Fußballentwickler Michael Nees: "So was benötigt Zeit"

Südafrika, Japan, Seychellen, Israel, Ruanda und jetzt Kosovo: Seit mehr als 20 Jahren treibt Michael Nees die Fußballentwicklung in den unterschiedlichsten Ländern voran. Im DFB.de-Interview spricht der 53-Jährige mit Mitarbeiterin Lisa Steffny über sein aktuelles Projekt im Kosovo, verrückte Tricks auf den Seychellen und den "DFB-Workshop für internationale Fachkräfte", an dem er am vergangenen Wochenende teilnahm.

DFB.de: Sie arbeiten bereits seit mehr als 20 Jahren im Bereich "Entwicklung im Sport". Wie kam es dazu?

Michael Nees: Ich war schon mit 19 Jahren Jugendtrainer und spielte bis zur Amateur-Oberliga. Von 1990 bis 1996 habe ich Sportwissenschaften und Ethnologie an der Universität Heidelberg studiert. Eigentlich hätte ich nur Sportwissenschaften studieren können, aber ich war schon immer von anderen Kulturen fasziniert und habe daher Ethnologie aus Interesse dazu gewählt. Nach meinem Studium bin ich für neun Monate in ein Austauschprojekt nach Südafrika gegangen. Für mich war es sozusagen der Abschluss meines Studiums und ich wollte, bevor ich ins Berufsleben einsteige, einfach noch mal etwas anderes machen. Dort habe ich Trainerausbildungslehrgänge geleitet, eine Frauenmannschaft trainiert, aber habe auch im Schulsport mitgewirkt. Nach den neun Monaten bin ich wieder nach Deutschland zurückgekehrt und habe als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Stuttgart angefangen. Allerdings nur kurz.

DFB.de: Warum?

Nees: Ein Freund hat mich recht schnell auf eine Stellenanzeige aufmerksam gemacht, bei der ein Trainer in Japan gesucht wurde. Dort habe ich mich beworben und wurde genommen. Meine Stelle an der Uni aufzugeben, war zwar durchaus ein Wagnis, es hat sich aber gelohnt. In Japan war ich von 1997 bis 2000 für die Fußballförderung sowohl im Junioren- als auch Seniorenbereich im Auftrag des japanischen Sportministeriums für den lokalen Fußballverband in der mit knapp einer Million Einwohner großen Stadt Kitakyushu tätig. Zudem trainierte ich dort zwei Drittligamannschaften.

DFB.de: War dies der Startschuss Ihrer internationalen Karriere?

Nees: Noch nicht ganz. Erst habe ich 2001 noch meinen Fußball-Lehrer gemacht und anschließend zweimal vom DFB den Lehrauftrag bekommen, frankophone A-Lizenz-Lehrgänge zu leiten. Der DFB hat solche fast 30 Jahre lang einmal jährlich in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt an der Sportschule Hennef angeboten. Zudem gab es auch anglophone Lehrgänge. Die Lehrgänge waren zwar keine offiziellen DFB-Lizenzen, aber äquivalente Kurse zu den damaligen DFB-Kursen. Die Teilnehmer*innen kamen aus der ganzen Welt. Die Kurse waren sehr beliebt und auch für alle Seiten gewinnbringend.

DFB.de: Danach folgten allerdings mehrere internationale Tätigkeiten.

Nees: Genau. Zunächst arbeitete ich als Nationaltrainer auf den Seychellen. Danach habe ich für den DFB und den Deutschen Olympischen Sportbund DOSB ein paar kleinere Projekte umgesetzt. Zudem war ich bei der WM 2006 als Betreuer der englischen Nationalmannschaft tätig, bevor ich wieder Nationaltrainer wurde, diesmal in Ruanda. Eine weitere sehr spannende Stelle war die des Director of Coaching in Südafrika. So hatte ich zum Beispiel auch die Gelegenheit, nach der Weltmeisterschaft 2006 auch den Confederations Cup 2009 und die WM 2010 hautnah in einer offiziellen Rolle zu erleben. Anschließend war ich in Israel Technischer Direktor und U 21-Nationaltrainer. Momentan bin ich Technischer Direktor im Kosovo.

DFB.de: Hatten Sie während Ihres Studiums gedacht, dass Ihr Leben so verlaufen wird?

Nees: Auf keinen Fall! So was kann man nicht planen. Stattdessen hat sich alles irgendwie ergeben. Ich bin auch immer an meinen Aufgaben gewachsen und es hat sich herumgesprochen, dass ich meine Arbeit gut mache. Ein bisschen habe ich auch vom guten Ruf des deutschen Fußballs profitiert, der im Ausland ein hohes Ansehen genießt. Ich habe aber bei allen meinen Stationen versucht zu vermeiden, dass die Einheimischen das Gefühl haben, dass ich ihnen deswegen überlegen bin. Stattdessen hatte ich immer einen großartigen Staff, bestehend aus Einheimischen, mit denen ich sehr respektvoll und eng zusammengearbeitet habe. Dabei habe ich auch sehr viel lernen können, und es haben sich tolle Freundschaften entwickelt.

DFB.de: Aus welchen Aufgaben besteht Ihre Tätigkeit aktuell?

Nees: Ich bin seit 2017 als Technischer Direktor für den kosovarischen Fußballverband tätig, und zwar im Rahmen der "Internationalen Sportförderung" im Auftrag des DOSB und des Auswärtigen Amts mit enger Unterstützung des DFB. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Projektträgern funktioniert sehr gut. Gemeinsam mit Gibraltar ist der Kosovo einer der jüngsten Verbände und nimmt seit 2017 uneingeschränkt am internationalen Spielbetrieb teil. Meine Aufgabe ist es, die Strukturen erstmal aufzubauen und zu professionalisieren. Für mich war und ist das eine ganz neue Aufgabe, da ich eine nationale Verbandsneugründung so auch noch nicht miterlebt habe.

DFB.de: Wo genau setzen Sie mit Ihrer Arbeit an?

Nees: Im Wesentlichen gibt es diverse Entwicklungsbereiche. Ein Hauptaugenmerk liegt aber sicherlich auf der Trainer*innenausbildung, die es im Kosovo bisher noch nicht gab. Mittlerweile haben wir zumindest die Stufen bis zur UEFA B-Lizenz etablieren können und etwa 450 Trainer*innen ausgebildet. Es ist für uns ein gutes Zeichen, dass sich momentan mehr Menschen für die Ausbildung bewerben als wir freie Plätze haben. Das nächste Ziel ist die Implementierung der A-Lizenz. Auch die Förderung des Breitensports liegt uns am Herzen. Wir wollen zudem besonders in die regionale Jugendförderung investieren und den Sport auch für Mädchen und Frauen interessanter machen. International verfolgen wir mit den Nationalmannschaften das Ziel, als ernstzunehmende Gegner, vor allem aber als faire Sportsmänner und -frauen, wahrgenommen zu werden. Es ist uns wichtig, dass die junge Nation sich mit ihren Mannschaften identifizieren kann und stolz auf sie ist. Gerade im Jugendbereich konnten wir schon erste Ausrufezeichen setzen. Wir sind für die meisten mittlerweile schon ein sehr unbequemer Gegner.

DFB.de: Welche Herausforderungen begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit?

Nees: Sehr verschiedene. Bei den U-Nationalmannschaften gab es zum Beispiel zu Beginn keine Teammanager und viele Spieler*innen hatten auch noch keine Pässe. Zudem wurden wir am Anfang sehr durch die Euphorie der internationalen Anerkennung getragen. Wir haben zwar auch sehr viele talentierte Spieler*innen, aber zuletzt waren auch teilweise Niederlagen dabei. Wir müssen nun Stabilität reinbringen. Und auch die Infrastruktur ist ein ganz großes Problem.

DFB.de: Kannten Sie dieses Problem bereits aus vorherigen Stationen?

Nees: Das kann man so sagen. Ruanda und Kosovo fallen hier noch mal weiter ab. Im Kosovo haben wir kein technisches Zentrum und die Verwaltung ist zu klein. Vor allem gibt es kaum Sportplätze, schon gar keine, die ausreichend groß sind. Auch Flutlichtanlagen sind Mangelware. In den vergangenen Jahren haben wir zwar große Fortschritte gemacht, aber so was benötigt Zeit. Sportplätze werden nicht von heute auf morgen gebaut, und zusätzlich braucht es Flutlichtanlagen, Umkleidekabinen, Sanitäranlagen und vieles mehr.

DFB.de: Gibt es bereits Fortschritte?

Nees: Durchaus. Gerade wird unser Verwaltungsgebäude modernisiert und ein kleines Trainingszentrum gebaut. In etwa einem Jahr haben wir dadurch noch mal ganz andere Voraussetzungen als bisher. Andere Länder hatten aber auch so ihre Tücken. In Japan haben damals alle Mannschaften, mit denen ich zu tun hatte, auf Sandplätzen gespielt. Und in Ruanda hatten wir mal mit der A-Nationalmannschaft einen Trainingsplatz, da bin ich mir bis heute sicher, dass es damals auf internationaler Ebene keinen schlechteren Platz auf der Welt gab. Da ist man bei jedem Schritt umgeknickt. Aber genau diese Herausforderungen machen mir Spaß, weil sie einen fordern, sich nicht ins gemachte Nest zu setzen, sondern mitanzupacken und etwas von Grund auf aufzubauen.

DFB.de: Die Corona-Krise macht Ihre Aufgabe sicherlich nicht leichter.

Nees: Das stimmt. Besonders in der Trainer*innenausbildung wurden wir sicherlich fast ein Jahr zurückgeworfen. Ohne Corona hätten wir jetzt schon die A-Lizenz etabliert. In den U-Nationalmannschaften geht mit Ausnahme der U 21 seit März dieses Jahres so gut wie nichts. Auch andere Angebote mussten wir ausfallen lassen. Das Ausrichten von Jugendturnieren zum Beispiel ist jetzt auch mit einem immensen Aufwand verbunden. Aber die Krise hatte auch Vorteile.

DFB.de: Zum Beispiel?

Nees: Als die Pandemie richtig ausbrach, befand ich mich auf einer Dienstreise und durfte nicht mehr in den Kosovo einreisen. Also musste ich das Projekt von Deutschland aus weiterbetreuen. Ich habe mich einen Monat lang intensiv mit digitalen Lern- und Kommunikationsmöglichkeiten auseinandergesetzt und mich mit dem DFB und DOSB beraten. Besonders "Edubreak" hatte es mir dabei angetan, weil man damit nicht nur vielfältig kommunizieren, sondern zum Beispiel auch Videoaufgaben bereitstellen und bearbeiten kann. Der DFB benutzt das Angebot auch für seinen Ausbildungsbereich. Mittlerweile konnten wir Edubreak auch im Kosovo erfolgreich etablieren und haben bereits drei Lehrgänge durchgeführt.

DFB.de: Am Wochenende haben Sie die Seiten gewechselt und nahmen als Teilnehmer an einem Edubreak-Workshop für internationale Fachkräfte teil.

Nees: Der Workshop hat mir sehr gut gefallen. Es war sehr beeindruckend, mit welch großartigen Beiträgen sich alle eingebracht haben. Ich bin auch ein großer Fan von heterogenen Gruppen, weil ich es immer sehr spannend finde, neue Blickwinkel kennenzulernen. Gerade, dass viele Teilnehmer*innen aus dem Bereich "Sport für Entwicklung" kamen, war für mich bereichernd.

DFB.de: Was konnten Sie für Ihre Arbeit mitnehmen?

Nees: Ich habe mich des Öfteren erwischt, wie ich durch den Input ins Nachdenken kam und mir direkt neue Ideen einfielen. Im Grunde unterscheidet sich unsere Arbeit nicht so sehr. Auch meine Aufgabe ist es, Werte zu vermitteln und Menschen zu begeistern. Zum Beispiel kann man bei der Trainer*innenausbildung auch wichtige Life-Skills erlernen. Unsere Ausbildung im Kosovo ist sehr anspruchsvoll, und nur wer wirklich etwas dafür tut, bekommt auch seine Lizenz. Deswegen sollte es auch unser Ziel sein, die Teilnehmer*innen nicht nur zu besseren Trainer*innen, sondern ein Stück weit vielleicht sogar zu besseren Menschen zu machen. Und da können wir viel voneinander abschauen. Deswegen fand ich es sehr gut, dass nicht zwischen den Projekten Sport für Entwicklung und Entwicklung im Sport unterschieden wurde.

DFB.de: Sie haben während Ihrer bisherigen Stationen unglaublich viel von der Welt gesehen. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Nees: Da gibt es so einiges. In vielen afrikanischen Ländern ist zum Beispiel die Lebens- und Spielfreude beeindruckend. Die Menschen gehen dort im Fußball komplett auf. In Japan hingegen war ich fasziniert, wie sehr sich dort in Aufgaben reingekniet wurde, selbst wenn diese gelegentlich nicht so aufregend waren. Im Kosovo schätze ich vor allem die Gastfreundlichkeit, aber es ist auch beeindruckend zu sehen, wie widerstandsfähig die Menschen sind und welches Potenzial generell in den Spieler*innen steckt. Da ist es egal, ob die Matratze vor dem Spiel bequem ist oder nicht. In Israel hatte ich als U 21-Nationaltrainer einige herausragende Nationalspieler, wie zum Beispiel Munas Dabbur, der jetzt bei der TSG Hoffenheim spielt, oder Taleb Tawatha, der bei Eintracht Frankfurt gespielt hat. Außerdem habe ich während meiner Zeit auch viele Tricks gesehen, die mich zum Staunen gebracht haben.

DFB.de: Gibt es da ein Beispiel?

Nees: Da muss ich direkt an meinen damaligen Torwart Nelson Sopha von den Seychellen denken. Bei einem WM-Qualifikationsspiel vor 30.000 Zuschauern in Zambia hat er beim Stand von 1:1 einen Schuss des gegnerischen Stürmers einen Meter vor der Torlinie mit der Brust angenommen, den Ball dann nochmals mit der Brust hochjongliert und ihn dann knapp vor der Torlinie auf dem Nacken balanciert. Das Stadion hat getobt. Ab dem Zeitpunkt hatten wir die Zuschauer voll auf unserer Seite und das Spiel endete auch 1:1. So etwas würde man in Deutschland niemals sehen.

DFB.de: Gibt es weitere besondere Erinnerungen, die Sie in den vergangenen Jahren berührt haben?

Nees: Unzählige, sodass es mir unmöglich ist, nur einen Moment herauszupicken. In jedem Land habe ich besondere Momente erlebt und ich würde meinen anderen Stationen nicht gerecht werden, wenn ich da einen auswähle. Alleine, wie herzlich ich in Israel aufgenommen wurde. Oder ein anderes Mal habe ich Kinder erlebt, die sich ein paar Fußballschuhe geteilt haben, damit jeder zumindest einen anhaben konnte. Bei unseren Trainingslagern mit der Nationalmannschaft in Ruanda war zudem immer ein einbeiniger Balljunge anwesend, der auf Holzkrücken gehen musste. Das hatte er so perfektioniert, wie ich es zuvor noch nicht gesehen habe. Sein Tempo war unfassbar und er war schneller als einige meiner Spieler. Ich könnte da ewig weiter erzählen.

DFB.de: Ihr aktuelles Projekt im Kosovo läuft demnächst aus. Wie geht es weiter?

Nees: Darüber gibt es bisher noch keine Klarheit und die Diskussionen laufen gerade. Besonders vor dem Hintergrund der Corona-Krise sollte die Situation noch mal neu bewertet werden. Es gilt zu bedenken: Der Verband ist noch sehr jung und gerade laufen einige kostenintensive infrastrukturelle Projekte. Zudem gab es die erste sportliche Delle und durch die Pandemie wurden wir vor allem in der Trainer*innenausbildung leider zurückgeworfen. Deswegen wäre es enorm wichtig, wenn das Projekt weiterlaufen würde.

DFB.de: Welche konkreten Ziele treiben Sie an?

Nees: Ich würde gerne die A-Lizenz etablieren und die Digitalisierung weiter vorantreiben, um die Trainer*innenausbildung krisenfest zu machen. Außerdem haben wir erst begonnen, Strukturen in der regionalen Jugendförderung zu etablieren, und in den U-Nationalmannschaften steht ein größerer Umbruch an. Im Kinderfußball wollten wir im März mit der Universität Heidelberg zusammenarbeiten und beginnen, die Heidelberger Ballschule zu etablieren. Das müssen wir wieder aufnehmen, sobald es möglich ist. Und ich kann zwar bereits auf ein gutes Team zurückgreifen, würde ihnen aber gerne noch eine Zeitlang beratend zur Seite stehen, bevor sie die verschiedenen Bereiche komplett selbstständig verantworten müssen.

DFB.de: Welche Ziele verfolgen Sie persönlich?

Nees: Im Fußball sind viele Dinge nur schwer planbar und man kann es sich häufig ja auch nicht aussuchen. Mir gefällt die Arbeit im Kosovo sehr gut. Wir haben eine tolle Arbeitsatmosphäre und ich komme mit den Menschen super zurecht, sodass ich gerne mit dem Verband den nächsten Schritt gehen würde. Langfristig kann ich mir aber auch vorstellen, wieder zurück nach Deutschland zu kommen oder vielleicht auch wieder in ein anderes Land zu gehen. Am Ende muss es die richtige Aufgabe für mich sein. Natürlich will man immer Erfolg haben, aber grundsätzlich ist es mir wichtig, meine Ideen realisieren zu können. Nur etwas zu machen, was andere schon vorher gemacht haben, fasziniert mich nicht und ich würde mich recht schnell langweilen. Der Fußball bietet aber auf allen Ebenen noch so viel Entwicklungspotenzial, dass die nächste spannende Aufgabe schon auf mich wartet.

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Südafrika, Japan, Seychellen, Israel, Ruanda und jetzt Kosovo: Seit mehr als 20 Jahren treibt Michael Nees die Fußballentwicklung in den unterschiedlichsten Ländern voran. Im DFB.de-Interview spricht der 53-Jährige mit Mitarbeiterin Lisa Steffny über sein aktuelles Projekt im Kosovo, verrückte Tricks auf den Seychellen und den "DFB-Workshop für internationale Fachkräfte", an dem er am vergangenen Wochenende teilnahm.

DFB.de: Sie arbeiten bereits seit mehr als 20 Jahren im Bereich "Entwicklung im Sport". Wie kam es dazu?

Michael Nees: Ich war schon mit 19 Jahren Jugendtrainer und spielte bis zur Amateur-Oberliga. Von 1990 bis 1996 habe ich Sportwissenschaften und Ethnologie an der Universität Heidelberg studiert. Eigentlich hätte ich nur Sportwissenschaften studieren können, aber ich war schon immer von anderen Kulturen fasziniert und habe daher Ethnologie aus Interesse dazu gewählt. Nach meinem Studium bin ich für neun Monate in ein Austauschprojekt nach Südafrika gegangen. Für mich war es sozusagen der Abschluss meines Studiums und ich wollte, bevor ich ins Berufsleben einsteige, einfach noch mal etwas anderes machen. Dort habe ich Trainerausbildungslehrgänge geleitet, eine Frauenmannschaft trainiert, aber habe auch im Schulsport mitgewirkt. Nach den neun Monaten bin ich wieder nach Deutschland zurückgekehrt und habe als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Stuttgart angefangen. Allerdings nur kurz.

DFB.de: Warum?

Nees: Ein Freund hat mich recht schnell auf eine Stellenanzeige aufmerksam gemacht, bei der ein Trainer in Japan gesucht wurde. Dort habe ich mich beworben und wurde genommen. Meine Stelle an der Uni aufzugeben, war zwar durchaus ein Wagnis, es hat sich aber gelohnt. In Japan war ich von 1997 bis 2000 für die Fußballförderung sowohl im Junioren- als auch Seniorenbereich im Auftrag des japanischen Sportministeriums für den lokalen Fußballverband in der mit knapp einer Million Einwohner großen Stadt Kitakyushu tätig. Zudem trainierte ich dort zwei Drittligamannschaften.

DFB.de: War dies der Startschuss Ihrer internationalen Karriere?

Nees: Noch nicht ganz. Erst habe ich 2001 noch meinen Fußball-Lehrer gemacht und anschließend zweimal vom DFB den Lehrauftrag bekommen, frankophone A-Lizenz-Lehrgänge zu leiten. Der DFB hat solche fast 30 Jahre lang einmal jährlich in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt an der Sportschule Hennef angeboten. Zudem gab es auch anglophone Lehrgänge. Die Lehrgänge waren zwar keine offiziellen DFB-Lizenzen, aber äquivalente Kurse zu den damaligen DFB-Kursen. Die Teilnehmer*innen kamen aus der ganzen Welt. Die Kurse waren sehr beliebt und auch für alle Seiten gewinnbringend.

DFB.de: Danach folgten allerdings mehrere internationale Tätigkeiten.

Nees: Genau. Zunächst arbeitete ich als Nationaltrainer auf den Seychellen. Danach habe ich für den DFB und den Deutschen Olympischen Sportbund DOSB ein paar kleinere Projekte umgesetzt. Zudem war ich bei der WM 2006 als Betreuer der englischen Nationalmannschaft tätig, bevor ich wieder Nationaltrainer wurde, diesmal in Ruanda. Eine weitere sehr spannende Stelle war die des Director of Coaching in Südafrika. So hatte ich zum Beispiel auch die Gelegenheit, nach der Weltmeisterschaft 2006 auch den Confederations Cup 2009 und die WM 2010 hautnah in einer offiziellen Rolle zu erleben. Anschließend war ich in Israel Technischer Direktor und U 21-Nationaltrainer. Momentan bin ich Technischer Direktor im Kosovo.

DFB.de: Hatten Sie während Ihres Studiums gedacht, dass Ihr Leben so verlaufen wird?

Nees: Auf keinen Fall! So was kann man nicht planen. Stattdessen hat sich alles irgendwie ergeben. Ich bin auch immer an meinen Aufgaben gewachsen und es hat sich herumgesprochen, dass ich meine Arbeit gut mache. Ein bisschen habe ich auch vom guten Ruf des deutschen Fußballs profitiert, der im Ausland ein hohes Ansehen genießt. Ich habe aber bei allen meinen Stationen versucht zu vermeiden, dass die Einheimischen das Gefühl haben, dass ich ihnen deswegen überlegen bin. Stattdessen hatte ich immer einen großartigen Staff, bestehend aus Einheimischen, mit denen ich sehr respektvoll und eng zusammengearbeitet habe. Dabei habe ich auch sehr viel lernen können, und es haben sich tolle Freundschaften entwickelt.

DFB.de: Aus welchen Aufgaben besteht Ihre Tätigkeit aktuell?

Nees: Ich bin seit 2017 als Technischer Direktor für den kosovarischen Fußballverband tätig, und zwar im Rahmen der "Internationalen Sportförderung" im Auftrag des DOSB und des Auswärtigen Amts mit enger Unterstützung des DFB. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Projektträgern funktioniert sehr gut. Gemeinsam mit Gibraltar ist der Kosovo einer der jüngsten Verbände und nimmt seit 2017 uneingeschränkt am internationalen Spielbetrieb teil. Meine Aufgabe ist es, die Strukturen erstmal aufzubauen und zu professionalisieren. Für mich war und ist das eine ganz neue Aufgabe, da ich eine nationale Verbandsneugründung so auch noch nicht miterlebt habe.

DFB.de: Wo genau setzen Sie mit Ihrer Arbeit an?

Nees: Im Wesentlichen gibt es diverse Entwicklungsbereiche. Ein Hauptaugenmerk liegt aber sicherlich auf der Trainer*innenausbildung, die es im Kosovo bisher noch nicht gab. Mittlerweile haben wir zumindest die Stufen bis zur UEFA B-Lizenz etablieren können und etwa 450 Trainer*innen ausgebildet. Es ist für uns ein gutes Zeichen, dass sich momentan mehr Menschen für die Ausbildung bewerben als wir freie Plätze haben. Das nächste Ziel ist die Implementierung der A-Lizenz. Auch die Förderung des Breitensports liegt uns am Herzen. Wir wollen zudem besonders in die regionale Jugendförderung investieren und den Sport auch für Mädchen und Frauen interessanter machen. International verfolgen wir mit den Nationalmannschaften das Ziel, als ernstzunehmende Gegner, vor allem aber als faire Sportsmänner und -frauen, wahrgenommen zu werden. Es ist uns wichtig, dass die junge Nation sich mit ihren Mannschaften identifizieren kann und stolz auf sie ist. Gerade im Jugendbereich konnten wir schon erste Ausrufezeichen setzen. Wir sind für die meisten mittlerweile schon ein sehr unbequemer Gegner.

DFB.de: Welche Herausforderungen begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit?

Nees: Sehr verschiedene. Bei den U-Nationalmannschaften gab es zum Beispiel zu Beginn keine Teammanager und viele Spieler*innen hatten auch noch keine Pässe. Zudem wurden wir am Anfang sehr durch die Euphorie der internationalen Anerkennung getragen. Wir haben zwar auch sehr viele talentierte Spieler*innen, aber zuletzt waren auch teilweise Niederlagen dabei. Wir müssen nun Stabilität reinbringen. Und auch die Infrastruktur ist ein ganz großes Problem.

DFB.de: Kannten Sie dieses Problem bereits aus vorherigen Stationen?

Nees: Das kann man so sagen. Ruanda und Kosovo fallen hier noch mal weiter ab. Im Kosovo haben wir kein technisches Zentrum und die Verwaltung ist zu klein. Vor allem gibt es kaum Sportplätze, schon gar keine, die ausreichend groß sind. Auch Flutlichtanlagen sind Mangelware. In den vergangenen Jahren haben wir zwar große Fortschritte gemacht, aber so was benötigt Zeit. Sportplätze werden nicht von heute auf morgen gebaut, und zusätzlich braucht es Flutlichtanlagen, Umkleidekabinen, Sanitäranlagen und vieles mehr.

DFB.de: Gibt es bereits Fortschritte?

Nees: Durchaus. Gerade wird unser Verwaltungsgebäude modernisiert und ein kleines Trainingszentrum gebaut. In etwa einem Jahr haben wir dadurch noch mal ganz andere Voraussetzungen als bisher. Andere Länder hatten aber auch so ihre Tücken. In Japan haben damals alle Mannschaften, mit denen ich zu tun hatte, auf Sandplätzen gespielt. Und in Ruanda hatten wir mal mit der A-Nationalmannschaft einen Trainingsplatz, da bin ich mir bis heute sicher, dass es damals auf internationaler Ebene keinen schlechteren Platz auf der Welt gab. Da ist man bei jedem Schritt umgeknickt. Aber genau diese Herausforderungen machen mir Spaß, weil sie einen fordern, sich nicht ins gemachte Nest zu setzen, sondern mitanzupacken und etwas von Grund auf aufzubauen.

DFB.de: Die Corona-Krise macht Ihre Aufgabe sicherlich nicht leichter.

Nees: Das stimmt. Besonders in der Trainer*innenausbildung wurden wir sicherlich fast ein Jahr zurückgeworfen. Ohne Corona hätten wir jetzt schon die A-Lizenz etabliert. In den U-Nationalmannschaften geht mit Ausnahme der U 21 seit März dieses Jahres so gut wie nichts. Auch andere Angebote mussten wir ausfallen lassen. Das Ausrichten von Jugendturnieren zum Beispiel ist jetzt auch mit einem immensen Aufwand verbunden. Aber die Krise hatte auch Vorteile.

DFB.de: Zum Beispiel?

Nees: Als die Pandemie richtig ausbrach, befand ich mich auf einer Dienstreise und durfte nicht mehr in den Kosovo einreisen. Also musste ich das Projekt von Deutschland aus weiterbetreuen. Ich habe mich einen Monat lang intensiv mit digitalen Lern- und Kommunikationsmöglichkeiten auseinandergesetzt und mich mit dem DFB und DOSB beraten. Besonders "Edubreak" hatte es mir dabei angetan, weil man damit nicht nur vielfältig kommunizieren, sondern zum Beispiel auch Videoaufgaben bereitstellen und bearbeiten kann. Der DFB benutzt das Angebot auch für seinen Ausbildungsbereich. Mittlerweile konnten wir Edubreak auch im Kosovo erfolgreich etablieren und haben bereits drei Lehrgänge durchgeführt.

DFB.de: Am Wochenende haben Sie die Seiten gewechselt und nahmen als Teilnehmer an einem Edubreak-Workshop für internationale Fachkräfte teil.

Nees: Der Workshop hat mir sehr gut gefallen. Es war sehr beeindruckend, mit welch großartigen Beiträgen sich alle eingebracht haben. Ich bin auch ein großer Fan von heterogenen Gruppen, weil ich es immer sehr spannend finde, neue Blickwinkel kennenzulernen. Gerade, dass viele Teilnehmer*innen aus dem Bereich "Sport für Entwicklung" kamen, war für mich bereichernd.

DFB.de: Was konnten Sie für Ihre Arbeit mitnehmen?

Nees: Ich habe mich des Öfteren erwischt, wie ich durch den Input ins Nachdenken kam und mir direkt neue Ideen einfielen. Im Grunde unterscheidet sich unsere Arbeit nicht so sehr. Auch meine Aufgabe ist es, Werte zu vermitteln und Menschen zu begeistern. Zum Beispiel kann man bei der Trainer*innenausbildung auch wichtige Life-Skills erlernen. Unsere Ausbildung im Kosovo ist sehr anspruchsvoll, und nur wer wirklich etwas dafür tut, bekommt auch seine Lizenz. Deswegen sollte es auch unser Ziel sein, die Teilnehmer*innen nicht nur zu besseren Trainer*innen, sondern ein Stück weit vielleicht sogar zu besseren Menschen zu machen. Und da können wir viel voneinander abschauen. Deswegen fand ich es sehr gut, dass nicht zwischen den Projekten Sport für Entwicklung und Entwicklung im Sport unterschieden wurde.

DFB.de: Sie haben während Ihrer bisherigen Stationen unglaublich viel von der Welt gesehen. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Nees: Da gibt es so einiges. In vielen afrikanischen Ländern ist zum Beispiel die Lebens- und Spielfreude beeindruckend. Die Menschen gehen dort im Fußball komplett auf. In Japan hingegen war ich fasziniert, wie sehr sich dort in Aufgaben reingekniet wurde, selbst wenn diese gelegentlich nicht so aufregend waren. Im Kosovo schätze ich vor allem die Gastfreundlichkeit, aber es ist auch beeindruckend zu sehen, wie widerstandsfähig die Menschen sind und welches Potenzial generell in den Spieler*innen steckt. Da ist es egal, ob die Matratze vor dem Spiel bequem ist oder nicht. In Israel hatte ich als U 21-Nationaltrainer einige herausragende Nationalspieler, wie zum Beispiel Munas Dabbur, der jetzt bei der TSG Hoffenheim spielt, oder Taleb Tawatha, der bei Eintracht Frankfurt gespielt hat. Außerdem habe ich während meiner Zeit auch viele Tricks gesehen, die mich zum Staunen gebracht haben.

DFB.de: Gibt es da ein Beispiel?

Nees: Da muss ich direkt an meinen damaligen Torwart Nelson Sopha von den Seychellen denken. Bei einem WM-Qualifikationsspiel vor 30.000 Zuschauern in Zambia hat er beim Stand von 1:1 einen Schuss des gegnerischen Stürmers einen Meter vor der Torlinie mit der Brust angenommen, den Ball dann nochmals mit der Brust hochjongliert und ihn dann knapp vor der Torlinie auf dem Nacken balanciert. Das Stadion hat getobt. Ab dem Zeitpunkt hatten wir die Zuschauer voll auf unserer Seite und das Spiel endete auch 1:1. So etwas würde man in Deutschland niemals sehen.

DFB.de: Gibt es weitere besondere Erinnerungen, die Sie in den vergangenen Jahren berührt haben?

Nees: Unzählige, sodass es mir unmöglich ist, nur einen Moment herauszupicken. In jedem Land habe ich besondere Momente erlebt und ich würde meinen anderen Stationen nicht gerecht werden, wenn ich da einen auswähle. Alleine, wie herzlich ich in Israel aufgenommen wurde. Oder ein anderes Mal habe ich Kinder erlebt, die sich ein paar Fußballschuhe geteilt haben, damit jeder zumindest einen anhaben konnte. Bei unseren Trainingslagern mit der Nationalmannschaft in Ruanda war zudem immer ein einbeiniger Balljunge anwesend, der auf Holzkrücken gehen musste. Das hatte er so perfektioniert, wie ich es zuvor noch nicht gesehen habe. Sein Tempo war unfassbar und er war schneller als einige meiner Spieler. Ich könnte da ewig weiter erzählen.

DFB.de: Ihr aktuelles Projekt im Kosovo läuft demnächst aus. Wie geht es weiter?

Nees: Darüber gibt es bisher noch keine Klarheit und die Diskussionen laufen gerade. Besonders vor dem Hintergrund der Corona-Krise sollte die Situation noch mal neu bewertet werden. Es gilt zu bedenken: Der Verband ist noch sehr jung und gerade laufen einige kostenintensive infrastrukturelle Projekte. Zudem gab es die erste sportliche Delle und durch die Pandemie wurden wir vor allem in der Trainer*innenausbildung leider zurückgeworfen. Deswegen wäre es enorm wichtig, wenn das Projekt weiterlaufen würde.

DFB.de: Welche konkreten Ziele treiben Sie an?

Nees: Ich würde gerne die A-Lizenz etablieren und die Digitalisierung weiter vorantreiben, um die Trainer*innenausbildung krisenfest zu machen. Außerdem haben wir erst begonnen, Strukturen in der regionalen Jugendförderung zu etablieren, und in den U-Nationalmannschaften steht ein größerer Umbruch an. Im Kinderfußball wollten wir im März mit der Universität Heidelberg zusammenarbeiten und beginnen, die Heidelberger Ballschule zu etablieren. Das müssen wir wieder aufnehmen, sobald es möglich ist. Und ich kann zwar bereits auf ein gutes Team zurückgreifen, würde ihnen aber gerne noch eine Zeitlang beratend zur Seite stehen, bevor sie die verschiedenen Bereiche komplett selbstständig verantworten müssen.

DFB.de: Welche Ziele verfolgen Sie persönlich?

Nees: Im Fußball sind viele Dinge nur schwer planbar und man kann es sich häufig ja auch nicht aussuchen. Mir gefällt die Arbeit im Kosovo sehr gut. Wir haben eine tolle Arbeitsatmosphäre und ich komme mit den Menschen super zurecht, sodass ich gerne mit dem Verband den nächsten Schritt gehen würde. Langfristig kann ich mir aber auch vorstellen, wieder zurück nach Deutschland zu kommen oder vielleicht auch wieder in ein anderes Land zu gehen. Am Ende muss es die richtige Aufgabe für mich sein. Natürlich will man immer Erfolg haben, aber grundsätzlich ist es mir wichtig, meine Ideen realisieren zu können. Nur etwas zu machen, was andere schon vorher gemacht haben, fasziniert mich nicht und ich würde mich recht schnell langweilen. Der Fußball bietet aber auf allen Ebenen noch so viel Entwicklungspotenzial, dass die nächste spannende Aufgabe schon auf mich wartet.

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