EM-Triumph 1996: Bierhoff schießt das erste "Golden Goal"

Heute vor 25 Jahren gewann Deutschland zum dritten Mal die Europameisterschaft durch das erste "Golden Goal" der Geschichte. In Wembley, wo auch das Finale der EURO 2020 stattfinden wird, bezwang die deutsche Mannschaft Tschechien. DFB.de blickt zurück.

Der Ohrwurm dieser Europameisterschaft wurde einer der populärsten Fußballsongs aller Zeiten und wird in diesen Tagen wieder häufiger gesungen. "Football is coming home", entsprechend dem Motto der britischen Ausrichter, hieß der Song der Gruppe "Three Lions" und er lief bei jedem Spiel. Er lief auch nonstop im Londoner Hotel "The Landmark", wo die deutsche Mannschaft seit dem Einzug ins Halbfinale Quartier bezogen hatte. Genauer gesagt im provisorischen Behandlungsraum, wo das Licht nie ausging. "Wenn ich Masseur gewesen wäre, ich wäre durchgedreht", stöhnte Verteidiger Thomas Helmer.

Die Physiotherapeuten aber brauchten die Dauerberieselung, um nicht vor Erschöpfung einzuschlafen. Nie war die medizinische Abteilung stärker gefordert als in den letzten Tagen dieser EM. "Soweit wir uns zurückerinnern können, gab es bei einem Turnier noch nie so viele Verletzungen. Und alle sind durch Zweikämpfe und Tacklings entstanden, nicht durch Übermüdung. Da durften wir die Spieler unsere eigene Erschöpfung nicht spüren lassen", berichtete Klaus Eder, einer von drei Physios, im Rückblick.

"Im Acht-Stunden-Rhytmus behandelten wir ihn Tag und Nacht"

Vor dem Finale, in das es auch Auftaktgegner Tschechien geschafft hatte, war die Lage beinahe grotesk. Bundestrainer Berti Vogts zählte seine Ausfälle: Andy Möller und Stefan Reuter gesperrt, Steffen Freund (Kreuzbandriss im Halbfinale gegen England) fiel nun auch aus, Jürgen Kohler, Mario Basler und Fredi Bobic waren schon abgereist. Mehr oder weniger stark angeschlagen waren Jürgen Klinsmann (Vogts: "Zu 99 Prozent spielt er nicht"), Stefan Kuntz, Helmer, Christian Ziege und Marco Bode.

Am Freitag trainierte Vogts nur mit acht Feldspielern und der DFB bestellte aus der Heimat Feldspielertrikots für Oliver Kahn und Oliver Reck, die Pressesprecher Wolfgang Niersbach demonstrativ zur Pressekonferenz mitbrachte, um die UEFA zu Nachsicht zu bewegen. Wegen "höherer Gewalt" beantragte der DFB die Nachnominierung von zwei Spielern. Man traf sich in der Mitte, ein Nachrücker wurde erlaubt und so erhielt der Neu-Bremer Jens Todt knapp 48 Stunden vor dem Finale in einem Restaurant einen Anruf von Vogts. Zum Glück zählte Todt schon zu den Privilegierten, die Handys besaßen. In den Kader durfte er aber nur, wenn höchstens zwölf gesunde Feldspieler zur Verfügung standen. Todt wurde dann doch nicht gebraucht, die Mediziner vollbrachten wahre Wunder. Klinsmann und Helmer, das entschied sich erst am Spieltag, konnten spielen.

Die Arbeit der DFB-Ärzte um Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, die Klinsmann (Muskelfaserriss in der Wade) in nur sieben Tagen wieder hin bekamen und rund um die Uhr arbeiteten, wurde hoch geschätzt. Müller-Wohlfahrt hatte Klinsmann nach dem Kroatien-Spiel das EM-Aus bedeutet, doch der Kapitän weigerte sich das zu akzeptieren. Der Arzt berichtete: "Er bat uns, alles zu versuchen, damit er schnell wieder spielfähig werde und er vielleicht doch noch am Finale teilnehmen könne. Im Acht-Stunden-Rhythmus behandelten wir ihn Tag und Nacht – eine Woche lang. Um keinem Druck ausgesetzt zu sein, habe ich dann mit Jürgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein erstes Lauftraining absolviert." Den letzten Test bestand er Minuten vor dem Anpfiff (20.30 Uhr), er sprintete und schoss und stellte sich dann mit den Worten "Doc, ich spür nix" selbst auf. Womit Oliver Bierhoff zunächst um seinen Einsatz kam.

Kohl und die Queen: EM-Finale vor prominenten Gästen

Mit Bode und Rene Schneider nahm er auf der Tribüne Platz, wo in England auch die Reservisten in einem abgetrennten Bereich sitzen. Mit nur drei Ersatz-Feldspielern ging Deutschland in sein fünftes EM-Finale. Die offizielle Aufstellung wurde den Journalisten erst 35 Minuten vor Anpfiff ausgehändigt, normal waren zwei Stunden.

Für die Tschechen war es das zweite Finale und wie 1976 ging es gegen die Deutschen. Der damalige Torwart Viktor gehörte nun zum Betreuer-Stab und war ein gefragter Interview-Partner vor dem Finale. Wie damals waren sie Außenseiter, erst recht nach dem 0:2 im Gruppenspiel. Niemand hatte sie im Finale erwartet, sie sich selbst auch nicht. Aber an ihren Lanzen baumelten die Skalps von Portugal, Frankreich und Italien. Eine Prämie für den Sieg mussten sie noch schnell aushandeln (umgerechnet 100.000 DM) und es war bezeichnend, dass Stürmer Vladimir Smicer drei Tage vor dem Finale nach Prag flog, um zu heiraten. Mit Miro Kadlec und Pavel Kuka vom Absteiger 1. FC Kaiserslautern, dem Dortmunder Patrick Berger (mit leichtem Fieber) und dem Schalker Jiri Nemec stand ein Bundesliga-Quartett in der Startelf. Während bei den Tschechen noch neun Spieler aufliefen, die schon beim Vorrundenspiel in Manchester dabei waren, waren es bei den Deutschen nur sieben.

In der Heimat fieberten die Menschen neuerdings auch vor Großleinwänden mit, in Dortmund versammelten sich 8000 auf dem Borsig-Platz. Auch auf der Hamburger Reeperbahn und auf dem Berliner Ku’Damm gab es große Final-Partys. Die ZDF-Übertragung sahen 32,31 Millionen Menschen. Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich das Liverlebnis nicht entgehen und kam zum zweiten Mal – nach dem 0:0 gegen Italien – nach England. Neben ihm tummelte sich die Prominenz aus Politik und Sport. Vaclav Havel, der tschechische Präsident, saß neben der Queen, eingerahmt von Englands Premier John Major und FIFA-Präsident Joao Havelange. Boris Becker, zwei Tage zuvor in Wimbledon schon in der 3. Runde ausgeschieden, drückte die Daumen trotz verletzter rechter Hand, Franz Beckenbauer und Bobby Charlton durften auch nicht fehlen. Bei den Hymnen erhielten die deutschen Fans Nachhilfe-Unterricht, der Text lief – leicht fehlerhaft ("Blüht im Glänze…)" – über die Anzeigetafel.

Eilts muss schwer verletzt raus

Tore erschienen dort lange nicht. Wie das Halbfinale gegen England (7:6 nach Elfmeterschießen) war auch das Endspiel ein zwar intensives und spannendes, aber chancenarmes, Spiel. Die Deutschen begannen immerhin druckvoll, hatten nach sieben Minuten schon vier Ecken erspielt – und einen Elfmeter nicht bekommen, nach Foul von Karel Rada an Mehmet Scholl. Die Tschechen hielten an ihrer antiquierten Manndeckung fest, was ZDF-Reporter Bela Rethy so kommentierte: "Ein ungewöhnliches System, aber man kommt damit immerhin ins Finale einer EM."

Auch blieben sie ihrer abwartenden Taktik treu, wenn der schnelle Kuka und der von halb Europa gejagte Karel Poborsky durchbrachen, rutschte so manchem deutschen Fan das Herz in die Hose. Wie in der 44. Minute, als Kuka nach einem Fehler von Dieter Eilts in den Strafraum eindrang und um Zentimeter vergab. Es war die größte Chance vor der Pause, kurz zuvor hatte Kuntz freistehend Torwart Petr Kouba angeschossen, der Ball flog im hohen Bogen aufs leere Tor, doch Rada schlug ihn artistisch ins Feld zurück. Nach Chancen stand es 1:1, nach Ballbesitz, den man damals zu messen begann, 60:40 (in Prozent). Unter Beifall gingen die Aktiven in die Kabinen, aus denen Eilts nicht mehr zurückkehrte, als der italienische Schiedsrichter Pierluigi Pairetto wieder anpfiff. Der Bremer führte die unendliche Verletzungssaga fort, er ging nach einem Pressschlag mit Nemec an der Mittellinie zu Boden und machte schon vor den Ärzten das Wechselzeichen. Fußballer wissen, wenn das Knie kaputt ist.

Ein Elfer, der keiner war: Tschechien geht in Führung

Sein Klub-Kamerad Bode löste ihn ab, er war der offensivere Spieler. Die defensive Variante wäre der Rostocker Schneider gewesen, auch der lief sich warm und hoffte lange – und doch vergeblich – auf sein EM-Debüt. Gerade lobte Rethy trotz der Eilts-Tragödie das "sehr faire Finale" ohne jegliche Karte, da senste Michael Hornak Joker Bode um – nun war Farbe im Spiel. Drei Verwarnungen exklusiv für Deutsche (Helmer, Sammer, Ziege) sollten folgen. Nach knapp einer Stunde gab es sogar Elfmeter – wie im Finale 1980 gegen Belgien und wie in Rom völlig unberechtigt. Matthias Sammer hatte den schnelleren Poborsky zwar gelegt, aber einen halben Meter vor dem Strafraum. Das erkannte auch Bela Rethy erst in der Zeitlupe, die Vorwürfe an den Italiener an der Pfeife hielten sich in Grenzen. Aber seit jener 59. Minute lief die deutsche Elf erst zum zweiten Mal bei dieser EM einem Rückstand hinterher, denn Berger drosch den Ball flach und humorlos in die Tormitte.

Es gab gewiss selten einen glücklicher verwandelten Final-Elfmeter, der Ball rutschte Andreas Köpke unter den Achseln durch. Kurz waren die Deutschen geschockt, dann schüttelten sie sich und nährten wieder den Mythos der Turnier-Mannschaft, die nie aufgibt. Verursacher Sammer stand zwar kurz am Rande der Resignation, aber Kuntz faltete ihn zusammen ("Jammern kannst du hinterher") und packte den stürmenden Libero an der Ehre. Vogts spielte derweil seinen letzten Trumpf: Oliver Bierhoff. Es war erst dessen dritter EM-Einsatz, der bienenfleißige und couragierte, aber glücklose Scholl musste gehen. Es war die Brechstangen-Lösung, Deutschland hatte nun 14 Zentimeter und 17 Kilogramm mehr auf dem Platz als vorher. Und mit Klinsmann, dem Rethy bis dahin attestierte bloß "eher eine moralische Stütze" zu sein, Kuntz und Bierhoff drei Mittelstürmer.

Erstes Golden Goal: Bierhoff schreibt Geschichte

Mit Bierhoff ging das Flutlicht an und vier Minuten nach seiner Einwechslung lachte über Deutschland wieder die Sonne. Einen von Thomas Strunz erkämpften Freistoß servierte Ziege präzise auf den Kopf des unbedrängten Bierhoff und der machte aus vier Metern das 1:1. So stand es auch nach 90 Minuten, obwohl es auf beiden Seiten noch Chancen gab. In die Verlängerung wollte keiner, das war zu spüren. Beide hatten das Psycho-Drama mit der Angst vor dem "Golden Goal" erst im Halbfinale hinter sich bringen müssen. Doch weder Klinsmann (84.) noch Tschechen-Joker Smicer (89.) hatten Schussglück. Also doch Verlängerung nach "einem guten, engagierten EM-Finale 1996", wie Rethy urteilte. Ein Spiel, das vor allem von der Spannung lebte, die nun gesteigert werden sollte. Die ganze Welt wartete immer noch auf das erste Golden Goal, das zur EM zwar eingeführt, aber in vier Verlängerungen nicht gefallen war. Und hätte Bode, wie er nicht ohne Stolz anmerkte, "andersrum" oder doch "hierum" (Bierhoff: "Ich hab’s gar nicht richtig verstanden") gerufen, wer weiß?

So aber drehte sich Bierhoff in der 94. Minute an der Strafraumgrenze nach Helmers 60-Meter-Pass und Klinsmanns Vorlage links um seinen Widersacher und schoss gar nicht sonderlich fest in die Tormitte. Aber Peter Kouba, der Pechvogel im Tschechen-Tor, ließ den leicht abgefälschten Ball durch die Hände rutschen. Stefan Kuntz schaute noch kurz zu, wohin er denn rollte und verkniff sich einzugreifen, "denn ich stand abseits". Dann war es vollbracht. Deutschland war zum dritten Mal Europameister und Berti Vogts in seinem 75. Länderspiel zum ersten Mal im Mittelpunkt der Ovationen. Von den deutschen Fans gefordert, machte er "die Welle". Ein schier surreales Bild am Tag seines größten Triumphes. Währenddessen schleppten sich die geschlagenen Tschechen die 39 Stufen hoch zur Siegerehrung, einige konnten schon wieder lachen. Ihre Fans waren trotzdem stolz auf die Elf von Dusan Uhrin.

Dann waren die Deutschen an der Reihe. Kurz war die Pokalübergabe noch gefährdet, weil Kuntz und Scholl darüber diskutierten, ob sie eigentlich die Queen küssen dürften. Sie ließen es dann doch und küssten lieber ihre Frauen, die sie auf dem Bankett wieder sahen. Den Ort ihres für 18 Jahre letzten Titeltriumphes verließ die Nationalmannschaft mit der denkbar passenden Begleitmusik. Sie haben nämlich noch einen wunderbaren Song in England, den Fußballer lieben: "We Are the Champions" von Queen.

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Heute vor 25 Jahren gewann Deutschland zum dritten Mal die Europameisterschaft durch das erste "Golden Goal" der Geschichte. In Wembley, wo auch das Finale der EURO 2020 stattfinden wird, bezwang die deutsche Mannschaft Tschechien. DFB.de blickt zurück.

Der Ohrwurm dieser Europameisterschaft wurde einer der populärsten Fußballsongs aller Zeiten und wird in diesen Tagen wieder häufiger gesungen. "Football is coming home", entsprechend dem Motto der britischen Ausrichter, hieß der Song der Gruppe "Three Lions" und er lief bei jedem Spiel. Er lief auch nonstop im Londoner Hotel "The Landmark", wo die deutsche Mannschaft seit dem Einzug ins Halbfinale Quartier bezogen hatte. Genauer gesagt im provisorischen Behandlungsraum, wo das Licht nie ausging. "Wenn ich Masseur gewesen wäre, ich wäre durchgedreht", stöhnte Verteidiger Thomas Helmer.

Die Physiotherapeuten aber brauchten die Dauerberieselung, um nicht vor Erschöpfung einzuschlafen. Nie war die medizinische Abteilung stärker gefordert als in den letzten Tagen dieser EM. "Soweit wir uns zurückerinnern können, gab es bei einem Turnier noch nie so viele Verletzungen. Und alle sind durch Zweikämpfe und Tacklings entstanden, nicht durch Übermüdung. Da durften wir die Spieler unsere eigene Erschöpfung nicht spüren lassen", berichtete Klaus Eder, einer von drei Physios, im Rückblick.

"Im Acht-Stunden-Rhytmus behandelten wir ihn Tag und Nacht"

Vor dem Finale, in das es auch Auftaktgegner Tschechien geschafft hatte, war die Lage beinahe grotesk. Bundestrainer Berti Vogts zählte seine Ausfälle: Andy Möller und Stefan Reuter gesperrt, Steffen Freund (Kreuzbandriss im Halbfinale gegen England) fiel nun auch aus, Jürgen Kohler, Mario Basler und Fredi Bobic waren schon abgereist. Mehr oder weniger stark angeschlagen waren Jürgen Klinsmann (Vogts: "Zu 99 Prozent spielt er nicht"), Stefan Kuntz, Helmer, Christian Ziege und Marco Bode.

Am Freitag trainierte Vogts nur mit acht Feldspielern und der DFB bestellte aus der Heimat Feldspielertrikots für Oliver Kahn und Oliver Reck, die Pressesprecher Wolfgang Niersbach demonstrativ zur Pressekonferenz mitbrachte, um die UEFA zu Nachsicht zu bewegen. Wegen "höherer Gewalt" beantragte der DFB die Nachnominierung von zwei Spielern. Man traf sich in der Mitte, ein Nachrücker wurde erlaubt und so erhielt der Neu-Bremer Jens Todt knapp 48 Stunden vor dem Finale in einem Restaurant einen Anruf von Vogts. Zum Glück zählte Todt schon zu den Privilegierten, die Handys besaßen. In den Kader durfte er aber nur, wenn höchstens zwölf gesunde Feldspieler zur Verfügung standen. Todt wurde dann doch nicht gebraucht, die Mediziner vollbrachten wahre Wunder. Klinsmann und Helmer, das entschied sich erst am Spieltag, konnten spielen.

Die Arbeit der DFB-Ärzte um Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, die Klinsmann (Muskelfaserriss in der Wade) in nur sieben Tagen wieder hin bekamen und rund um die Uhr arbeiteten, wurde hoch geschätzt. Müller-Wohlfahrt hatte Klinsmann nach dem Kroatien-Spiel das EM-Aus bedeutet, doch der Kapitän weigerte sich das zu akzeptieren. Der Arzt berichtete: "Er bat uns, alles zu versuchen, damit er schnell wieder spielfähig werde und er vielleicht doch noch am Finale teilnehmen könne. Im Acht-Stunden-Rhythmus behandelten wir ihn Tag und Nacht – eine Woche lang. Um keinem Druck ausgesetzt zu sein, habe ich dann mit Jürgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein erstes Lauftraining absolviert." Den letzten Test bestand er Minuten vor dem Anpfiff (20.30 Uhr), er sprintete und schoss und stellte sich dann mit den Worten "Doc, ich spür nix" selbst auf. Womit Oliver Bierhoff zunächst um seinen Einsatz kam.

Kohl und die Queen: EM-Finale vor prominenten Gästen

Mit Bode und Rene Schneider nahm er auf der Tribüne Platz, wo in England auch die Reservisten in einem abgetrennten Bereich sitzen. Mit nur drei Ersatz-Feldspielern ging Deutschland in sein fünftes EM-Finale. Die offizielle Aufstellung wurde den Journalisten erst 35 Minuten vor Anpfiff ausgehändigt, normal waren zwei Stunden.

Für die Tschechen war es das zweite Finale und wie 1976 ging es gegen die Deutschen. Der damalige Torwart Viktor gehörte nun zum Betreuer-Stab und war ein gefragter Interview-Partner vor dem Finale. Wie damals waren sie Außenseiter, erst recht nach dem 0:2 im Gruppenspiel. Niemand hatte sie im Finale erwartet, sie sich selbst auch nicht. Aber an ihren Lanzen baumelten die Skalps von Portugal, Frankreich und Italien. Eine Prämie für den Sieg mussten sie noch schnell aushandeln (umgerechnet 100.000 DM) und es war bezeichnend, dass Stürmer Vladimir Smicer drei Tage vor dem Finale nach Prag flog, um zu heiraten. Mit Miro Kadlec und Pavel Kuka vom Absteiger 1. FC Kaiserslautern, dem Dortmunder Patrick Berger (mit leichtem Fieber) und dem Schalker Jiri Nemec stand ein Bundesliga-Quartett in der Startelf. Während bei den Tschechen noch neun Spieler aufliefen, die schon beim Vorrundenspiel in Manchester dabei waren, waren es bei den Deutschen nur sieben.

In der Heimat fieberten die Menschen neuerdings auch vor Großleinwänden mit, in Dortmund versammelten sich 8000 auf dem Borsig-Platz. Auch auf der Hamburger Reeperbahn und auf dem Berliner Ku’Damm gab es große Final-Partys. Die ZDF-Übertragung sahen 32,31 Millionen Menschen. Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich das Liverlebnis nicht entgehen und kam zum zweiten Mal – nach dem 0:0 gegen Italien – nach England. Neben ihm tummelte sich die Prominenz aus Politik und Sport. Vaclav Havel, der tschechische Präsident, saß neben der Queen, eingerahmt von Englands Premier John Major und FIFA-Präsident Joao Havelange. Boris Becker, zwei Tage zuvor in Wimbledon schon in der 3. Runde ausgeschieden, drückte die Daumen trotz verletzter rechter Hand, Franz Beckenbauer und Bobby Charlton durften auch nicht fehlen. Bei den Hymnen erhielten die deutschen Fans Nachhilfe-Unterricht, der Text lief – leicht fehlerhaft ("Blüht im Glänze…)" – über die Anzeigetafel.

Eilts muss schwer verletzt raus

Tore erschienen dort lange nicht. Wie das Halbfinale gegen England (7:6 nach Elfmeterschießen) war auch das Endspiel ein zwar intensives und spannendes, aber chancenarmes, Spiel. Die Deutschen begannen immerhin druckvoll, hatten nach sieben Minuten schon vier Ecken erspielt – und einen Elfmeter nicht bekommen, nach Foul von Karel Rada an Mehmet Scholl. Die Tschechen hielten an ihrer antiquierten Manndeckung fest, was ZDF-Reporter Bela Rethy so kommentierte: "Ein ungewöhnliches System, aber man kommt damit immerhin ins Finale einer EM."

Auch blieben sie ihrer abwartenden Taktik treu, wenn der schnelle Kuka und der von halb Europa gejagte Karel Poborsky durchbrachen, rutschte so manchem deutschen Fan das Herz in die Hose. Wie in der 44. Minute, als Kuka nach einem Fehler von Dieter Eilts in den Strafraum eindrang und um Zentimeter vergab. Es war die größte Chance vor der Pause, kurz zuvor hatte Kuntz freistehend Torwart Petr Kouba angeschossen, der Ball flog im hohen Bogen aufs leere Tor, doch Rada schlug ihn artistisch ins Feld zurück. Nach Chancen stand es 1:1, nach Ballbesitz, den man damals zu messen begann, 60:40 (in Prozent). Unter Beifall gingen die Aktiven in die Kabinen, aus denen Eilts nicht mehr zurückkehrte, als der italienische Schiedsrichter Pierluigi Pairetto wieder anpfiff. Der Bremer führte die unendliche Verletzungssaga fort, er ging nach einem Pressschlag mit Nemec an der Mittellinie zu Boden und machte schon vor den Ärzten das Wechselzeichen. Fußballer wissen, wenn das Knie kaputt ist.

Ein Elfer, der keiner war: Tschechien geht in Führung

Sein Klub-Kamerad Bode löste ihn ab, er war der offensivere Spieler. Die defensive Variante wäre der Rostocker Schneider gewesen, auch der lief sich warm und hoffte lange – und doch vergeblich – auf sein EM-Debüt. Gerade lobte Rethy trotz der Eilts-Tragödie das "sehr faire Finale" ohne jegliche Karte, da senste Michael Hornak Joker Bode um – nun war Farbe im Spiel. Drei Verwarnungen exklusiv für Deutsche (Helmer, Sammer, Ziege) sollten folgen. Nach knapp einer Stunde gab es sogar Elfmeter – wie im Finale 1980 gegen Belgien und wie in Rom völlig unberechtigt. Matthias Sammer hatte den schnelleren Poborsky zwar gelegt, aber einen halben Meter vor dem Strafraum. Das erkannte auch Bela Rethy erst in der Zeitlupe, die Vorwürfe an den Italiener an der Pfeife hielten sich in Grenzen. Aber seit jener 59. Minute lief die deutsche Elf erst zum zweiten Mal bei dieser EM einem Rückstand hinterher, denn Berger drosch den Ball flach und humorlos in die Tormitte.

Es gab gewiss selten einen glücklicher verwandelten Final-Elfmeter, der Ball rutschte Andreas Köpke unter den Achseln durch. Kurz waren die Deutschen geschockt, dann schüttelten sie sich und nährten wieder den Mythos der Turnier-Mannschaft, die nie aufgibt. Verursacher Sammer stand zwar kurz am Rande der Resignation, aber Kuntz faltete ihn zusammen ("Jammern kannst du hinterher") und packte den stürmenden Libero an der Ehre. Vogts spielte derweil seinen letzten Trumpf: Oliver Bierhoff. Es war erst dessen dritter EM-Einsatz, der bienenfleißige und couragierte, aber glücklose Scholl musste gehen. Es war die Brechstangen-Lösung, Deutschland hatte nun 14 Zentimeter und 17 Kilogramm mehr auf dem Platz als vorher. Und mit Klinsmann, dem Rethy bis dahin attestierte bloß "eher eine moralische Stütze" zu sein, Kuntz und Bierhoff drei Mittelstürmer.

Erstes Golden Goal: Bierhoff schreibt Geschichte

Mit Bierhoff ging das Flutlicht an und vier Minuten nach seiner Einwechslung lachte über Deutschland wieder die Sonne. Einen von Thomas Strunz erkämpften Freistoß servierte Ziege präzise auf den Kopf des unbedrängten Bierhoff und der machte aus vier Metern das 1:1. So stand es auch nach 90 Minuten, obwohl es auf beiden Seiten noch Chancen gab. In die Verlängerung wollte keiner, das war zu spüren. Beide hatten das Psycho-Drama mit der Angst vor dem "Golden Goal" erst im Halbfinale hinter sich bringen müssen. Doch weder Klinsmann (84.) noch Tschechen-Joker Smicer (89.) hatten Schussglück. Also doch Verlängerung nach "einem guten, engagierten EM-Finale 1996", wie Rethy urteilte. Ein Spiel, das vor allem von der Spannung lebte, die nun gesteigert werden sollte. Die ganze Welt wartete immer noch auf das erste Golden Goal, das zur EM zwar eingeführt, aber in vier Verlängerungen nicht gefallen war. Und hätte Bode, wie er nicht ohne Stolz anmerkte, "andersrum" oder doch "hierum" (Bierhoff: "Ich hab’s gar nicht richtig verstanden") gerufen, wer weiß?

So aber drehte sich Bierhoff in der 94. Minute an der Strafraumgrenze nach Helmers 60-Meter-Pass und Klinsmanns Vorlage links um seinen Widersacher und schoss gar nicht sonderlich fest in die Tormitte. Aber Peter Kouba, der Pechvogel im Tschechen-Tor, ließ den leicht abgefälschten Ball durch die Hände rutschen. Stefan Kuntz schaute noch kurz zu, wohin er denn rollte und verkniff sich einzugreifen, "denn ich stand abseits". Dann war es vollbracht. Deutschland war zum dritten Mal Europameister und Berti Vogts in seinem 75. Länderspiel zum ersten Mal im Mittelpunkt der Ovationen. Von den deutschen Fans gefordert, machte er "die Welle". Ein schier surreales Bild am Tag seines größten Triumphes. Währenddessen schleppten sich die geschlagenen Tschechen die 39 Stufen hoch zur Siegerehrung, einige konnten schon wieder lachen. Ihre Fans waren trotzdem stolz auf die Elf von Dusan Uhrin.

Dann waren die Deutschen an der Reihe. Kurz war die Pokalübergabe noch gefährdet, weil Kuntz und Scholl darüber diskutierten, ob sie eigentlich die Queen küssen dürften. Sie ließen es dann doch und küssten lieber ihre Frauen, die sie auf dem Bankett wieder sahen. Den Ort ihres für 18 Jahre letzten Titeltriumphes verließ die Nationalmannschaft mit der denkbar passenden Begleitmusik. Sie haben nämlich noch einen wunderbaren Song in England, den Fußballer lieben: "We Are the Champions" von Queen.

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