"Gedanke an Schwäche ist oft ein Tabu"

Im November 2012 rief die Robert-Enke-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Aachen das Forschungsprojekt "Beratungshotline seelische Gesundheit" ins Leben. Von Beginn an war Dr. Karsten Henkel dabei, bis er im Juli 2019 einen Chefarztposten in Göppingen übernahm. Der Psychiater gibt im DFB.de-Interview mit Mitarbeiterin Anna Priester Einblicke in die Arbeit der Beratungshotline.

DFB.de: Herr Dr. Henkel, viele Medizinstudenten träumen davon, dem Patienten im OP-Saal eines Tages das Leben zu retten. Wie also entstand Ihr Interesse ausgerechnet für den Fachbereich der Psychiatrie?

Dr. med. Karsten Henkel: Mich hat das Nervensystem schon immer interessiert. Das komplexeste Organ des menschlichen Körpers ist das Gehirn, deshalb wurde ich zuerst Neurologe. Neben rein neurologischen Symptomen bewirken Hirnstörungen auch Veränderungen von Verhalten, Empfindungen und Emotionen. Daher entschied ich mich später auch für den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Diese verschiedenen Herangehensweisen, um Funktionsstörungen des Gehirns zu erfassen und zu behandeln, haben mich schon früh im Studium fasziniert. Neben meiner Tätigkeit als Chefarzt leite ich auch das Referat "Sportpsychiatrie und -psychotherapie" der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, kurz DGPPN. Mein aktuelles Engagement für die Robert-Enke-Stiftung besteht vor allem in der Begutachtung von Förderanträgen.

DFB.de: Sie haben mehrere Jahre die telefonische Notfallhotline der Robert-Enke-Stiftung betreut. Wie entstand der Kontakt zur Stiftung?

Henkel: Als geborener Hannoveraner hatte ich einen Bezug zur Stadt und dem Verein Hannover 96. Professor Frank Schneider war damals Präsident der DGPPN und gründete nach Robert Enkes Suizid zusammen mit Robert Enkes Behandler, Dr. Valentin Markser, das Referat. Ich war damals ein Mitarbeiter von Professor Schneider. So kam es, dass ich einer der zuständigen Psychiater an der Beratungshotline der Robert-Enke-Stiftung wurde.

DFB.de: Auch Sie retten also Leben, nur eben auf eine andere Art und Weise.

Henkel: In der Tat können psychische Krankheiten tödlich verlaufen. Es ist wissenschaftlich untersucht und bewiesen, dass prophylaktische und intervenierende Maßnahmen der Psychiatrie und Psychotherapie eine deutliche Verminderung von Suiziden bewirken können. Es gibt Präventionsstrategien und Behandlungserfolge, die bewirkt haben, dass es von Anfang der 80er-Jahre bis heute etwa zu einer Halbierung der Suizidraten in Deutschland kam.

DFB.de: Wie verbreitet ist die Krankheit heutzutage in Deutschland?

Henkel: Depression ist eine Volkskrankheit. Man weiß, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer depressiven Episode erkranken.

DFB.de: Warum sind die Zahlen für hochentwickelte Länder wie Deutschland, die USA oder England so viel höher als für ein Land in Afrika oder Südamerika? Ist Depression eine Zivilisationskrankheit?

Henkel: Das würde ich nicht unbedingt sagen, denn hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Man geht davon aus, dass in Deutschland ungefähr 5,3 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 79 Jahren in einem Jahr an einer Depression erkranken, also wirklich sehr viele. Dass die Zahlen in anderen Ländern geringer sind, liegt sicherlich auch daran, dass die Depression oft nicht also solche diagnostiziert wird. Ob der Unterschied zwischen hochentwickelten Ländern und weniger entwickelten Ländern wirklich so groß ist, kann man also pauschal so nicht sagen. Regionale Unterschiede gibt es allerdings. In den meisten Ländern sind Geschlecht, Alter und Familienstand wichtige sozioökonomische Faktoren. Erhöhte Raten in wirtschaftlich höher entwickelten Ländern könnten an gesellschaftlichen Stressfaktoren, aber auch an intensiverer medizinischer Versorgung oder besserer Sozialversicherung liegen.

DFB.de: Und welche sozialen Faktoren wirken sich krankheitsauslösend oder krankheitsverschärfend aus?

Henkel: Das ist eine sehr gute Frage. Insgesamt gehen wir bei einer Depression von einer multifaktoriellen Genese aus. Das heißt, dass es meistens nicht einen Faktor gibt, der dazu führt, dass man depressiv wird, sondern es kommen mehrere Faktoren zusammen. Zu den Einflussgrößen gehören einerseits genetische Faktoren, anderseits äußere und soziale Faktoren. Dauerhafte Stresssituationen können eine Depression zumindest auslösen. Zudem spielt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Depressionsauslösung neben den Stressfaktoren auch die Fähigkeit, mit einer Stresssituation umzugehen, die sogenannte Stressresilienz, eine große Rolle.

DFB.de: Wie unterscheidet sich eine Depression von einer tiefen Traurigkeit, etwa nach einem Beziehungsende oder nach einer Kündigung?

Henkel: Bei einer Depression handelt es sich oft um eine Symptomkonstellation aus unbegründeter Traurigkeit, um Freudlosigkeit und Verminderung des Antriebs und Erschöpfung. Die Symptome bei einer depressiven Episode bestehen mindestens zwei Wochen am Stück. Diese sind dann häufig auch mit anderen, verstärkt körperlichen Symptomen verbunden, wie Schmerzen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Manchmal besteht überwertiges Schulderleben. Die Erkrankung einer Depression kann dann sogar soweit führen, dass es zu einer Einengung der Wahrnehmung kommt. Man sieht sich selbst, die Umwelt und die Zukunft negativ. Es besteht keine realistische Einschätzung der eignen Situation mehr. Wenn Menschen trauern, tun sie das wiederum wegen einer begründbaren Ursache und sind üblicherweise durchaus noch in der Lage, andere Dinge adäquat wahrzunehmen. Das ist der Unterschied.

DFB.de: Nach all den Jahren, war es eine gute Entscheidung, medizinisch ins Feld der Psychiatrie zu gehen?

Henkel: Ja, ich fühle mich in meiner Entscheidung bestätigt. Ich glaube, dass ich mit meiner Arbeit Menschen helfen und vom Suizid abhalten kann. Ich versuche, Menschen Hoffnung zu geben, diese schwere Zeit zu überstehen. Denn das Gute ist: Diese Erkrankungen sind heilbar. Die Patienten sind gut behandelbar, wenn sie sich selbst die Zeit geben.

DFB.de: Mit welchem zeitlichen Aufwand haben Sie die Beratungshotline der Robert-Enke-Stiftung betreut?

Henkel: Die Beratungshotline besteht seit sieben Jahren, davon habe ich sie sechseinhalb Jahre bis Ende Juni 2019 mitbetreut. Entweder saß ich selbst am Telefon oder aber Mitarbeiter, die das oft unter meiner Supervision gemacht haben.

DFB.de: Wie kann man sich ein Erstgespräch vorstellen?

Henkel: Diese Beratungshotline ist offen für Sportler wie auch für die Allgemeinbevölkerung. So ganz grob kann man sagen, dass 20 Prozent der Anrufer Sportler sind und der Rest aus der Allgemeinbevölkerung stammt. Die Hotline hat eine Lotsenfunktion. Viele kennen sich mit dem Thema Depression oder anderen psychischen Erkrankungen nicht aus und brauchen erst einmal Beratung darüber, wo sie sich hinwenden können. Es gibt Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten: alleine diese Begriffe zu unterscheiden, fällt den meisten doch schwer. Zudem sind die Angebote nicht immer transparent und für einen Laien schwer verständlich. In dem Telefonat geht es darum heraufzufinden, was der Anrufer am Ehesten braucht und in welchen Fachbereich diese Hilfsleistung hineinfällt. Rund die Hälfte der Anrufer rufen nicht wegen sich selbst, sondern wegen Angehörigen an - wegen des Ehepartners, den eigenen Kindern, eines Sportlers im Verein. Die Frage ist hier dann oft, wie mit so jemanden umgegangen werden soll, der krank ist und nicht von sich aus auf die Idee kommt, sich Hilfe zu holen. Es gibt sehr verschiedene Anrufe.

DFB.de: Welche Grenzen gibt es?

Henkel: Was wir nicht machen können in so einer Hotline, ist zu behandeln. Bei uns kann es nur um eine Beratung und die Weitergabe von Allgemeininformationen gehen. Das Referat "Sportpsychiatrie und -psychotherapie" konnte im Lauf der Jahre ein Netzwerk von 14 universitären Zentren sowie weiteren nichtuniversitären Sprechstunden und ambulant tätigen Experten aufbauen. Dort ist es für Sportler möglich, konkrete Hilfe zu bekommen.

DFB.de: Warum meldet sich etwa ein Profifußballer über die Hotline? Drückt sich darin auch ein Misstrauen gegenüber dem eigenen Verein aus?

Henkel: Vereine sind Arbeitgeber. Sie beschäftigen heutzutage im Regelfall Sportpsychologen, welche vorrangig die Aufgabe haben, die sportliche Leistungsfähigkeit zu steigern oder zu optimieren. Das liegt ja auch im Interesse des Spielers. Sportpsychologen haben auch ein gewisses Gespür dafür, wenn etwas mit Spielern nicht stimmt. Viele von den Sportpsychologen haben allerdings keine psychotherapeutische Ausbildung. Im Idealfall verfügen sie über ein Netzwerk mit psychiatrischer oder psychotherapeutischer Expertise, wohin sie einen Spieler weiterleiten können. Letztlich ist die Frage, ob man sich als Spieler mit einer Erkrankung, sei es eine körperliche oder psychische, an den Arbeitgeber wenden will oder nicht eher einen unabhängigen Arzt konsultiert, der unter Schweigepflicht steht, und sich dort behandeln lässt. Meiner Meinung nach ist unsere Gesellschaft noch nicht so weit, dass es jetzt völlig unproblematisch wäre, sich zu bestimmten psychischen Symptomen, zum Beispiel einer vermehrten Traurigkeit, Erschöpfung oder einer Depressivität, öffentlich oder gegenüber dem eigenen Arbeitgeber zu äußern.

DFB.de: Ist es für einen Profifußballer besonders schwer, eine Depression als eine psychische Erkrankung und nicht als persönliches Scheitern anzusehen?

Henkel: Zum einen kann es für Sportler überhaupt schwer sein, die Erkrankung als Depression zu erkennen. Viele Sportler klagen zunächst mal über körperliche Symptome wie Müdigkeit, Schlafstörungen oder Herzklopfen, die mit der Depression einhergehen. Und sie merken manchmal erst recht spät, dass die Probleme vielleicht psychisch mitbedingt sind. Denn durch intensive Trainingseinheiten kennen sie Schmerzen oder beispielweise das Gefühl von Schlafstörungen bei hohen Belastungen. Zum anderen wollen sich die Spieler selbst nicht eingestehen, dass sie Defizite haben. Für einen Profifußballer ist der Gedanke an Schwäche oft ein Tabu. Diese Einstellung wird vom leistungsorientierten Umfeld oft geteilt oder vorgelebt.

DFB.de: Woher kommt es, dass es bis heute von den meisten Menschen als Schwäche angesehen wird, wenn eine Person, sei es Spitzensportler oder "Normalo", öffentlich über ihre Depression spricht? Hat die Stiftung hier in diesen zehn Jahren noch nicht genug bewirkt?

Henkel: Na ja, aus der Stiftungsarbeit kann man ja nicht die gesamte Gesellschaft ändern. Ich glaube, es gibt heutzutage punktuell schon eine etwas größere Sensibilität. Allerdings erkenne ich nicht, dass diese flächendeckend weit verbreitet ist. Ganz wichtig scheint mir, dass der Allgemeinheit bewusst wird, dass ein Mensch üblicherweise nicht als Eigenschaft depressiv ist, sondern als Zustand eine Depression hat. Ein Mensch hat viele Facetten und kann auch depressive Symptome haben. Die Stimmung ist dann depressiv. Dies kann letztlich jeden von uns betreffen. Jemanden deswegen abzuwerten oder mentale Schwäche zu unterstellen, ist nicht korrekt.

DFB.de: Der Fall von Robert Enke hat im Fußball aktiven Menschen geschockt, an der Spitze wie an der Basis. Hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwas im Spitzensport geändert? Oder kann es sein, dass der Druck - etwa durch die sozialen Medien - heute noch höher ist als 2009?

Henkel: Ich glaube, der Druck war damals ähnlich hoch. Die finanziellen Aspekte spielen hier jedoch auch eine Rolle, es steckt heute eben noch mehr Geld im Fußballgeschäft. Wir sehen es an den Ablösesummen. Vereine bezahlen sehr hohe Summen für Spieler und möchten auch aus wirtschaftlichen Gründen, dass diese die Leistung auf den Platz bringen. Und der Fußball insgesamt hat heute vielleicht eine noch höhere gesellschaftliche Bedeutung und mediale Präsenz. Die Medienvielfalt hat noch mal deutlich zugenommen.

DFB.de: Wie muss sich ein Verein aufstellen, um den eigenen Spielern im Bedarfsfall schnell und kompetent Hilfe anzubieten?

Henkel: Der Kontakt zu den Sportärzten spielt eine große Rolle, da sich die psychische Erkrankung, wie bereits erwähnt, oft anfangs in Form von körperlichen Symptomen äußert. Der Austausch zwischen Sportmedizinern, Sportärzten und den Psychiatern ist essenziell. Es wäre eine Idee, sich noch stärker mit sportpsychiatrischen Themen in der Ausbildung von Trainern zu engagieren, um mehr Sensibilisierung im System zu bewirken. Trainer und Betreuer haben eine sehr wichtige und verantwortungsvolle Funktion und sollten Spieler weiterleiten, wenn sie etwas von deren Erkrankungen merken, um dann im nächsten Schritt eine Behandlung zu ermöglichen.

DFB.de: Was können Profivereine und der DFB noch zusätzlich tun, um junge Spitzenfußballer zu schützen?

Henkel: Ich glaube, dass gerade der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenleistungssport eine kritische Phase ist. Wir haben häufiger Patienten aus dieser Altersgruppe, die mit einer sehr guten Leistung in der A-Junioren-Bundesliga spielen und plötzlich, wenn sie einen weiterführenden Verein suchen, nur schwer bei einem Ober- oder Regionalligisten landen. Die Sportler sind dann erst mal enttäuscht. Aufgrund räumlicher Distanz zur Familie fehlt dann auch diese Ressource. In dieser vulnerablen Phase (Phase der seelischen Verwundbarkeit; Anm. d. Red.) ist die Unterstützung und medizinisch-psychologische Begleitung durch die Nachwuchszentren besonders wichtig, um frühzeitig seelische Krisen erkennen und abfangen zu können.

DFB.de: Wie wirkt sich eine seelische Erkrankung wie eine Depression auf eine Profikarriere aus? Bedeutet sie das sofortige Aus?

Henkel: Das bedeutet keinesfalls das Aus, da eine Depression heilbar ist. Es gibt häufig Befürchtungen, dass bestimmte Medikamente zur Behandlung der Depression, wie Antidepressiva, entweder deutlich die Leistung beeinträchtigen würden oder dass sie abhängig machten und gar mit dem Antidopingregeln nicht vereinbar wären. Das stimmt für die meisten Antidepressiva nicht. Die Behandlung braucht Zeit, daher kann es dazu führen, dass sich der Spieler eine Auszeit nehmen muss. Es ist aber auch denkbar, dass ein Spieler bei etwas leichteren Formen der Depression in dieser Zeit weiterspielt und sich behandeln lässt.

DFB.de: Was raten Sie Menschen in einem normalen Umfeld außerhalb des Sports ohne Betreuer?

Henkel: Man sollte wachsam sein. Wenn man selbst Symptome entdeckt oder von Angehörigen auf solche hingewiesen wird, sollte man diese ernst nehmen und im nächsten Schritt professionelle Hilfe suchen. Wenn es zu stark ausgeprägten Symptomen bis hin zur Suizidalität kommt, dann ist es auch eine Notfallindikation, sich umgehend behandeln zu lassen.

DFB.de: Wie können Angehörige einen Erkrankten unterstützen?

Henkel: Es ist ganz wichtig, dass die Angehörigen derjenigen oder demjenigen weiter zur Seite stehen. Man sollte klar und deutlich darauf hinweisen, welche Behandlungsmaßnahmen es gibt. Das Bewusstsein ist gewachsen, aber wir alle können noch besser werden beim Umgang mit der Krankheit Depression.

[ap]

Im November 2012 rief die Robert-Enke-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Aachen das Forschungsprojekt "Beratungshotline seelische Gesundheit" ins Leben. Von Beginn an war Dr. Karsten Henkel dabei, bis er im Juli 2019 einen Chefarztposten in Göppingen übernahm. Der Psychiater gibt im DFB.de-Interview mit Mitarbeiterin Anna Priester Einblicke in die Arbeit der Beratungshotline.

DFB.de: Herr Dr. Henkel, viele Medizinstudenten träumen davon, dem Patienten im OP-Saal eines Tages das Leben zu retten. Wie also entstand Ihr Interesse ausgerechnet für den Fachbereich der Psychiatrie?

Dr. med. Karsten Henkel: Mich hat das Nervensystem schon immer interessiert. Das komplexeste Organ des menschlichen Körpers ist das Gehirn, deshalb wurde ich zuerst Neurologe. Neben rein neurologischen Symptomen bewirken Hirnstörungen auch Veränderungen von Verhalten, Empfindungen und Emotionen. Daher entschied ich mich später auch für den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Diese verschiedenen Herangehensweisen, um Funktionsstörungen des Gehirns zu erfassen und zu behandeln, haben mich schon früh im Studium fasziniert. Neben meiner Tätigkeit als Chefarzt leite ich auch das Referat "Sportpsychiatrie und -psychotherapie" der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, kurz DGPPN. Mein aktuelles Engagement für die Robert-Enke-Stiftung besteht vor allem in der Begutachtung von Förderanträgen.

DFB.de: Sie haben mehrere Jahre die telefonische Notfallhotline der Robert-Enke-Stiftung betreut. Wie entstand der Kontakt zur Stiftung?

Henkel: Als geborener Hannoveraner hatte ich einen Bezug zur Stadt und dem Verein Hannover 96. Professor Frank Schneider war damals Präsident der DGPPN und gründete nach Robert Enkes Suizid zusammen mit Robert Enkes Behandler, Dr. Valentin Markser, das Referat. Ich war damals ein Mitarbeiter von Professor Schneider. So kam es, dass ich einer der zuständigen Psychiater an der Beratungshotline der Robert-Enke-Stiftung wurde.

DFB.de: Auch Sie retten also Leben, nur eben auf eine andere Art und Weise.

Henkel: In der Tat können psychische Krankheiten tödlich verlaufen. Es ist wissenschaftlich untersucht und bewiesen, dass prophylaktische und intervenierende Maßnahmen der Psychiatrie und Psychotherapie eine deutliche Verminderung von Suiziden bewirken können. Es gibt Präventionsstrategien und Behandlungserfolge, die bewirkt haben, dass es von Anfang der 80er-Jahre bis heute etwa zu einer Halbierung der Suizidraten in Deutschland kam.

DFB.de: Wie verbreitet ist die Krankheit heutzutage in Deutschland?

Henkel: Depression ist eine Volkskrankheit. Man weiß, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer depressiven Episode erkranken.

DFB.de: Warum sind die Zahlen für hochentwickelte Länder wie Deutschland, die USA oder England so viel höher als für ein Land in Afrika oder Südamerika? Ist Depression eine Zivilisationskrankheit?

Henkel: Das würde ich nicht unbedingt sagen, denn hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Man geht davon aus, dass in Deutschland ungefähr 5,3 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 79 Jahren in einem Jahr an einer Depression erkranken, also wirklich sehr viele. Dass die Zahlen in anderen Ländern geringer sind, liegt sicherlich auch daran, dass die Depression oft nicht also solche diagnostiziert wird. Ob der Unterschied zwischen hochentwickelten Ländern und weniger entwickelten Ländern wirklich so groß ist, kann man also pauschal so nicht sagen. Regionale Unterschiede gibt es allerdings. In den meisten Ländern sind Geschlecht, Alter und Familienstand wichtige sozioökonomische Faktoren. Erhöhte Raten in wirtschaftlich höher entwickelten Ländern könnten an gesellschaftlichen Stressfaktoren, aber auch an intensiverer medizinischer Versorgung oder besserer Sozialversicherung liegen.

DFB.de: Und welche sozialen Faktoren wirken sich krankheitsauslösend oder krankheitsverschärfend aus?

Henkel: Das ist eine sehr gute Frage. Insgesamt gehen wir bei einer Depression von einer multifaktoriellen Genese aus. Das heißt, dass es meistens nicht einen Faktor gibt, der dazu führt, dass man depressiv wird, sondern es kommen mehrere Faktoren zusammen. Zu den Einflussgrößen gehören einerseits genetische Faktoren, anderseits äußere und soziale Faktoren. Dauerhafte Stresssituationen können eine Depression zumindest auslösen. Zudem spielt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Depressionsauslösung neben den Stressfaktoren auch die Fähigkeit, mit einer Stresssituation umzugehen, die sogenannte Stressresilienz, eine große Rolle.

DFB.de: Wie unterscheidet sich eine Depression von einer tiefen Traurigkeit, etwa nach einem Beziehungsende oder nach einer Kündigung?

Henkel: Bei einer Depression handelt es sich oft um eine Symptomkonstellation aus unbegründeter Traurigkeit, um Freudlosigkeit und Verminderung des Antriebs und Erschöpfung. Die Symptome bei einer depressiven Episode bestehen mindestens zwei Wochen am Stück. Diese sind dann häufig auch mit anderen, verstärkt körperlichen Symptomen verbunden, wie Schmerzen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Manchmal besteht überwertiges Schulderleben. Die Erkrankung einer Depression kann dann sogar soweit führen, dass es zu einer Einengung der Wahrnehmung kommt. Man sieht sich selbst, die Umwelt und die Zukunft negativ. Es besteht keine realistische Einschätzung der eignen Situation mehr. Wenn Menschen trauern, tun sie das wiederum wegen einer begründbaren Ursache und sind üblicherweise durchaus noch in der Lage, andere Dinge adäquat wahrzunehmen. Das ist der Unterschied.

DFB.de: Nach all den Jahren, war es eine gute Entscheidung, medizinisch ins Feld der Psychiatrie zu gehen?

Henkel: Ja, ich fühle mich in meiner Entscheidung bestätigt. Ich glaube, dass ich mit meiner Arbeit Menschen helfen und vom Suizid abhalten kann. Ich versuche, Menschen Hoffnung zu geben, diese schwere Zeit zu überstehen. Denn das Gute ist: Diese Erkrankungen sind heilbar. Die Patienten sind gut behandelbar, wenn sie sich selbst die Zeit geben.

DFB.de: Mit welchem zeitlichen Aufwand haben Sie die Beratungshotline der Robert-Enke-Stiftung betreut?

Henkel: Die Beratungshotline besteht seit sieben Jahren, davon habe ich sie sechseinhalb Jahre bis Ende Juni 2019 mitbetreut. Entweder saß ich selbst am Telefon oder aber Mitarbeiter, die das oft unter meiner Supervision gemacht haben.

DFB.de: Wie kann man sich ein Erstgespräch vorstellen?

Henkel: Diese Beratungshotline ist offen für Sportler wie auch für die Allgemeinbevölkerung. So ganz grob kann man sagen, dass 20 Prozent der Anrufer Sportler sind und der Rest aus der Allgemeinbevölkerung stammt. Die Hotline hat eine Lotsenfunktion. Viele kennen sich mit dem Thema Depression oder anderen psychischen Erkrankungen nicht aus und brauchen erst einmal Beratung darüber, wo sie sich hinwenden können. Es gibt Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten: alleine diese Begriffe zu unterscheiden, fällt den meisten doch schwer. Zudem sind die Angebote nicht immer transparent und für einen Laien schwer verständlich. In dem Telefonat geht es darum heraufzufinden, was der Anrufer am Ehesten braucht und in welchen Fachbereich diese Hilfsleistung hineinfällt. Rund die Hälfte der Anrufer rufen nicht wegen sich selbst, sondern wegen Angehörigen an - wegen des Ehepartners, den eigenen Kindern, eines Sportlers im Verein. Die Frage ist hier dann oft, wie mit so jemanden umgegangen werden soll, der krank ist und nicht von sich aus auf die Idee kommt, sich Hilfe zu holen. Es gibt sehr verschiedene Anrufe.

DFB.de: Welche Grenzen gibt es?

Henkel: Was wir nicht machen können in so einer Hotline, ist zu behandeln. Bei uns kann es nur um eine Beratung und die Weitergabe von Allgemeininformationen gehen. Das Referat "Sportpsychiatrie und -psychotherapie" konnte im Lauf der Jahre ein Netzwerk von 14 universitären Zentren sowie weiteren nichtuniversitären Sprechstunden und ambulant tätigen Experten aufbauen. Dort ist es für Sportler möglich, konkrete Hilfe zu bekommen.

DFB.de: Warum meldet sich etwa ein Profifußballer über die Hotline? Drückt sich darin auch ein Misstrauen gegenüber dem eigenen Verein aus?

Henkel: Vereine sind Arbeitgeber. Sie beschäftigen heutzutage im Regelfall Sportpsychologen, welche vorrangig die Aufgabe haben, die sportliche Leistungsfähigkeit zu steigern oder zu optimieren. Das liegt ja auch im Interesse des Spielers. Sportpsychologen haben auch ein gewisses Gespür dafür, wenn etwas mit Spielern nicht stimmt. Viele von den Sportpsychologen haben allerdings keine psychotherapeutische Ausbildung. Im Idealfall verfügen sie über ein Netzwerk mit psychiatrischer oder psychotherapeutischer Expertise, wohin sie einen Spieler weiterleiten können. Letztlich ist die Frage, ob man sich als Spieler mit einer Erkrankung, sei es eine körperliche oder psychische, an den Arbeitgeber wenden will oder nicht eher einen unabhängigen Arzt konsultiert, der unter Schweigepflicht steht, und sich dort behandeln lässt. Meiner Meinung nach ist unsere Gesellschaft noch nicht so weit, dass es jetzt völlig unproblematisch wäre, sich zu bestimmten psychischen Symptomen, zum Beispiel einer vermehrten Traurigkeit, Erschöpfung oder einer Depressivität, öffentlich oder gegenüber dem eigenen Arbeitgeber zu äußern.

DFB.de: Ist es für einen Profifußballer besonders schwer, eine Depression als eine psychische Erkrankung und nicht als persönliches Scheitern anzusehen?

Henkel: Zum einen kann es für Sportler überhaupt schwer sein, die Erkrankung als Depression zu erkennen. Viele Sportler klagen zunächst mal über körperliche Symptome wie Müdigkeit, Schlafstörungen oder Herzklopfen, die mit der Depression einhergehen. Und sie merken manchmal erst recht spät, dass die Probleme vielleicht psychisch mitbedingt sind. Denn durch intensive Trainingseinheiten kennen sie Schmerzen oder beispielweise das Gefühl von Schlafstörungen bei hohen Belastungen. Zum anderen wollen sich die Spieler selbst nicht eingestehen, dass sie Defizite haben. Für einen Profifußballer ist der Gedanke an Schwäche oft ein Tabu. Diese Einstellung wird vom leistungsorientierten Umfeld oft geteilt oder vorgelebt.

DFB.de: Woher kommt es, dass es bis heute von den meisten Menschen als Schwäche angesehen wird, wenn eine Person, sei es Spitzensportler oder "Normalo", öffentlich über ihre Depression spricht? Hat die Stiftung hier in diesen zehn Jahren noch nicht genug bewirkt?

Henkel: Na ja, aus der Stiftungsarbeit kann man ja nicht die gesamte Gesellschaft ändern. Ich glaube, es gibt heutzutage punktuell schon eine etwas größere Sensibilität. Allerdings erkenne ich nicht, dass diese flächendeckend weit verbreitet ist. Ganz wichtig scheint mir, dass der Allgemeinheit bewusst wird, dass ein Mensch üblicherweise nicht als Eigenschaft depressiv ist, sondern als Zustand eine Depression hat. Ein Mensch hat viele Facetten und kann auch depressive Symptome haben. Die Stimmung ist dann depressiv. Dies kann letztlich jeden von uns betreffen. Jemanden deswegen abzuwerten oder mentale Schwäche zu unterstellen, ist nicht korrekt.

DFB.de: Der Fall von Robert Enke hat im Fußball aktiven Menschen geschockt, an der Spitze wie an der Basis. Hat sich in den vergangenen zehn Jahren etwas im Spitzensport geändert? Oder kann es sein, dass der Druck - etwa durch die sozialen Medien - heute noch höher ist als 2009?

Henkel: Ich glaube, der Druck war damals ähnlich hoch. Die finanziellen Aspekte spielen hier jedoch auch eine Rolle, es steckt heute eben noch mehr Geld im Fußballgeschäft. Wir sehen es an den Ablösesummen. Vereine bezahlen sehr hohe Summen für Spieler und möchten auch aus wirtschaftlichen Gründen, dass diese die Leistung auf den Platz bringen. Und der Fußball insgesamt hat heute vielleicht eine noch höhere gesellschaftliche Bedeutung und mediale Präsenz. Die Medienvielfalt hat noch mal deutlich zugenommen.

DFB.de: Wie muss sich ein Verein aufstellen, um den eigenen Spielern im Bedarfsfall schnell und kompetent Hilfe anzubieten?

Henkel: Der Kontakt zu den Sportärzten spielt eine große Rolle, da sich die psychische Erkrankung, wie bereits erwähnt, oft anfangs in Form von körperlichen Symptomen äußert. Der Austausch zwischen Sportmedizinern, Sportärzten und den Psychiatern ist essenziell. Es wäre eine Idee, sich noch stärker mit sportpsychiatrischen Themen in der Ausbildung von Trainern zu engagieren, um mehr Sensibilisierung im System zu bewirken. Trainer und Betreuer haben eine sehr wichtige und verantwortungsvolle Funktion und sollten Spieler weiterleiten, wenn sie etwas von deren Erkrankungen merken, um dann im nächsten Schritt eine Behandlung zu ermöglichen.

DFB.de: Was können Profivereine und der DFB noch zusätzlich tun, um junge Spitzenfußballer zu schützen?

Henkel: Ich glaube, dass gerade der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenleistungssport eine kritische Phase ist. Wir haben häufiger Patienten aus dieser Altersgruppe, die mit einer sehr guten Leistung in der A-Junioren-Bundesliga spielen und plötzlich, wenn sie einen weiterführenden Verein suchen, nur schwer bei einem Ober- oder Regionalligisten landen. Die Sportler sind dann erst mal enttäuscht. Aufgrund räumlicher Distanz zur Familie fehlt dann auch diese Ressource. In dieser vulnerablen Phase (Phase der seelischen Verwundbarkeit; Anm. d. Red.) ist die Unterstützung und medizinisch-psychologische Begleitung durch die Nachwuchszentren besonders wichtig, um frühzeitig seelische Krisen erkennen und abfangen zu können.

DFB.de: Wie wirkt sich eine seelische Erkrankung wie eine Depression auf eine Profikarriere aus? Bedeutet sie das sofortige Aus?

Henkel: Das bedeutet keinesfalls das Aus, da eine Depression heilbar ist. Es gibt häufig Befürchtungen, dass bestimmte Medikamente zur Behandlung der Depression, wie Antidepressiva, entweder deutlich die Leistung beeinträchtigen würden oder dass sie abhängig machten und gar mit dem Antidopingregeln nicht vereinbar wären. Das stimmt für die meisten Antidepressiva nicht. Die Behandlung braucht Zeit, daher kann es dazu führen, dass sich der Spieler eine Auszeit nehmen muss. Es ist aber auch denkbar, dass ein Spieler bei etwas leichteren Formen der Depression in dieser Zeit weiterspielt und sich behandeln lässt.

DFB.de: Was raten Sie Menschen in einem normalen Umfeld außerhalb des Sports ohne Betreuer?

Henkel: Man sollte wachsam sein. Wenn man selbst Symptome entdeckt oder von Angehörigen auf solche hingewiesen wird, sollte man diese ernst nehmen und im nächsten Schritt professionelle Hilfe suchen. Wenn es zu stark ausgeprägten Symptomen bis hin zur Suizidalität kommt, dann ist es auch eine Notfallindikation, sich umgehend behandeln zu lassen.

DFB.de: Wie können Angehörige einen Erkrankten unterstützen?

Henkel: Es ist ganz wichtig, dass die Angehörigen derjenigen oder demjenigen weiter zur Seite stehen. Man sollte klar und deutlich darauf hinweisen, welche Behandlungsmaßnahmen es gibt. Das Bewusstsein ist gewachsen, aber wir alle können noch besser werden beim Umgang mit der Krankheit Depression.

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