Finalniederlage gegen Argentinien: Maradona krönt Zauber-WM

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

29. Juni 1986 in Mexiko-City - Finale: Deutschland - Argentinien 2:3

Vor dem Spiel:

Noch nie hatten Europäer auf dem amerikanischen Kontinent den WM-Pokal geholt. Nun versuchten die Deutschen, den Bann zu brechen. Obwohl es gegen Argentinien mit seinem diesmal überragenden Wunderknaben Diego Maradona ging, tippten 63,1 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage auf den Sieg der eigenen Mannschaft. Dafür waren vor dem Turnier 70.000 Mark pro Spieler vereinbart, die es aber auch im Finale einer Niederlage geben sollte. Es war der Preis für das Finale, das zu erreichen schon aller Ehren wert war. Die Fachwelt staunte zwar über den Weg der Deutschen, die den Mythos von der "Turniermannschaft" nährten, rechnete aber mit einem Sieg der Argentinier, die ungeschlagen durchs Turnier marschiert waren. Auch wenn Maradona im Viertelfinale gegen England beim ersten seiner beiden legendären Tore die "Hand Gottes" zu Hilfe genommen hatte. Franz Beckenbauer war es recht, der deutsche Teamchef sagte: "Mit der Außenseiterrolle sind wir bisher gut gefahren." Aber insgeheim hofften sie, Eindruck auf den Gegner gemacht zu haben. Hans-Peter Briegel brachte das in Siegerlaune nach dem Halbfinale sogar in Gesangsform rüber: "Aber eins, das ist gewiß: Argentinien hat vor Deutschland Schiss."

Die große Frage im deutschen Lager drehte sich darum, wer den offensiv ausgerichteten Spielmacher Maradona beschatten sollte. Was die Frage aufwarf, ob Wolfgang Rolff in der Elf bleiben würde, schließlich war Thomas Bertholds Sperre ja abgelaufen. Beckenbauer: "Wie immer die Entscheidung ausfallen wird, sie wird in jedem Fall ungerecht sein." Er entschied sich für Berthold, der sich seinen Platz im bisherigen Turnierverlauf redlich verdient hatte. Der Frankfurter aber spielte Außenverteidiger. Sein Vertreter gegen Frankreich, Andreas Brehme, rückte wieder ins Mittelfeld zu Norbert Eder, Felix Magath und Lothar Matthäus. Und den Franken traf es. Matthäus war der schnellste und bissigste, ihn erkor der Kaiser als Maradona-Bewacher aus, wieder basierend auf Erfahrungswerten. Das hatte schließlich schon 1982 bei einer Südamerikareise der Nationalelf geklappt. Der renommierte Sportautor Ulfert Schröder schrieb dazu: "Natürlich, der Maradona von heute ist nicht mehr vergleichbar mit dem Maradona von damals. Aber auch Matthäus hat sich weiter entwickelt (...) Natürlich, der Weg zum Titel führt über Maradonas Leiche. Deshalb hat Lothar Matthäus eine traurige Aufgabe. Matthäus muß ein Kunstwerk vernichten, um erfolgreich zu sein." Diego Maradona dürfte von der Nachricht wenig erfreut gewesen sein, er nannte Karl-Heinz Rummenigge und Lothar Matthäus als beste deutsche Spieler.

Am Freitag vor dem Finale wurde in Queretaro noch eine Messe gelesen, an der zehn Spieler teilnahmen. Zum Abschied aus Queretaro verspricht Egidius Braun Unterstützung für einige Kinder, deren Eltern das Schulgeld nicht aufbringen können. Dann ging es mit dem Bus nach Mexiko City, wo sich der Kader im Rahmen eines leichten Trainings mit dem Azteken-Stadion vertraut machte.

Die Argentinier waren ebenfalls ein überraschender Finalist. Unter Trainer Carlos Bilardo spielten sie meist defensiv und effizient, aber selten so attraktiv wie unter Cesar Luis Menotti, dem Weltmeistertrainer von 1978. Aus "Fußball mit Herz" wurde "Fußball mit Hirn", schrieben die Kritiker. "Im Fußball ist das Ergebnis das Wichtigste", beteuerte Bilardo gern - und so ließ er auch spielen. Dafür wurde er heftig angefeindet im eigenen Land, aber nun war alles vergessen. Personalsorgen hatten sie nicht. Bilardo bot drei Legionäre auf: Neben Maradona (Neapel) waren dies Jorge Burruchaga (FC Nantes) und Jorge Valdano (Real Madrid). Bilardo zog seinen Hut vor den Deutschen: "Wir treffen auf eine starke Mannschaft und haben sie uns immer als möglichen Finalisten vorgestellt."

Erstmals in seiner Funktion als Bundeskanzler sah Helmut Kohl, der mit großer Entourage von 52 Personen eingeflogen war, ein WM-Spiel. Auch Helmut Schön, der als Bundestrainer 1974 den bis dato letzten deutschen WM-Titel geholt hatte, war vor Ort. Spontan hatte er eine Einladung des DFB angenommen. Erstmals wurde festgelegt, dass die Entscheidung an diesem Tag fallen muss. Und sei es im Elfmeterschießen, ein Wiederholungsspiel würde es nicht geben.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

29. Juni 1986 in Mexiko-City - Finale: Deutschland - Argentinien 2:3

Vor dem Spiel:

Noch nie hatten Europäer auf dem amerikanischen Kontinent den WM-Pokal geholt. Nun versuchten die Deutschen, den Bann zu brechen. Obwohl es gegen Argentinien mit seinem diesmal überragenden Wunderknaben Diego Maradona ging, tippten 63,1 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage auf den Sieg der eigenen Mannschaft. Dafür waren vor dem Turnier 70.000 Mark pro Spieler vereinbart, die es aber auch im Finale einer Niederlage geben sollte. Es war der Preis für das Finale, das zu erreichen schon aller Ehren wert war. Die Fachwelt staunte zwar über den Weg der Deutschen, die den Mythos von der "Turniermannschaft" nährten, rechnete aber mit einem Sieg der Argentinier, die ungeschlagen durchs Turnier marschiert waren. Auch wenn Maradona im Viertelfinale gegen England beim ersten seiner beiden legendären Tore die "Hand Gottes" zu Hilfe genommen hatte. Franz Beckenbauer war es recht, der deutsche Teamchef sagte: "Mit der Außenseiterrolle sind wir bisher gut gefahren." Aber insgeheim hofften sie, Eindruck auf den Gegner gemacht zu haben. Hans-Peter Briegel brachte das in Siegerlaune nach dem Halbfinale sogar in Gesangsform rüber: "Aber eins, das ist gewiß: Argentinien hat vor Deutschland Schiss."

Die große Frage im deutschen Lager drehte sich darum, wer den offensiv ausgerichteten Spielmacher Maradona beschatten sollte. Was die Frage aufwarf, ob Wolfgang Rolff in der Elf bleiben würde, schließlich war Thomas Bertholds Sperre ja abgelaufen. Beckenbauer: "Wie immer die Entscheidung ausfallen wird, sie wird in jedem Fall ungerecht sein." Er entschied sich für Berthold, der sich seinen Platz im bisherigen Turnierverlauf redlich verdient hatte. Der Frankfurter aber spielte Außenverteidiger. Sein Vertreter gegen Frankreich, Andreas Brehme, rückte wieder ins Mittelfeld zu Norbert Eder, Felix Magath und Lothar Matthäus. Und den Franken traf es. Matthäus war der schnellste und bissigste, ihn erkor der Kaiser als Maradona-Bewacher aus, wieder basierend auf Erfahrungswerten. Das hatte schließlich schon 1982 bei einer Südamerikareise der Nationalelf geklappt. Der renommierte Sportautor Ulfert Schröder schrieb dazu: "Natürlich, der Maradona von heute ist nicht mehr vergleichbar mit dem Maradona von damals. Aber auch Matthäus hat sich weiter entwickelt (...) Natürlich, der Weg zum Titel führt über Maradonas Leiche. Deshalb hat Lothar Matthäus eine traurige Aufgabe. Matthäus muß ein Kunstwerk vernichten, um erfolgreich zu sein." Diego Maradona dürfte von der Nachricht wenig erfreut gewesen sein, er nannte Karl-Heinz Rummenigge und Lothar Matthäus als beste deutsche Spieler.

Am Freitag vor dem Finale wurde in Queretaro noch eine Messe gelesen, an der zehn Spieler teilnahmen. Zum Abschied aus Queretaro verspricht Egidius Braun Unterstützung für einige Kinder, deren Eltern das Schulgeld nicht aufbringen können. Dann ging es mit dem Bus nach Mexiko City, wo sich der Kader im Rahmen eines leichten Trainings mit dem Azteken-Stadion vertraut machte.

Die Argentinier waren ebenfalls ein überraschender Finalist. Unter Trainer Carlos Bilardo spielten sie meist defensiv und effizient, aber selten so attraktiv wie unter Cesar Luis Menotti, dem Weltmeistertrainer von 1978. Aus "Fußball mit Herz" wurde "Fußball mit Hirn", schrieben die Kritiker. "Im Fußball ist das Ergebnis das Wichtigste", beteuerte Bilardo gern - und so ließ er auch spielen. Dafür wurde er heftig angefeindet im eigenen Land, aber nun war alles vergessen. Personalsorgen hatten sie nicht. Bilardo bot drei Legionäre auf: Neben Maradona (Neapel) waren dies Jorge Burruchaga (FC Nantes) und Jorge Valdano (Real Madrid). Bilardo zog seinen Hut vor den Deutschen: "Wir treffen auf eine starke Mannschaft und haben sie uns immer als möglichen Finalisten vorgestellt."

Erstmals in seiner Funktion als Bundeskanzler sah Helmut Kohl, der mit großer Entourage von 52 Personen eingeflogen war, ein WM-Spiel. Auch Helmut Schön, der als Bundestrainer 1974 den bis dato letzten deutschen WM-Titel geholt hatte, war vor Ort. Spontan hatte er eine Einladung des DFB angenommen. Erstmals wurde festgelegt, dass die Entscheidung an diesem Tag fallen muss. Und sei es im Elfmeterschießen, ein Wiederholungsspiel würde es nicht geben.

###more###

Deutsche Aufholjagd wird nicht belohnt

Spielbericht:

In Grün hat die Mannschaft das Turnier begonnen, in Grün beendet sie es. Aber diesmal kann es kein 1:1 wie gegen Uruguay geben, das Finale braucht einen Sieger. Rolf Kramer darf es für das ZDF und 28,4 Millionen TV-Zuschauer kommentieren. Nie hören mehr Deutsche die Stimme eines Kommentators als an diesem Tag. Es wird auch für Kramer eine Sternstunde werden. Weltweit sitzen über eine Milliarde Menschen aus 142 Ländern vor den Bildschirmen. Das Stadion ist trotz der frühen Stunde schon weit vor Anpfiff voll besetzt. 114.600 Zuschauer sind gekommen, um den neuen Weltmeister zu sehen, nie in Endspielen mit Deutschland ist eine Kulisse größer. Bis heute.

Ein großes Transparent in der argentinischen Kurve fällt auf: Perdon Bilardo! Die Fans entschuldigen sich bei ihrem Trainer. Die FIFA lässt 10.000 Fähnchen verteilen mit der Aufschrift: "Es lebe der Frieden und der Weltverband." Dann steigen weiße Tauben in den Himmel. Beifall bekommt auch die mexikanische Mannschaft, die am liebsten gespielt hätte an diesem Sonntag, aber das Forum nutzt, sich zu verabschieden. Die Mannschaften kommen. An der rechten Hand von Lothar Matthäus fällt ein Verband auf. Die offizielle "Verstauchung" ist ein Bruch, aber das soll noch keiner wissen. Schon gar nicht Diego Maradona. Was dem kurz vor Anpfiff in der Kabine passiert, bleibt auch lange geheim. Jorge Valdano hat es erst Jahre später im Spiegel ausgeplaudert: "Es herrschte Totenstille. Plötzlich begann Maradona laut nach seiner Mutter zu rufen. 'Tota', so heißt sie, 'Tota komm und hilf mir, ich habe Angst, du musst mich beschützen.' Die Botschaft an uns war: Wenn ihr Angst habt, keine Sorge, ich habe auch Angst. Und er war das Genie des Weltfußballs." Und doch nur ein Mensch. Drei Hymnen werden gespielt, auch die des Gastgebers Mexiko. Und plötzlich singen sie, die Deutschen. Zumindest die Älteren: Karlheinz Förster, Hans-Peter Briegel, Toni Schumacher, Ditmar Jakobs – drei von ihnen machen ihr letztes Länderspiel.

Der brasilianische Schiedsrichter Romualdo Arppi Filho pfeift pünktlich an, Deutschland hat Anstoß. Allofs holt in der ersten Minute eine Ecke heraus und nährt Hoffnungen, dass es ein gutes Finale wird, dass sich die Mannschaft, die seit über fünf Stunden kein Tor kassiert hat, nicht nur auf die Defensive verlassen wird. Aber danach sieht es zunächst nicht aus. So sehr das Azteken-Stadion brodelt, so sehr die Trommeln schlagen, es mangelt an Höhepunkten. "Bei beiden Mannschaften ist noch keine klare Linie zu sehen", stellt Rolf Kramer fest und schiebt es auf die "Nervosität auf beiden Seiten". Dann fliegt Briegel nach einem Doppelpass mit Eder in den Strafraum, aber der Schiedsrichter gibt Freistoß nur wenige Zentimeter vor der Linie. Die Argentinier sind selbst damit nicht zufrieden, Maradona handelt sich Gelb wegen Meckerns ein. Der Freistoß wird wiederholt, weil die Mauer zu früh rausrennt, dann wird Matthäus' Schuss geblockt. Sieben Minuten später hat auch Maradonas Gegenspieler Gelb, Matthäus holt ihn an der Seitenauslinie von den Beinen. Die Folgen ahnt noch keiner.

Burruchaga schlägt den Freistoß vors deutsche Tor, das der noch unbeschäftigte Schumacher voller Tatendrang verlässt. Bloß erreicht er den Ball nicht, Verteidiger José Brown dagegen schon. Kopfball, Tor - 1:0. Kramer ist fassungslos: "Das gibt’s doch nicht. Der Toni Schumacher springt am Ball vorbei. Das hab ich eigentlich noch nie gesehen." Als die Hymnen gespielt worden sind, hat er sich noch eingeredet: 'Du bist der beste Torwart der Welt. Du wirst jeden Ball halten. Du bist ein Raubtier.' Heißt es in seinem Anpfiff. Als dann der Freistoß kommt, da sagt er sich: 'Jetzt holst du dir deine Beute, egal was kommt.' Aber schon nach dem ersten Schritt merkt er: 'Den kriegst du nicht. Ich segle durch den Strafraum wie Lohengrin, der seinen Schwan verpaßt hat. Ich sehe das Leder ins Tor fliegen und schreie stumm nach innen auf." Schumachers erster Fehler bei dieser WM, ausgerechnet im Finale - diese Geschichte wird sich 16 Jahre später bei einem anderen deutschen Torhüter, mindestens genauso erfolgsbesessen wie er, wiederholen.

Das Spiel geht weiter, es wird Zeit für die erste richtige deutsche Chance. Nach 32 Minuten kommt sie. Berthold köpft Försters Flanke an den langen Pfosten, Rummenigge rauscht heran, aber der Winkel ist zu spitz. Mit links schießt er im Fallen übers Tor. Immerhin ein Signal. Was klappt, das ist die Abseitsfalle, in die die Argentinier immer wieder laufen. Einmal schnappt sie nicht zu, Maradona taucht vor Schumacher auf, der sich mittlerweile "selbst hasst". Toni schießt ihn an, hat etwas Glück, Abstoß. Die Argentinier wollen nur noch in die Pause, spielen Foul, spielen zurück, auf Abseits, auf Zeit. Pünktlich beendet Filho die erste Halbzeit, die keine gute gewesen ist. Was auch auf den Platz zutrifft. Der, versichert Kramer nach eigens vorgenommener Inspektion am Vortag, "ist ein Acker, es ist schlimm."

Beckenbauer wechselt den ersten seiner drei Stürmer auf der Bank ein: Rudi Völler kommt für den diesmal blassen, aber auch angeschlagenen Klaus Allofs. Kramer stellt fest: "Was wir brauchen, ist ein Tor." Die Mannschaft entwickelt Druck, ohne zu gefährlichen Abschlüssen zu kommen. Stattdessen bietet sie zwangsläufig Räume an, und einen nutzt der Gegner. Über Maradona und Hector Enrique kommt der Ball zu Valdano, der von halblinks allein auf Schumacher zuläuft und überlegt ins lange Eck schiebt - 2:0! "Ist das die Entscheidung? Ist sie das?", fragt Kramer, "was bleibt uns noch?" Beckenbauer bleibt noch eine Wechselchance, und er wählt die Brechstange: Dieter Hoeneß löst Felix Magath ab, der seine Auswechslung kaum fassen kann. Kramer findet: "Das sind schon die letzten Karten, die der Franz spielt." Aber der Reporter macht der Heimat auch Hoffnung, erinnert an Sevilla und beteuert: "Aufgegeben hab' ich sie noch nicht."

Die Mannschaft macht auch nicht den Eindruck, als gebe sie den Fight verloren. Berthold stürmt unentwegt über rechts und nimmt schmerzhafte Stürze in die Fotografen in Kauf, Briegel holt sich Gelb ab, Förster und Jakobs fahren rigoros dazwischen. Kein Zweikampf wird verloren gegeben, warum also das Spiel. Doch weiterhin fehlen die spielerischen Mittel. Da helfen nur Standards. In der 73. Minute wird ein Briegel-Schuss zur Ecke geblockt, und ehe Brehme sie mit links hereinschlägt, sagt Kramer fast schon gebieterisch nur: "Ein Tor!" Er bestellt es quasi, und es fällt. Völler leitet den Ball mit dem Kopf weiter in den Fünfmeterraum, Rummenigge rutscht in die Flugbahn und drückt ein - nur noch 1:2.

Nun kippt das Spiel, dessen Entscheidung Förster verhindert, als er Maradona im Strafraum fair bremst. Die Hoffnung lebt fort. Matthäus schlägt einen Ball von rechts vors Tor, Dieter Hoeneß gewinnt das Kopfballduell gegen Brown. Der Ball würde weit vorbeifliegen, doch Keeper Nery Pumpido denkt, Brown hätte ihn noch berührt, und versucht, die Ecke zu verhindern. Stattdessen verursacht er sie mit seinen Händen. Wieder schlägt Brehme den Ball mit links herein, diesmal auf den Kopf von Berthold, der bedient Zimmerpartner Völler - Kopfball, Tor, Ausgleich, unfassbar. Der Bremer empfindet in dem Moment "ein unbeschreibliches Glücksgefühl" nach einer Saison, die für ihn entbehrungsreich und wenig glücklich verlaufen ist. Mit Werder ist er Zweiter geworden, entthront am letzten Spieltag. Und jetzt? Acht Minuten vor Schluss ist das Spiel wieder offen. Kramer kann nicht mehr an sich halten: "Diese Mannschaft, das ist das, was hier jeder Taxifahrer sagt, was der Mario Zagalo sagt, was die Großen sagen, ist erst besiegt nach 90 Minuten!" Die Stadion-Uhr zeigt 36:29 Minuten an in der zweiten Halbzeit. Noch siebeneinhalb Minuten Zeit bis zur Verlängerung.

Valdano erzählt 30 Jahre später, was in ihm vorgeht in diesen Momenten: "Ich betrachte mir also dieses Spiel und, vielleicht um es mir selbst noch mal zu vergegenwärtigen, sagte ich zu mir: "Ja, du bist Weltmeister." Und plötzlich hatten die Deutschen die zwei Tore aufgeholt. Nach dem 2:2 standen wir im Mittelkreis: Maradona, Burruchaga und ich. Und ich sagte mit lauter Stimme: "Eben waren wir schon Weltmeister, und jetzt müssen wir von vorne anfangen." Während Maradona schweigt, sagt Burruchaga: "Mir geht es gut. Wir fühlen uns doch gut, oder? Kein Problem, das gewinnen wir schon." Burruchaga sagt ebenfalls Jahrzehnte später: "Andere Mannschaften hätten sich in dieser Situation angeschrien. Wir fühlten uns einfach sicher."

Wenn das so stattgefunden hat, ist es ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr Fußball Kopfsache ist. Zwei Minuten später bauen die nun euphorisierten Deutschen eine schlechte Abseitsfalle, Maradona schickt mit einem seiner 62 Ballkontakte an diesem Tag Burruchaga auf die Reise. Neben ihm läuft Valdano, hinter ihm hetzt nur Briegel her, der die Abseitsfalle hat platzen lassen. Kramer ruft noch flehentlich: "Toni, halt den Ball!" Er hält ihn nicht. Diese Moralkeule stecken auch die Deutschen nicht mehr weg. Matthäus: "Wir wussten, das war das Aus!" Eine Torchance bekommen sie nicht mehr in den letzten sieben Minuten, die inklusive Nachspielzeit noch verbleiben. "Zu lange gejubelt haben wir, in der Euphorie des Ausgleichs keinen kühlen Kopf bewahrt. Wir fühlten uns dem 3:2 näher als die Argentinier, das war der verhängnisvolle Fehler", schimpft Rummenigge später.

Kramer bereitet die Heimat schon auf das Schlimmste vor und versucht hervorzuheben, dass die Niederlage auch ihr Positives hat: "Die Legende vom deutschen Fußball, von der Mannschaft, die nicht aufsteckt, erhält hier ein neues, vielleicht ein großes Kapitel." Damit wird er Recht bekommen. Natürlich überwiegt im ersten Moment die Enttäuschung, aber der globale Beifall ist ein äußerst großes Trostpflaster. Das bei denen, die nicht mehr spielen werden, sicher weniger bewirkt als bei den Jungen. Für Briegel, Förster, Magath, Allofs und Rummenigge ist es die letzte WM, auch für Schumacher, aber das ahnt da noch keiner. Sie haben zwei zweite Plätze geholt und viel für den deutschen Fußball getan. Und ihren Anteil daran, dass die Deutschen der Mythos einer Turniermannschaft umrankt. In dieser Niederlage steckt ganz viel Erfolg. Beckenbauer bezeichnet das Abschneiden bei seiner vierten WM-Teilnahme als "größten Erfolg".

Helmut Kohl entkorkt in der Kabine persönlich eine Champagnerflasche und spricht seine Glückwünsche im Namen der Nation aus: "Ihr habt die Bundesrepublik würdig vertreten." Bezeichnend ist die Aussage von Karlheinz Förster: "Vor vier Jahren gingen wir nach der Landung in Frankfurt gebückt. Jetzt aber können wir erhobenen Hauptes heimkehren." Auf dem Römer empfangen sie diesmal 15.000 Menschen, dreimal so viel wie 1982.

Aufstellung: Schumacher – Berthold, Jakobs, Karlheinz Förster, Briegel – Brehme, Eder, Matthäus, Magath (62. Dieter Hoeneß) – Rummenigge, Allofs (46. Völler).

Tore: 1:0 Brown (23.), 2:0 Valdano (55.), 2:1 Rummenigge (74.), 2:2 Völler (80.), 3:2 Burruchaga (83.).

Zuschauer: 114.600 in Mexiko-City.

###more###

Beckenbauer: "Die Argentinier sind würdige Weltmeister"

Stimmen zum Spiel:

Franz Beckenbauer: "Ich muss den Argentiniern gratulieren. Sie sind würdige Weltmeister, haben das Endspiel verdient gewonnen. Doch unsere Mannschaft ist auch ein würdiger Vizeweltmeister. In den entscheidenden Momenten haben wir nicht aufgepasst. Es hat nicht an Maradona gelegen, dass wir verloren haben. Es ist uns über weite Strecken gelungen, ihn aus dem Spiel zu nehmen. Dabei hat Matthäus eine hervorragende Leistung geboten. Alle drei Gegentore waren vermeidbar. Wir haben alles getan, um den Rückstand aufzuholen. Nach dem 2:2, als wir gerade das Spiel kontrollierten und die Argentinier müde waren, habe ich ins Spielfeld gerufen, wieder normal aus der Abwehr herauszuspielen. Doch bei solch einem Spektakel hören die Spieler nicht hin. So fiel das 2:3, als wir einfach nicht aufpassten."

Bundeskanzler Helmut Kohl: "Wir können stolz auf unsere Mannschaft sein. Sie hat mehr erreicht, als wir alle erwartet haben."

Toni Schumacher: "Ich hab' gehalten wie ein Arsch. Wenn ich in diesem Spiel so gehalten hätte wie gegen Mexiko oder Frankreich, wären wir jetzt Weltmeister."

Hans-Peter Briegel: "Das war heute mein letztes Länderspiel. Wer nach dem 2:2 so offensiv spielt wie wir, hat es nicht verdient zu gewinnen. Meine Enttäuschung ist groß. Zweimal war ich im Finale, zweimal habe ich verloren."

Karl-Heinz Rummenigge: "Es war ein großes Finale. Wir haben eine tolle Aufholjagd geliefert. Es war natürlich ein taktischer Fehler, nach der Aufholjagd so offensiv zu spielen. Aber das war sicherlich auch auf die plötzliche Euphorie zurückzuführen. Diese Vizeweltmeisterschaft zählt viel mehr als der zweite Platz 1982. Er bringt dem gesamten deutschen Fußball ein neues Wertgefühl. Es scheint so etwas wie einen Boris-Becker-Boom in unserer Sportart zu geben, wenn ich die Reaktionen in Deutschland richtig deute."

Carlos Bilardo (Trainer Argentiniens): "Unser Erfolg ist ein Erfolg der Mannschaft. Probleme hatten wir, als die Deutschen Hoeneß einwechselten. Als das 2:2 fiel, habe ich gemerkt, dass wir noch nicht perfekt sind. Dann wollten die Deutschen auch noch den Sieg, was uns die Gelegenheit zum entscheidenden Konter gab."

"Dem 13. Endspiel in der Geschichte der Weltmeisterschaften fehlt lange Zeit die spielerische Klasse mancher vergangener Begegnungen. Erst die zunächst erfolgreiche Aufholjagd der deutschen Mannschaft sorgte für knisternde Spannung und Dramatik. Letztlich war auch ein wenig Pech dabei, daß es zum dritten Triumph bei einem WM-Turnier nicht reichte. Unsere Mannschaft kann aber auch auf diesen zweiten Platz stolz sein, den sie zum dritten Mal nach 1966 und 1982 im Turnier der Weltbesten errang. Sie hat es verdient, daß ihr die Anhänger in der Heimat bei der Rückkehr am Dienstag einen herzlichen Empfang bereiten!" (Kicker)

"Entscheidend für die Niederlage war unter dem Strich die Tatsache, daß die deutsche Mannschaft nur bescheidene technische Mittel aufs Feld bringen konnte. Es waren zuviele Stockfehler zu verkraften, und es blieb ein schwacher Trost, daß Diego Maradona diesmal nicht wie gewohnt zur Geltung kam. Was letztlich aber auch zählt, ist die fünfte Endspielteilnahme in nur 32 Jahren. Mit vorbildlicher Einstellung, guter Moral und hervorragender Kondition hat die Beckenbauer-Truppe den deutschen Fußball in Mexiko gut vertreten." (SID)

"Es war ein Höhepunkt, wie ihn der World Cup verdient hat. West-Deutschland kommt das Verdienst zu, ein zeitweise prosaisches Spiel in ein Match verwandelt zu haben, an das man sich erinnern wird." (Guardian/England)

"Maradona ist der König der Welt." (Gazetta dello Sport/Italien)

###more###