des "Schachbrettfußballs". Aber sie sollten sich irren, vor allem in Bezug auf die Gruppe 1.

Im Parallelspiel ging bereits der erste EM-Stern auf. Der 18-jährige Enzo Scifo vom RSC Anderlecht, dem in vier Jahren in der Jugend rund 300 Tore gelungen waren, führte Belgien zum 2:0 über ein schwaches Jugoslawien. Belgiens Erfolg überraschte: Wegen eines Bestechungsskandal waren nur drei EM-Helden von 1980 übrig geblieben, Guy Thys musste eine neue Mannschaft herbeizaubern. Scifo etwa, ein Mann mit sizilianischen Wurzeln, erhielt erst sechs Tage vor dem Turnier einen belgischen Pass. Ihn kannten nicht mal seine Mitspieler.

Dänemark überrascht die Konkurrenz

Drei Tage später jedoch gerieten die Belgier gegen Frankreich fürchterlich unter die Räder, in Nantes verloren sie 0:5. Platini erwischte einen Gala-Tag, erzielte drei Tore und plötzlich war Frankreich nicht nur wegen seiner Gastgeber-Rolle Favorit. "Wir sind stärker als bei der WM 82", drohte der Kapitän der Equipe tricolore bereits Großtaten an. "Ein Hauch von Brasilien lag in der Luft", schwärmte Ex-Nationalspieler Raymond Copa und fand viele Befürworter.

Kurios: Auch das zweite Spiel des Abends endete 5:0. Die Dänen überrannten die desolaten Jugoslawen, der heutige HSV-Sportdirektor Frank Arnesen schoss zwei Tore. 15.000 "Rooligans", wie sich die sympathischen Dänen-Fans selbstironisch nannten, feierten "Danish Dynamite". Trainer Piontek staunte: "Dass wir so stark sind, hatte ich nicht im Tram erwartet." Sein Rezept, das die Fußball-Welt damals nicht kannte: "Unsere Legionäre bieten eine Mischung aus allen europäischen Stilen, mannschaftliche Disziplin schließt individuelle Freiheit nicht aus."

Nur sechs seiner Spieler waren Profis in Dänemark, der Rest verteilte sich auf Europas Top-Ligen. Kollege Veselinovic wiederum dachte nicht, dass Jugoslawien so schwach sein würde und bereits ausgeschieden war. So ging er wegen plötzlicher Krankheit gar nicht mehr zur Pressekonferenz, sein Assistent Mladinic nutzte die Gelegenheit, mit seinem Chef abzurechen. Auch im Wissen darum, dass dieser ohnehin fliegen würde, attestierte er ihm, noch wie "nach dem Krieg zu trainieren, doch der ist schon fast 40 Jahre aus". Loyalität nach Balkan-Art...

Trotzdem rafften sich die Jugoslawen noch einmal zu einer besseren Leistung auf und schockten 48.000 Zuschauer in St. Etienne, denn zur Pause führten sie gegen Frankreich. Doch in der Stunde der Not war bei diesem Turnier Verlass auf den Kapitän: wieder schoss Platini drei Tore, diesmal war es sogar ein klassischer Hattrick binnen 18 Minuten. So führte ein Mittelfeldspieler die Torjägerliste der EM 1984 an, Stürmertore erzielte Frankreich in der Vorrunde nicht. Stojkovic verkürzte noch per Elfmeter, dann war der Gruppensieg der Franzosen unter Dach und Fach. Wieder beklagten sie Platzverweise an diesem Tag, aber sie zogen diesmal keine Sperren nach sich. Nur Gelächter.

Platzverweise für Maskottchen

Der rumänische Schiedsrichter Daina erwies sich nämlich als Gegner von Maskottchen und ließ drei gallische Hähne aus dem Innenraum vertreiben. Das Lachen erstarb schon bald nach dem tragischsten Vorkommnis des Turniers: Jugoslawiens Teamarzt erlitt auf der Bank einen Herzinfarkt und starb im Krankenhaus.

Nichts für Herzkranke war das Parallelspiel, in dem es zwischen Belgien und Dänemark um den zweiten Platz ging. Die Belgier führten schon 2:0, aber Dänemark gewann noch 3:2. Der Ex-Kölner Preben Elkjaer-Larsen schoss den von den "Rooligans" gefeierten Siegtreffer in der 84. Minute. Das Tor kostete einen Unbeteiligten Geld: Bayern-Manager Uli Hoeneß hatte mit Sören Lerby, damals Profi in München, um 500 D-Mark gewettet, dass Dänemark die Vorrunde nicht überstehen würde. Lerby hielt dagegen und kassierte.

Bezeichnend für das noch geringe Standing der Dänen ist auch diese Lerby-Anekdote nach dem Spiel. Da wollte ein österreichischer Reporter von "Herrn Qvist", das war der Torwart der Dänen, was das Geheimnis seiner Paraden sei. Lerby verulkte ihn: "Ich spiele immer so, ich behalte immer die Ruhe". Dann wurde der Reporter von Kollegen auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht und brach das Interview peinlich berührt ab. Die Welt musste sie eben erst noch kennenlernen, diese Dänen.

"Wir wissen halt nicht, wo wir stehen"

Das Problem hatten die Deutschen nicht. Sie kannten sich nur selbst nicht so recht. "Wir wissen halt nicht, wo wir stehen", sagte Libero Ulli Stielike vor dem Auftakt gegen Portugal. Auch die von Ausrüster Adidas zur Verfügung gestellten leichtesten Schuhe aller Zeiten (220 Gramm) konnten eine gewisse Leichtfüßigkeit nicht so einfach herbeizaubern. Im Gegenteil. Die Hitzeschlacht von Straßburg war ganz schwere Kost. Tore fielen nicht, Pfiffe und "Aufhören"-Rufe gab es umso mehr.

"Das Mittelfeld der Handwerker war überfordert", schrieb die Deutsche Presseagentur (dpa). Es hatte vor allem noch nie zusammengespielt. Die Defensiven Guido Buchwald, in seinem zweiten Länderspiel, Andreas Brehme, in seinem sechsten, und Wolfgang Rolff (elfter Einsatz) waren zudem noch ausgesprochen unerfahren. Weltklassestürmer Karl-Heinz Rummenigge in seiner neuen Rolle ebenfalls. "Wenn es nach mir geht, ist meine Mittelfeld-Karriere beendet", sagte der Kapitän frustriert. Jupp Derwall schob einiges auf die Umstände: "Wir haben die Nervosität, Unruhe und Verkrampftheit gezeigt wie sie im ersten Spiel üblich ist."

Das Turnier lief, die Mannschaft war noch nicht gefunden. Das war nichts Neues und schlechte Eröffnungsspiele hatten Tradition. Aber diesmal schwang die Angst im eigenen Lager mit. Derwall: "Wir müssen uns alle von der Vorstellung befreien, dass die Deutschen wie früher auf den Platz gehen und alles wegfegen können." Immerhin verbreiteten die kommenden Gegner weder Angst noch Schrecken. Rumänien und Spanien trennten sich in einem ähnlich ideenarmen Spiel 1:1, die DFB-Beobachter Berti Vogts und Gero Bisanz schickten ihre mit Schreibmaschine getippte Berichte stets mit Kurier ins deutsche Quartier "La Forrestiere" in Paris.

[bild2]

Völlers Doppelpack gegen Rumänien

Alarmierendes stand nicht darin, und so gab es berechtigte Hoffnung, das 500. Länderspiel der DFB-Historie, zumal am Nationalfeiertag 17. Juni, zu gewinnen. In Lens warteten die Rumänen und weil Rudi Völler einen großen Tag erwischte, ging der Wunsch in Erfüllung. Völler traf doppelt beim mehr erkämpften als erspielten 2:1. Mehr Probleme bereitete die Anreise. Obwohl von französischen Polizisten eskortiert, verpasste der Mannschaftsbus die Ausfahrt nach Lens. Busfahrer Walter Kohr fuhr auf eigene Faust 50 Kilometer über Landstraßen und verdiente sich ein Extra-Lob von Neubergers Ehefrau: "Herr Kohr, das haben Sie sehr gut gemacht!" Neuberger selbst half beim Auspacken der Koffer, es ging um jede Minute.

Eine halbe Stunde später als von der UEFA vorgeschrieben, aber noch rechtzeitig zum Anpfiff, waren die für ihre Pünktlichkeit gerühmten Deutschen im Stadion angekommen. Wo sie ihren ersten Sieg einfuhren und plötzlich Tabellenführer waren, da Spanier und Portugiesen sich 1:1 trennten. War nun die Mannschaft gefunden? Rummenigge spielte wieder neben Völler und Klaus Allofs im Sturm, Lothar Matthäus kam für Guido Buchwald, Norbert Meier für Wolfgang Rolff und mit ihnen mehr Kreativität ins Mittelfeld.

"Ich bin überrascht und erfreut über die Leistung von Lothar", sagte Derwall. Der Gelobte versprach, dass "wir ganz gewiss lockerer in das nächste Spiel gegen". Vorsichtiger Optimismus machte sich auch in den Medien breit, der Kicker titelte: "Deutliche Steigerung unserer Elf. Jetzt steht die Tür zum Halbfinale offen." Allzu viele Schlagzeilen erschienen übrigens nicht, denn ausgerechnet während der EM tobte in der Heimat ein Drucker-Streik um die 35 Stunden-Woche.

Deutschland spielt, Maceda trifft

Die deutsche Mannschaft trat in ihrem letzten Spiel, das es natürlich nicht sein sollte, alles andere als in Streik. Das ist die Tragik an den Ereignissen des 20. Juni. Im Prinzenpark zu Paris machte sie gegen Spanien ihr bestes EM-Spiel 1984, und wenn sie 3:0 gewonnen hätte, hätten sich die Spanier nicht beschweren können. Doch 3:0 stand es nur nach Aluminiumtreffern. Hans-Peter Briegel köpfte in den ersten 20 Minuten gleich zweimal an die Latte, in der 27. Minute traf Brehme den Pfosten.

Glück hatte sie freilich auch, als es kurz vor der Pause nach einem Stielike-Foul Elfmeter gab. Kurz bevor Carrasco anlief, flog eine Silvester-Rakete auf den Platz, und der Rauch waberte noch durch den Strafraum, als er anlief. Er schoss schwach, Toni Schumacher hielt und genoss seinen persönlichen Triumph. Wurde er doch in Frankreich wegen des Fouls an Battiston bei der WM 1982 bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen.

Nach der Pause boten sich Klaus Allofs gleich drei Chancen, Deutschland ins Halbfinale zu schießen. Erst als Portugals Führung gegen die Rumänen in der 78. Minute bekannt wurde, wagten sich die Spanier in die Offensive. Auch Libero Maceda ging mit nach vorne, und ihn hatte keiner auf der Rechnung, als nach exakt 89 Minuten und 22 Sekunden eine Flanke von Senor in den Strafraum segelte. Maceda köpfte unbedrängt ein – 1:0. 90 Sekunden später war Schluss und Deutschland erstmals überhaupt in einer Vorrunde ausgeschieden.

Ende der "Ära Derwall"

Das befürchtete Ergebnis war eingetreten, aber auf diese Weise war es nicht zu erwarten. Nun hingen die Köpfe tief. Rummenigge sprach von "einer Schmach für den deutschen Fußball", und dpa stellte fest: "Deutschland ist zwar keine Bananenrepublik des Fußballs geworden, aber international zweitklassig – nun auch offiziell." So etwas hatte man noch nie lesen müssen, seit eine DFB-Auswahl zu Turnieren fuhr. Das Ausland hielt sich mit Schadenfreude nicht zurück. Frankreichs Le Soir bediente gar alte Ressentiments: "Das deutsche Monster hat zu lange überlebt, seit mehreren Spielzeiten, seit mehreren Wettbewerben. Die Deutschen hatten schon die peinliche Einbildung, dass die Geschichte nach ihrem Sinn laufen wird, dass es ein Schicksal gibt, das es immer gut ausgeht für den deutschen Fußball."

Schon am übernächsten Tag wurde das Ende der Derwall-Ära eingeleitet. Da erschien die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile: "Derwall vorbei – Franz: Bin bereit". Derwall hatte zwar noch Vertrag, doch sein Rücktritt schien unvermeidlich. Gegen Franz Beckenbauer konnte er nicht an, dabei hatte der Kaiser nur gesagt: "Ich bin zu einem Gespräch mit dem DFB bereit. Man müsste sich natürlich noch genau über die Aufgabenverteilung unterhalten." Da er keinen Trainerschein hatte, wollte er als eine Art Technischer Direktor arbeiten, als Bundestrainer-Kandidaten kursierten Namen wie Helmut Benthaus (Meistertrainer des VfB Stuttgart), Derwall-Assistent Horst Köppel oder Olympiateamtrainer Erich Ribbeck.

Ein "Weiter so" würde es nicht geben, das stand fest. Aber als die Deutschen schon am nächsten Tag in Frankfurt landeten und unfreundlich empfangen wurden, war Derwall noch Bundestrainer, und Reporter, die ihn nach Rücktritt fragten, kanzelte er ab: "Das ist meine persönliche Entscheidung. Ich frage Sie auch nicht, ob Sie den Arbeitsplatz wechseln."

Am 26. Juni, dem Tag vor dem Finale, wurde im zehnten Stock des Pariser Hilton-Hotels dann reiner Tisch gemacht. Hermann Neuberger gab bekannt: "Jupp Derwall wird nicht mehr die deutsche Nationalmannschaft betreuen." Die Nachfolge blieb offen, letztlich wurde bekanntlich Franz Beckenbauer als Teamchef installiert.

Dänen scheitern an den eigenen Nerven

Das Turnier ging ohne die Deutschen weiter, dank ihrer Initiative nun mit Halbfinalspielen. Frankreich hatte in Marseille zwei schwere Stunden zu überstehen, ehe es Portugal aus dem Weg räumte. Natürlich war wieder Platini der Erlöser, diesmal traf er in der 119. Minute zum 3:2-Endstand. "Jetzt spricht ein glücklicher Trainer nach einem glücklichen Sieg", leitete Michel Hidalgo die Pressekonferenz ein.

In Lyon endete derweil der dänische Finaltraum. Von 13.000 Fans waren nur noch 3000 geblieben, längere Reisen hatten die meisten nicht gebucht. Dänemark überraschte alle, auch die eigenen Fans. Zunächst auch die Spanier, Lerby traf schon nach neun Minuten. Doch wieder rettete ein Tor (68.) von Maceda Spanien, diesmal in die Verlängerung und ins Elfmeterschießen.

Nur einer von zehn Schützen versagte: Elkjaer-Larsen schoss über das Tor, Opfer seiner Nerven: "Ich spürte einen tonnenschweren Druck auf meiner Brust, sonst nichts." Aber die Dänen sonnten sich im Lob der Presse. "Niemals zuvor haben Sportler so große Werbung für das kleine Dänemark gemacht", lobte die dänische Zeitung BT.

Frankreich feiert vor den eigenen Fans

Der britische Schiedsrichter Courtney vergällte den Spaniern die Finalfreude etwas. Er warf mit Karten nur so um sich (acht Verwarnungen), Maceda und Gordillo waren nun gesperrt, als am Mittwoch, 27. Juni, der Pokal vergeben wurde.

Der Prinzenpark war natürlich wieder ausverkauft (47.368 Zuschauer). Frankreich war Favorit, wegen des Heimvorteils und der gezeigten Leistungen. Spaniens Verband erhöhte spontan die Prämie auf umgerechnet 54.000 Mark pro Kopf. Aber es half alles nichts. Zwar hielt das Team von Miguel Munoz in einer mäßigen Partie lange mit, aber ein Fangfehler von Torwart Arconada ließ sie scheitern. Er ließ einen harmlosen Platini-Freistoß unter dem Bauch durchkullern (57.).

Nun hatten die Franzosen leichtes Spiel, und Bruno Bellone schloss mit Abpfiff noch einen Konter zum 2:0 ab. Damit triumphierte der "Champagner-Fußball", wie Frankreichs Offensivstil gefeiert wurde. Auch die EM 1984 triumphierte im Vergleich mit ihren Vorgängern. „Das Niveau war höher als 1980 in Italien oder bei der WM 1982 in Spanien“, lobte der siegreiche Trainer Hidalgo. Der Torschnitt stieg von 1,93 auf 2,73, mit Platini stellte die EM den bis dato besten Torschützen aller EM-Turnier (neun Treffer), und 40.094 Zuschauer pro Spiel bedeuteten auch Rekord. Allerlei Ansporn für den Gastgeber der kommenden EM 1988: Deutschland.