Finalniederlage gegen Brasilien 2002: Drama um "Titan" Kahn

Kahn: "Ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht"

Stimmen zum Spiel:

Rudi Völler: "Wenn man ein Endspiel verliert, ist natürlich die Enttäuschung groß. Auch wenn man gegen so ein Klasseteam wie gegen Brasilien verliert, was ja keine Schande ist, ist das trotzdem bitter. Uns ist aber bewusst, dass wir etwas erreicht haben, mit dem keiner gerechnet hatte. Wir haben uns während der ersten halben Stunde der ersten Halbzeit und auch wieder zu Beginn der zweiten Halbzeit - was die Taktik, die Laufbereitschaft und das Spielerische betraf - recht geschickt präsentiert. Wir konnten uns zwar keine Riesenchancen erarbeiten, aber die Brasilianer in diesen Phasen auch nicht. Wenn man alle sieben Spiele zusammennimmt, waren sie aber die Besten."

Oliver Kahn: "Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Und der ist brutal bestraft worden. So einen Ball muss man festhalten. Da gibt es keinen Trost."

Dietmar Hamann (zum 0:1): "Ich habe zuvor den entscheidenden Zweikampf verloren, ich nehme das Tor auf meine Kappe."

Bernd Schneider: "Wir haben heute zu gut gespielt und kein Tor geschossen. Außerdem hat uns das Quäntchen Glück gefehlt, das wir in den anderen Spielen hatten."

Marco Bode: "In der ersten Halbzeit haben wir über weite Strecken das Spiel bestimmt. Wir haben nur versäumt, ein Tor zu machen. Ich denke, damit hätten wir die Brasilianer beeindruckt."

Christoph Metzelder: "Glückwunsch an die Brasilianer. Wir hatten sie am Rande einer Niederlage, es hat nicht sollen sein."

Johannes Rau (Bundespräsident): "Das war ein großartiges Spiel. Unsere Mannschaft hat toll gekämpft und ihr bestes Spiel während dieser WM gezeigt. Sie kann stolz auf sich sein."

Felipe Scolari (Trainer Brasiliens): "Wir hatten die positive Energie und den Siegeswillen, den man in einem Finale braucht. Die Deutschen haben gespielt, wie wir es erwartet hatten. Der Unterschied zwischen beiden Teams liegt in der individuellen Klasse der Spieler. Da haben wir Vorteile und deshalb verdient gewonnen."

Ronaldo (Brasilien): "Ich habe zweieinhalb Jahre damit verbracht, wieder gesund zu werden. Dieser WM-Sieg ist tausendmal schöner als Sex. Denn er ist etwas Einmaliges."

"Es hat nicht ganz gereicht für Deutschland. Brasilien gewann als einzige Mannschaft seine sieben WM-Spiele, dabei das letzte und wichtigste vollauf verdient. Dennoch: Dieses deutsche Team hat sich vor allem in den beiden letzten Spielen Weltgeltung verschafft und sich damit für manche Schmach der Vergangenheit rehabilitiert." (Kicker)

"Wir waren so nah dran (...) Deutschland und Brasilien: Es lagen keine Welten zwischen unseren Herzens-Fußballern und den Samba-Tänzern. Was uns trennte beim 0:2, waren nur ein paar unglückliche Momente für uns. Es war der K.o.-Schlag nach Kahns Fehlgriff - und es war Ronaldo!" (Bild)

"Brasilien ist Weltmeister - aber wir müssen nicht weinen. Großartig Jungs! Ihr seid Vizeweltmeister, ihr seid Helden!" (BZ Berlin)

"Es war der Sieg der brasilianischen Schule, der Schule der Technik, des Talents und der Kreativität über die Schule der steifen Hüfte, des Kampfes mit dem Ball und der physischen Kraft, ohne Zweifel die Schule des Mannschaftsspiels, aber ohne eine einzige Spur von Begabung." (O'Globo/ Brasilien)

"Brasiliens Trainer Scolari hat das stärkste Königreich wieder aufgebaut. Kahn hat verloren. 2006 wird Deutschland ganz oben stehen." (Sports Hochi/ Japan)

"Kahn, der beste Torwart der Welt, servierte den Brasilianern das Finale auf dem silbernen Tablett. Die Deutschen verloren ihr bestes Spiel während des gesamten Turniers." (Marca/ Spanien)

"Deutschland biss ins Gras, weil Kahn, der Schreckliche, auch nur ein Mensch ist." (AS/Spanien)

"Unser Mitleid gilt dem deutschen Fußball, der nach einer couragierten Leistung verloren hat. Brasilien erleuchtet die Welt." (Daily Telegraph/England)

"Deutschland spielt besser, aber Brasilien behält dank seiner Champions die Oberhand." (Gazetta dello Sport/ Italien)

"Das Finale war die attraktivste Schlußgala seit 1982." (Trouw/Niederlande)

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Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juni 2002 in Yokohama - Finale: Deutschland - Brasilien 0:2

Vor dem Spiel:

Zum siebten Mal stand Deutschland im WM-Finale, Gegner Brasilien (nach 1:0 über die Türkei) zum sechsten Mal. Es war das Treffen der WM-Giganten, der Auswahlteams mit den meisten WM-Teilnahmen. Umso erstaunlicher, dass sie sich bei der 17. WM zum ersten Mal auf dem Platz begegneten. Und dazu kam es auch trotz der Meldung eines südkoreanischen Senders am Tag nach dem Halbfinale, die Deutschen seien disqualifiziert worden - Torsten Frings und Miroslav Klose seien gedopt gewesen. Richtig daran war nur, dass die Genannten zur Dopingkontrolle mussten. Die FIFA stellte den Sachverhalt, den andere Medien gierig aufnahmen, richtig. So endete der Aufenthalt in Südkorea mit einer kleinen Aufregung. Für das große Finale kehrte der DFB-Tross wieder nach Japan zurück, wo er am Freitag in Tokio landete und mit dem Bus weiterfuhr in den Spielort Yokohama. Vor dem Hotel warteten 3000 Japaner und kreischten euphorisch. Torwarttrainer Sepp Maier, der 1966 erstmals bei einer WM dabei gewesen war, staunte: "So was habe ich noch nie erlebt."

Während sich in Deutschland die Frage vor allem darum drehte, wer denn den Gelb-gesperrten Michael Ballack ersetzen durfte, interessierte sich die Weltpresse für das Torjägerduell zwischen dem seit drei Spielen nicht mehr treffenden Miroslav Klose (fünf Turniertore) und dem künftigen Stürmerstar von Real Madrid, Ronaldo (sechs Tore). Der tönte bereits: "Ich treffe in jedem Spiel und hole mir die Torjägerkrone." Der Mann, der auf ihn aufpassen sollte, gehörte zu den Gewinnern dieser WM, und so verwunderte es kaum, dass Christoph Metzelder ins Visier der großen Klubs geriet. Kurz vor dem Finale ploppte die Meldung auf, dass ausgerechnet Real Madrid ihn haben wollte und dafür 20 Millionen Euro zu zahlen bereit war. Der Wechsel fand auch statt, aber erst fünf Jahre später...

Die meisten deutschen Spieler waren froh, dass sie auf Brasilien und nicht auf die Türkei trafen. Oliver Kahn sagte: "Ich spiele gern gegen Brasilien. Gegen die Türkei hätten wir viel mehr unter Druck gestanden. Ich habe schon viele Finals gespielt und weiß, dass auch da wieder sehr viel möglich sein wird." Carsten Ramelow verwies auf die seit sechs Stunden nicht überwundene Abwehr: "Es wird schwer für Brasilien, uns zu schlagen. Wir haben erst ein Gegentor kassiert." Damit hatten die Deutschen den Weltrekord der Niederlande von 1974 eingestellt, alle anderen Finalisten hatten während des Turniers mehr Treffer kassiert. Aber auch Brasilien steuerte auf Rekordkurs, hatte alle sechs Spiele in der regulären Spielzeit gewonnen. Der siebte Streich wäre einmalig bei einer WM. Rekordweltmeister waren sie schon, auch deshalb der Favorit. Trainer Felipe Scolari aber warnte: "Deutschland hat eine starke, traditionsreiche Mannschaft. Sie verdient allen Respekt."

In diese Mannschaft rückte nun zum zweiten Mal bei dieser WM Jens Jeremies, was für eine vorsichtigere Ausrichtung sprach als im Halbfinale. Oliver Neuville und Marco Bode, zum Turnierstart noch Reservisten, blieben im Team. Für den 32 Jahre alten Bode ein spezielles Geschenk, er beendete seine Karriere auf dem Höhepunkt. "Ich kann mir kein schöneres Ende meiner Karriere wünschen. Mit dem WM-Titel abzutreten, das wäre mein Traum." Den Sieg wollten sie natürlich alle; für ihr Land, für sich selbst und für den, der sie ins Finale geschossen hatte. Teamchef Rudi Völler gab die Parole aus: "Wir wollen für Michael Weltmeister werden." Und zwar, indem "jeder das Spiel seines Lebens macht".

Gesagt wurden diese Sätze im Hotel Sheraton Bay and Tower zu Yokohama, wo es am Vortag des Finals zuging wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer auf der Jagd nach letzten Informationen. Völler standen alle Mann zur Verfügung, Klose (Rippenprellung) bestand im Training den Härtetest. Den Brasilianern war der Titel offenkundig noch etwas mehr wert, pro Kopf wurden 220.000 Euro ausgelobt, den Deutschen winkten 92.000 Euro.

Wie vor jedem Spiel seit den Playoff-Dramen gegen die Ukraine schmuggelt ein Reporter der Bild-Zeitung wieder den bisher auf magische Weise wirkenden Glückspfennig ins Stadion. Wurde er zuvor immer hinter einem Tor vergraben, blieb er nun in der Hand von Pechvogel Michael Ballack, der schon mit Bayer Leverkusen in der abgelaufenen Saison dreimal Zweiter geworden war - ein interessantes Experiment. In Deutschland waren inzwischen die Fanartikel ausverkauft, auch die Händler waren vom Siegeszug der Völler-Auswahl überrascht worden.

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Ronaldo trifft doppelt - und Kahn ins Herz

Spielbericht:

An diesem Sonntag schaut die ganze Welt Fußball, rund 1,5 Milliarden Menschen sitzen vor Bildschirmen oder Großbildleinwänden. Bela Rethy kommentiert für das ZDF (27,09 Millionen Zuschauer), Marcel Reif für Premiere. Auf der Ehrentribüne tummelt sich die Politprominenz. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist da, da darf vor der anstehenden Bundeskanzlerwahl Kandidat Edmund Stoiber nicht fehlen. Auch Bundespräsident Johannes Rau und Innenminister Otto Schily wollen dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wird. Die Gastgeberländer entsenden ihre höchsten Repräsentanten, Südkorea seinen Staatschef, Japan seinen Kaiser. 2000 Deutsche sind unter den 69.029 Besuchern im größten Stadion Japans. Zwar sind sie in der Unterzahl und doch so viel wie nie bei dieser WM - viele haben sich kurzfristig entschlossen und zahlen bis zu 500 Dollar für die letzten Karten. Zunächst erleben sie noch eine Abschlussfeier, und doch erfolgt der Anstoß eine halbe Stunde früher als bisher (20 Uhr Ortszeit). Bei Anpfiff zeigt das Thermometer 25 Grad, es ist - wie schon gewohnt bei dieser WM - ziemlich schwül (79 Prozent Luftfeuchtigkeit). Das ZDF lässt seine Zuschauer abstimmen, 82 Prozent glauben an einen deutschen Sieg.

Die deutsche Abwehr formiert sich wieder als Dreierkette, Carsten Ramelows Einsatz steht nach seinem überragenden Spiel gegen Südkorea außer Frage. Auch Brasilien nimmt nur eine Änderung vor und ist froh über die Rückkehr von Wirbelwind Ronaldinho (war gesperrt). Nur Edilson freut es nicht, er muss auf die Bank. Abwehrchef Lucio trifft auf drei Vereinskameraden, auch er spielt für Bayer Leverkusen, das mit vier Spielern die meisten Finalisten stellt - mit Ballack wären es fünf gewesen.

Die deutsche Hymne wird zuerst gespielt, dafür hat Brasilien Anstoß. In der dritten Minute fängt Oliver Kahn erstmals den Ball, verhindert so eine Chance. "Das gibt ihm Sicherheit", mutmaßt Bela Rethy. Brasilien bekommt die erste Gelbe Karte, Roque Junior hat Oliver Neuville im Mittelfeld von den Beinen geholt. Da versteht Schiedsrichter Pierluigi Collina in seinem letzten WM-Einsatz keinen Spaß, kurz darauf erwischt es auch Klose nach zwei Fouls binnen einer Minute. Die Deutschen haben zunächst mehr Feldvorteile, was allgemein überrascht. Kommentar von Rethy: "Deutschland kombiniert besser als Brasilien, und das ist bisher die gute Nachricht".

Gleich dreimal kommt Dietmar Hamann aus der zweiten Reihe zum Schuss, immer bleibt der Ball an einem Abwehrbein hängen. Bernd Schneider wirbelt überall herum, flankt mal von rechts und mal von links, provoziert damit etliche Ecken und macht seinem Spitznamen als "weißer Brasilianer" alle Ehre. Brasiliens Trainer Felipe Scolari ist sichtlich unzufrieden und verbringt die erste Hälfte quasi komplett im Stehen. Dann wie aus dem Nichts die erste Riesenchance für Ronaldo, der nach Ronaldinhos die Abwehrkette sezierenden Pass frei vor Kahn einen Kunstschuss mit dem linken Außenrist versucht und verzieht.

Auch Marco Bode kann das erste Tor des Abends schießen, aber gleich zweimal verspringt ihm der Ball in aussichtsreicher Position. Brasilien zieht nach einer halben Stunde, in der die Deutschen Feldvorteile haben, urplötzlich an. Kahn muss gegen Ronaldo retten, auch dem Toptorjäger der WM verspringt mal der Ball. Erste Pfiffe von den Rängen, als die Deutschen mit einer Serie von Rückpässen auf Kahn Ruhe ins Spiel und das 0:0 in die Pause bringen wollen. Jens Jeremies antwortet darauf mit einem 22-Meter-Schuss, der übers Tor geht.

Plötzlich Brasilien-Chancen im Minutentakt: Kleberson aus 18 Metern knapp vorbei, dann aus 22 Metern an die Latte und schließlich trifft Ronaldo am Fünfmeterraum aus der Drehung nur Zerberus Kahn. Collina bittet zur Halbzeit, und Rethy sagt, was viele Fans empfinden: "Dieser Pfiff ist wie eine Erlösung." Aber sie geben auch Weltmeister Jürgen Klinsmann recht, der im ZDF-Studio feststellt: "Wir machen ein Riesenspiel!"

Die zweite Halbzeit beginnt, und nun spielen sie noch riesiger. Jeremies hat nach einer Ecke die erste größere Chance, sein Kopfball aus fünf Metern wird von Edmilson geblockt. In der 49. Minute weiß man auch, was der brasilianische Torwart Marcos kann. Er fingert einen spektakulären 30-Meter-Freistoß von Oliver Neuville noch an den Pfosten. "Aus der Entfernung hat der im Leben noch keinen Freistoß geschossen", staunt Rethy über den Gewaltschuss des zierlichen Dribblers aus Leverkusen. Er gehört zu denen, die sich Völlers Wort vom "Spiel des Lebens" besonders zu Herzen genommen haben.

In der 54. Minute ereignet sich eine Schlüsselszene, die man in dem Moment nicht als solche erkennt: Bei der Abwehr eines Kopfballs verletzt sich Kahn am Ringfinger der rechten Hand, weil ihm der nachsetzende Gilberto Silva auf die Hand tritt. Während das Spiel weiterläuft, wird der Keeper behandelt, beißt aber auf die Zähne. Beim WM-Finale geht keiner raus, der nicht muss. Auch Jeremies nicht, der nach einer Karambolage mit Brasiliens Kapitän Cafu liegenbleibt und minutenlang auf dem Platz behandelt wird. Sebastian Kehl zieht schon die Jacke aus und erhält von Co-Trainer Michael Skibbe Anweisungen, da steht "Jerry" wieder auf. Blut klebt an den Stutzen, aber er kann laufen.

Auch das deutsche Spiel läuft, die zweite Hälfte gehört bisher der Völler-Elf. Alles ist offen. Eben noch hat ein Hamann-Schuss das gegnerische Tor knapp verfehlt, da passiert es: Hamann führt fast an der Strafraumgrenze einen unnötigen Zweikampf mit Ronaldo und verliert ihn. Der Torjäger legt auf für den bis dahin blassen Rivaldo - ein ansatzloser Schuss aus 17 Metern, Kahn lässt ihn prallen, Ronaldo ist zur Stelle und staubt aus fünf Metern ab. 1:0! "Ein Ball, den man normalerweise halten müsste. Man muss es leider sagen: Torwartfehler! Aber ohne ihn wäre diese deutsche Mannschaft in kein Finale gekommen", kritisiert und beschwichtigt Rethy zugleich.

Erstmals bei dieser WM ein Rückstand - wie reagiert die deutsche Elf? Mit wütenden Angriffen. Jeremies und Frings versuchen es aus der zweiten Reihe, aber Marcos ist so nicht zu überwinden. Völler bringt Oliver Bierhoff, der sein letztes Länderspiel macht, für den ebenso eifrigen wie unglücklichen Klose und Gerald Asamoah für Jeremies. Rethy erinnert daran, wozu ein Bierhoff fähig ist, wenn man ihn an einem 30. Juni einwechselt - 1996 hat der Joker Deutschland mit zwei Toren zum Europameistertitel geschossen.

Kaum hat der Reporter das gesagt, glaubt kaum jemand noch daran, dass sich Geschichte wiederholt. Kleberson kommt über rechts, passt auf Rivaldo, der den Ball aber durchlässt auf den sträflich freistehenden Ronaldo. Der visiert mit der rechten Innenseite dieselbe Stelle an wie beim ersten Tor, Kahn fliegt vergeblich. 2:0, noch elf Minuten Zeit. Geht noch was? Nun stürmen alle, auch Ramelow und Metzelder. Christian Ziege wird eingewechselt und flankt noch zweimal gefährlich von links, von rechts tut es Frings, der Bierhoff findet - aber Marcos verhindert den Anschlusstreffer. Collina gewährt noch drei Minuten Nachspielzeit, Völler ist das zu wenig. So lange hat fast schon der slapstickartige Versuch des Brasilianers Edmilson gedauert, sein zerrissenes Trikot zu wechseln. Letztlich ist es egal, den wackeren Deutschen fehlt es an diesem Tag an Durchschlagskraft. Den letzten Torschuss von Ziege tötet Marcos auch noch, dann ist Schluss.

Brasilien ist zum fünften Mal Weltmeister, Deutschland zum vierten Mal Vizeweltmeister. Alle Welt sieht das als Erfolg an, einer aber fühlt sich als erster Verlierer. Minutenlang lehnt, kauert, liegt Kahn am Pfosten. Keiner der Mitspieler, kein Betreuer und auch kein Schiedsrichter kann ihn aufrichten. Keinem kann er in die Augen schauen, er ist wie weggetreten. Es ist eins der einprägsamsten Bilder deutscher WM-Geschichte. Es ist das Bild, das ebenso unabdingbar zu seiner Karriere gehört wie der Eckfahnenjubel nach gewonnener Meisterschaft 2001 in Hamburg. Und es macht ihn noch beliebter: Der "Titan" ist wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zufliegen wie nie zuvor in seinem von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Leben. Eine japanische Studentin schreibt später in ihren Blog: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer - das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

Er fühlt sich schuldig. Schon vor dem Finale hat ihn die FIFA zum besten Torhüter des Turniers gewählt, da passiert ausgerechnet ihm ein so entscheidender Fehler. Natürlich spielt die Handverletzung eine Rolle dabei, wenn er es auch mannhaft herunterspielt. Beim Rest legt sich die Enttäuschung schneller. Sie sind alle stolz, an einem der besten WM-Finales überhaupt teilgenommen zu haben, stolz auch auf das Zahlenwerk, das da besagt: 12:9 Schüsse aufs Tor, 13:3 Ecken, 56 Prozent Ballbesitz - dreimal Vorteil Deutschland. Und so ist es kein Wunder, dass am folgenden Montag 30.000 Fans am Frankfurter Römer auf die Mannschaft warten. Rudi Völler schaut von der Brüstung des Balkons und fragt schier fassungslos: "Was wäre wohl hier los, wenn wir auch den Titel gewonnen hätten?"

Aufstellung: Kahn – Linke, Ramelow, Metzelder – Frings, Hamann, Schneider, Jeremies (77. Asamoah), Bode (84. Ziege) – Klose (74. Bierhoff), Neuville.

Tore: 1:0, 2:0 Ronaldo (67., 79.).

Zuschauer: 69.029 in Yokohama.

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Kahn: "Ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht"

Stimmen zum Spiel:

Rudi Völler: "Wenn man ein Endspiel verliert, ist natürlich die Enttäuschung groß. Auch wenn man gegen so ein Klasseteam wie gegen Brasilien verliert, was ja keine Schande ist, ist das trotzdem bitter. Uns ist aber bewusst, dass wir etwas erreicht haben, mit dem keiner gerechnet hatte. Wir haben uns während der ersten halben Stunde der ersten Halbzeit und auch wieder zu Beginn der zweiten Halbzeit - was die Taktik, die Laufbereitschaft und das Spielerische betraf - recht geschickt präsentiert. Wir konnten uns zwar keine Riesenchancen erarbeiten, aber die Brasilianer in diesen Phasen auch nicht. Wenn man alle sieben Spiele zusammennimmt, waren sie aber die Besten."

Oliver Kahn: "Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Und der ist brutal bestraft worden. So einen Ball muss man festhalten. Da gibt es keinen Trost."

Dietmar Hamann (zum 0:1): "Ich habe zuvor den entscheidenden Zweikampf verloren, ich nehme das Tor auf meine Kappe."

Bernd Schneider: "Wir haben heute zu gut gespielt und kein Tor geschossen. Außerdem hat uns das Quäntchen Glück gefehlt, das wir in den anderen Spielen hatten."

Marco Bode: "In der ersten Halbzeit haben wir über weite Strecken das Spiel bestimmt. Wir haben nur versäumt, ein Tor zu machen. Ich denke, damit hätten wir die Brasilianer beeindruckt."

Christoph Metzelder: "Glückwunsch an die Brasilianer. Wir hatten sie am Rande einer Niederlage, es hat nicht sollen sein."

Johannes Rau (Bundespräsident): "Das war ein großartiges Spiel. Unsere Mannschaft hat toll gekämpft und ihr bestes Spiel während dieser WM gezeigt. Sie kann stolz auf sich sein."

Felipe Scolari (Trainer Brasiliens): "Wir hatten die positive Energie und den Siegeswillen, den man in einem Finale braucht. Die Deutschen haben gespielt, wie wir es erwartet hatten. Der Unterschied zwischen beiden Teams liegt in der individuellen Klasse der Spieler. Da haben wir Vorteile und deshalb verdient gewonnen."

Ronaldo (Brasilien): "Ich habe zweieinhalb Jahre damit verbracht, wieder gesund zu werden. Dieser WM-Sieg ist tausendmal schöner als Sex. Denn er ist etwas Einmaliges."

"Es hat nicht ganz gereicht für Deutschland. Brasilien gewann als einzige Mannschaft seine sieben WM-Spiele, dabei das letzte und wichtigste vollauf verdient. Dennoch: Dieses deutsche Team hat sich vor allem in den beiden letzten Spielen Weltgeltung verschafft und sich damit für manche Schmach der Vergangenheit rehabilitiert." (Kicker)

"Wir waren so nah dran (...) Deutschland und Brasilien: Es lagen keine Welten zwischen unseren Herzens-Fußballern und den Samba-Tänzern. Was uns trennte beim 0:2, waren nur ein paar unglückliche Momente für uns. Es war der K.o.-Schlag nach Kahns Fehlgriff - und es war Ronaldo!" (Bild)

"Brasilien ist Weltmeister - aber wir müssen nicht weinen. Großartig Jungs! Ihr seid Vizeweltmeister, ihr seid Helden!" (BZ Berlin)

"Es war der Sieg der brasilianischen Schule, der Schule der Technik, des Talents und der Kreativität über die Schule der steifen Hüfte, des Kampfes mit dem Ball und der physischen Kraft, ohne Zweifel die Schule des Mannschaftsspiels, aber ohne eine einzige Spur von Begabung." (O'Globo/ Brasilien)

"Brasiliens Trainer Scolari hat das stärkste Königreich wieder aufgebaut. Kahn hat verloren. 2006 wird Deutschland ganz oben stehen." (Sports Hochi/ Japan)

"Kahn, der beste Torwart der Welt, servierte den Brasilianern das Finale auf dem silbernen Tablett. Die Deutschen verloren ihr bestes Spiel während des gesamten Turniers." (Marca/ Spanien)

"Deutschland biss ins Gras, weil Kahn, der Schreckliche, auch nur ein Mensch ist." (AS/Spanien)

"Unser Mitleid gilt dem deutschen Fußball, der nach einer couragierten Leistung verloren hat. Brasilien erleuchtet die Welt." (Daily Telegraph/England)

"Deutschland spielt besser, aber Brasilien behält dank seiner Champions die Oberhand." (Gazetta dello Sport/ Italien)

"Das Finale war die attraktivste Schlußgala seit 1982." (Trouw/Niederlande)

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