Frankreich-Historie: "Der schwarze Tag von Paris"

Als es vorbei war, zog Sepp Herberger seinen letzten Joker. "Was ist, Männer? Wollt ihr nicht singen?" fragte der Bundestrainer die zu Tode betrübten deutschen Nationalspieler im Bus auf der Rückfahrt von einem historischen Tiefschlag. Das 1:3 am 5. Oktober 1952, das erste Länderspiel nach dem Krieg gegen Frankreich, war kein Spiel wie jedes andere. Vorher nicht, wegen der politischen Dimension, die offene Saar-Frage belastete die Aussöhnung der einstigen Kriegsgegner - und nachher nicht. Wegen der sportlichen Dimension.

Fortan sprach man lange vom "schwarzen Tag von Paris". Das Sport Magazin eröffnete im März 1954 seine Reihe über epochale Sportereignisse mit diesem Spiel. Unter dem Titel "Wendepunkt Paris" reflektierte Hans Körfer, der seit 1950 Spielausschuss-Vorsitzender des DFB war, die Bedeutung dieser 90 Minuten im "Stade Colombes". Seine wesentlichste Erkenntnis: "Der schwarze Tag von Paris wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Ära im deutschen Fußballsport". Er schrieb dies, wohlgemerkt, vier Monate vor dem "Wunder von Bern", das sich damals nicht mal erahnen ließ.

Aber die Mannschaft blieb in den nächsten zehn Spielen nach Paris ungeschlagen. Der Stachel der schmählichen Leistung, die das Resultat nur unvollkommen ausdrückt, trieb sie zu Höchstleistungen. Fritz Walter sagte zwei Monate später nach einem beachtlichen 2:2 in Madrid gegn Spanien zu Körfer: "Schließlich mussten wir das Vertrauen, das der DFB und vor allem Herberger trotz Paris in uns setzten, in irgendeiner Form rechtfertigen. Ich glaube, es ist uns gelungen."

Länderspiel "unter einem ungünstigen Stern"

Was eigentlich geschah in Paris, wo die Deutschen erstmal seit 17 Jahren wieder ein Spiel bestritten? Herberger plagten vor der Partie große Personalsorgen, laut Körfer "hat noch kein deutsches Länderspiel unter so einem ungünstigen Stern gestanden." Gute Abwehrspieler waren seinerzeit selten im deutschen Fußball, man brauchte ja nur drei im damaligen System. Und mit Werner Kohlmeyer (FCK) und Jackl Streitle (FC Bayern) fielen gerade die beiden Besten aus.

So kam der Düsseldorfer Kurt Borkenhagen im Alter von 32 Jahren zu seinem Länderspieldebüt, FCK-Stopper Werner Liebrich und Essens Rechtsaußen Clemens Wientjens trugen den DFB-Adler erst zum zweiten Mal. Obwohl reichlich unerfahren auf Länderspiel-Bühne, war die Mannschaft alles andere als jung - der Altersschnitt betrug 28,36 Jahre. Der Schnitt der frischen Franzosen lag dagegen bei 24,45. Für Herberger spielte das keine Rolle, er sagte nach dem Spiel dass gegen diese Franzosen "auf dem ganzen Kontinent kein Kraut gewachsen ist".

Der Auftakt ließ bereits keine Zweifel darüber, welche Richtung das Spiel nehmen würde. Schon nach gut drei Minuten führten die Franzosen vor 60.000 Zuschauern, nach Tureks Parade prallte der Ball zu Ujlaki und von dort geradezu gemütlich über die Linie, vergeblich hasteten Borkenhagen und Retter hinterher. "Auf solche dumme Art Tore zu bekommen, tut weh", notierte Fritz Walter in seinen Erinnerungen. "Da ist doch ein Mordsschuß, der zwischen die Pfosten rauscht, was anderes."

Aber das "Krümel-Tor" passte zu diesem gebrauchten Tag. Der trotzdem eine Wende zum Guten zu nehmen schien, als Ottmar Walter in der 16. Minute bereits ausglich. Und "es waren nicht nur die 8000 deutschen Schlachtenbummler, die den prächtigen Treffer mit Beifall zur Kenntnis nahmen" (Fritz Walter in Spiele, die ich nie vergesse).

Deutsche waren wieder willkommen - jedenfalls als Fußballspieler

Das war überhaupt die erfreuliche, im Nachhinein wichtigere Lehre von Paris: Die Deutschen waren wieder willkommen, jedenfalls als Fußballspieler. Es war kein Tag der Ressentiments, wie auch das Sport Magazin am nächsten Tag festhielt: "Die deutsche Elf hätte in keinem deutschen Stadion würdiger gefeiert werden können als diesmal in Paris. Der spontane, kaum zu überbietende Applaus am Schluß des Spiels beschämt alle die Pessimisten, die gar eine politische Gegendemonstration erwartet hatten." Das mag den DFB-Spielern in dem Moment etwas komisch vorgekommen sein, sie selbst fanden kaum, dass sie Beifall verdient hatten.

Wenn die Tore, die die Niederlage besiegelten, auch erst spät fielen - durch Cissowski (81.) und Strappe (89.) -, standen sie doch vor einem Debakel. "Es war, sagen wir es doch, ein Kesseltreiben gegen die deutsche Elf wie nie zuvor", schrieb das Sport Magazin. Toni Turek, einer von sechs kommenden Weltmeistern auf dem Feld, verhinderte dabei noch Schlimmeres.

Das Schlimmste verhinderte Herberger nach dem Spiel. Fritz Walter, sein Kapitän, war dermaßen deprimiert, dass er dem Bundestrainer auf der Rückfahrt im Schlafwagen den Rücktritt ankündigte. Der Bundes-Sepp protestierte: "Machen Sie sich doch nicht verrückt!" Aber Fritz blieb hart - vorläufig. "Trotzdem bitte ich Sie, in Zukunft keine Rücksicht mehr auf mich zu nehmen", sagte er. "Sie wollen das Beste für den deutschen Fußball, aber ich will es auch."

Fritz Walter tritt doch nicht zurück

Was das Beste für den deutschen Fußball war, sah man dann zwei Jahre später in Bern. Schon kurz nach Paris hatte der Fritz wieder Lust auf Fußball, der zumindest im Dress des FCK auch im Herbst 1952 Spaß gemacht hatte. Aber auch das dauerte etwas, die teils hämische Kritik über "den Wäschereibesitzer Fritz Walter" tat ihr Übriges. "Er gehört nicht mehr in die deutsche Elf, seine Zeit ist vorbei", musste er lesen.

"Acht Tage sperrte er sich ein", erinnerte sich sein Bruder Ottmar an jene Oktober-Tage. "Die Rolläden blieben verschlossen. Am Sonntag holten wir ihn und besiegten Wormatia Worms mit 10:2." Da war er wieder, der Alte Fritz.

Und der große Sepp Herberger sollte wieder mal Recht bekommen, als er Hans Körfer am Bahnhof nach der Ankunft in Frankfurt versprach: "Hans Körfer, seien Sie überzeugt, unsere Leute brennen heute schon, das gutzumachen. Unsere nächsten Länderspiele werden es zeigen."

[um]

[bild1]

Als es vorbei war, zog Sepp Herberger seinen letzten Joker. "Was ist, Männer? Wollt ihr nicht singen?" fragte der Bundestrainer die zu Tode betrübten deutschen Nationalspieler im Bus auf der Rückfahrt von einem historischen Tiefschlag. Das 1:3 am 5. Oktober 1952, das erste Länderspiel nach dem Krieg gegen Frankreich, war kein Spiel wie jedes andere. Vorher nicht, wegen der politischen Dimension, die offene Saar-Frage belastete die Aussöhnung der einstigen Kriegsgegner - und nachher nicht. Wegen der sportlichen Dimension.

Fortan sprach man lange vom "schwarzen Tag von Paris". Das Sport Magazin eröffnete im März 1954 seine Reihe über epochale Sportereignisse mit diesem Spiel. Unter dem Titel "Wendepunkt Paris" reflektierte Hans Körfer, der seit 1950 Spielausschuss-Vorsitzender des DFB war, die Bedeutung dieser 90 Minuten im "Stade Colombes". Seine wesentlichste Erkenntnis: "Der schwarze Tag von Paris wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Ära im deutschen Fußballsport". Er schrieb dies, wohlgemerkt, vier Monate vor dem "Wunder von Bern", das sich damals nicht mal erahnen ließ.

Aber die Mannschaft blieb in den nächsten zehn Spielen nach Paris ungeschlagen. Der Stachel der schmählichen Leistung, die das Resultat nur unvollkommen ausdrückt, trieb sie zu Höchstleistungen. Fritz Walter sagte zwei Monate später nach einem beachtlichen 2:2 in Madrid gegn Spanien zu Körfer: "Schließlich mussten wir das Vertrauen, das der DFB und vor allem Herberger trotz Paris in uns setzten, in irgendeiner Form rechtfertigen. Ich glaube, es ist uns gelungen."

Länderspiel "unter einem ungünstigen Stern"

Was eigentlich geschah in Paris, wo die Deutschen erstmal seit 17 Jahren wieder ein Spiel bestritten? Herberger plagten vor der Partie große Personalsorgen, laut Körfer "hat noch kein deutsches Länderspiel unter so einem ungünstigen Stern gestanden." Gute Abwehrspieler waren seinerzeit selten im deutschen Fußball, man brauchte ja nur drei im damaligen System. Und mit Werner Kohlmeyer (FCK) und Jackl Streitle (FC Bayern) fielen gerade die beiden Besten aus.

So kam der Düsseldorfer Kurt Borkenhagen im Alter von 32 Jahren zu seinem Länderspieldebüt, FCK-Stopper Werner Liebrich und Essens Rechtsaußen Clemens Wientjens trugen den DFB-Adler erst zum zweiten Mal. Obwohl reichlich unerfahren auf Länderspiel-Bühne, war die Mannschaft alles andere als jung - der Altersschnitt betrug 28,36 Jahre. Der Schnitt der frischen Franzosen lag dagegen bei 24,45. Für Herberger spielte das keine Rolle, er sagte nach dem Spiel dass gegen diese Franzosen "auf dem ganzen Kontinent kein Kraut gewachsen ist".

Der Auftakt ließ bereits keine Zweifel darüber, welche Richtung das Spiel nehmen würde. Schon nach gut drei Minuten führten die Franzosen vor 60.000 Zuschauern, nach Tureks Parade prallte der Ball zu Ujlaki und von dort geradezu gemütlich über die Linie, vergeblich hasteten Borkenhagen und Retter hinterher. "Auf solche dumme Art Tore zu bekommen, tut weh", notierte Fritz Walter in seinen Erinnerungen. "Da ist doch ein Mordsschuß, der zwischen die Pfosten rauscht, was anderes."

Aber das "Krümel-Tor" passte zu diesem gebrauchten Tag. Der trotzdem eine Wende zum Guten zu nehmen schien, als Ottmar Walter in der 16. Minute bereits ausglich. Und "es waren nicht nur die 8000 deutschen Schlachtenbummler, die den prächtigen Treffer mit Beifall zur Kenntnis nahmen" (Fritz Walter in Spiele, die ich nie vergesse).

Deutsche waren wieder willkommen - jedenfalls als Fußballspieler

Das war überhaupt die erfreuliche, im Nachhinein wichtigere Lehre von Paris: Die Deutschen waren wieder willkommen, jedenfalls als Fußballspieler. Es war kein Tag der Ressentiments, wie auch das Sport Magazin am nächsten Tag festhielt: "Die deutsche Elf hätte in keinem deutschen Stadion würdiger gefeiert werden können als diesmal in Paris. Der spontane, kaum zu überbietende Applaus am Schluß des Spiels beschämt alle die Pessimisten, die gar eine politische Gegendemonstration erwartet hatten." Das mag den DFB-Spielern in dem Moment etwas komisch vorgekommen sein, sie selbst fanden kaum, dass sie Beifall verdient hatten.

Wenn die Tore, die die Niederlage besiegelten, auch erst spät fielen - durch Cissowski (81.) und Strappe (89.) -, standen sie doch vor einem Debakel. "Es war, sagen wir es doch, ein Kesseltreiben gegen die deutsche Elf wie nie zuvor", schrieb das Sport Magazin. Toni Turek, einer von sechs kommenden Weltmeistern auf dem Feld, verhinderte dabei noch Schlimmeres.

Das Schlimmste verhinderte Herberger nach dem Spiel. Fritz Walter, sein Kapitän, war dermaßen deprimiert, dass er dem Bundestrainer auf der Rückfahrt im Schlafwagen den Rücktritt ankündigte. Der Bundes-Sepp protestierte: "Machen Sie sich doch nicht verrückt!" Aber Fritz blieb hart - vorläufig. "Trotzdem bitte ich Sie, in Zukunft keine Rücksicht mehr auf mich zu nehmen", sagte er. "Sie wollen das Beste für den deutschen Fußball, aber ich will es auch."

Fritz Walter tritt doch nicht zurück

Was das Beste für den deutschen Fußball war, sah man dann zwei Jahre später in Bern. Schon kurz nach Paris hatte der Fritz wieder Lust auf Fußball, der zumindest im Dress des FCK auch im Herbst 1952 Spaß gemacht hatte. Aber auch das dauerte etwas, die teils hämische Kritik über "den Wäschereibesitzer Fritz Walter" tat ihr Übriges. "Er gehört nicht mehr in die deutsche Elf, seine Zeit ist vorbei", musste er lesen.

"Acht Tage sperrte er sich ein", erinnerte sich sein Bruder Ottmar an jene Oktober-Tage. "Die Rolläden blieben verschlossen. Am Sonntag holten wir ihn und besiegten Wormatia Worms mit 10:2." Da war er wieder, der Alte Fritz.

Und der große Sepp Herberger sollte wieder mal Recht bekommen, als er Hans Körfer am Bahnhof nach der Ankunft in Frankfurt versprach: "Hans Körfer, seien Sie überzeugt, unsere Leute brennen heute schon, das gutzumachen. Unsere nächsten Länderspiele werden es zeigen."