Die erste Niederlage im ersten Länderspiel

In Basel fing alles an. Am 5. April 1908, heute vor 110 Jahren, fand hier das allererste deutsche Länderspiel statt. Die Schweiz gewann mit 5:3. Vieles ist seitdem besser geworden, nicht nur das Ergebnis. Der Historiker Udo Muras scheibt für DFB.de über ein historisches Fußballspiel in der Kaiser-Zeit.

Es ist Sonntag, der 5. April 1908. Alles ist anscheinend wichtiger als das, was sich an diesem Nachmittag hinter der Schweizer Grenze auf dem "Landhof" in Basel ereignen wird – das erste von mittlerweile rund 940 Fußball-Länderspielen der deutschen Nationalmannschaft. Es dient der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in London im Oktober, zu denen der Deutsche Fußball-Bund erstmals ein Team entsenden will.

Von der Austragung der Premiere haben die Leser der in Berlin führenden Morgenpost erstmals am 20. März unter der Rubrik "Allerlei Sport" erfahren – 15 Zeilen mit den Namen der nominierten elf Spieler. Von den meisten werden sie nie gehört haben, sie kommen aus allen Teilen des Reiches: vier Süddeutsche, drei Westdeutsche, zwei Mitteldeutsche, ein Nord-deutscher und ein Berliner. Das Durchschnittsalter beträgt 21,5 Jahre. Da es keinen Bundestrainer gibt, hat der 1900 gegründete DFB auf dem Bundestag im Februar "nach heftigen Debatten" eine Proporz-Lösung beschlossen.

"Demokratische" deutsche Elf

Die Landesverbände teilen sich die Mannschaftsteile auf, wobei die Größe eine wesentliche Rolle spielt. Der kleine Berliner Verband darf nur den Torwart nominieren, der Mitteldeutsche die Abwehr, der Süddeutsche fast die komplette Sturmreihe. Es ist nicht die beste deutsche Elf, aber sicher die demokratischste.

Kurz vor der Abreise gibt es zwei Absagen, der Leipziger Heinrich Riso und der Stuttgarter Otto Löble verletzen sich und kommen also nicht mit aufs legendäre Premierenfoto. Den Fotografen stellen sich: Fritz Baumgarten (im Tor), Walter Hempel und Ernst Jordan in der Abwehr, Karl Ludwig, Arthur Hiller und Hans Weymar (sie sind die Läufer) und im Sturm Gustav Hensel, Fritz Förderer, Eugen Kipp, Fritz Becker und Willy Baumgärtner. Fünf von ihnen machen zwei Spiele auf einmal – ihr erstes und ihr letztes.

Auch Fritz Becker ist eine Eintagsfliege, dabei geht er als erster Torschütze in die Annalen des DFB ein. Den Schilderungen des Frankfurter Oberprimaners ist es zu verdanken, dass die Premiere als recht chaotische Veranstaltung wahrgenommen wurde. Demnach hat er von der Nominierung aus der Zeitung erfahren und in dem Brief kurz vor der Abreise sei nur die Kleiderordnung geregelt worden – man forderte einen dunklen Anzug oder Smoking, schließlich gab es noch ein Bankett nach dem Spiel und auch da galt es eine gute Figur zu machen.

"Eine freudige Schar unserer Fußball-Jünger"

Auf der einsamen Bahnfahrt nach Basel musste er mit anhören, wie sich zwei Damen darüber echauffierten, dass in Berlin ab diesem Sommer künftig Männer und Frauen gemeinsam ins Freibad dürften. In Zeiten wie diesen hatten es auch Fußballer, die ihre nackten Waden zeigten, schwer. Doch der Siegeszug des Fußballs war ebenso wenig aufzuhalten wie der Zug nach Basel, der die Hälfte der Nationalmannschaft transportierte. "Der 4. April sah eine freudige Schar unserer Fußball-Jünger durch die frühlingsfrischen Gauen des deutschen Vaterlands eilen, um sich mit hochgesinnten Sportsbrüdern im friedlichen Basel ein Stelldichein zu geben. Die Sonne überstrahlte die Ebenen – frohen Mut in der Brust eines jeden hervorrufend. Wir werden gewinnen!"

So pathetisch steht es im DFB-Jahrbuch von 1908. Am Bahnhof von Basel werden sie von einer großen Menge – manche schätzen sie auf 2000 Menschen – empfangen. Im Hotel Metropol machen sich die Spieler miteinander bekannt, man siezt sich. Becker ist froh, als abends die Süddeutschen mit dem Zug aus München eintreffen, die Kollegen immerhin kennt er von den Meisterschaftsspielen. Ein Training findet nicht mehr statt und um zehn Uhr ist Bettruhe.

Am Spieltag finden sich die kommenden Nationalspieler um neun Uhr morgens zum "Kleiderappell" im Zimmer des Kassierers Dehm ein und greifen sich die schwarzweißen Trikots mit dem Adler auf der Brust.Die meisten sind zu groß oder weit, der DFB geht auf Nummer sicher – besser als zu klein und eng. Danach erteilt Delegationsleiter Kubaseck Anstandsunterricht, auf dem Bankett dürfe keiner aus der Rolle fallen. An eine Spielersitzung kann sich niemand erinnern – und es bleibt auch keine Zeit. Um zehn Uhr holt eine Schweizer Dele-gation das Team, "zur frohen Fahrt durch die Stadt" ab.



In Basel fing alles an. Am 5. April 1908, heute vor 110 Jahren, fand hier das allererste deutsche Länderspiel statt. Die Schweiz gewann mit 5:3. Vieles ist seitdem besser geworden, nicht nur das Ergebnis. Der Historiker Udo Muras scheibt für DFB.de über ein historisches Fußballspiel in der Kaiser-Zeit.

Es ist Sonntag, der 5. April 1908. Alles ist anscheinend wichtiger als das, was sich an diesem Nachmittag hinter der Schweizer Grenze auf dem "Landhof" in Basel ereignen wird – das erste von mittlerweile rund 940 Fußball-Länderspielen der deutschen Nationalmannschaft. Es dient der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in London im Oktober, zu denen der Deutsche Fußball-Bund erstmals ein Team entsenden will.

Von der Austragung der Premiere haben die Leser der in Berlin führenden Morgenpost erstmals am 20. März unter der Rubrik "Allerlei Sport" erfahren – 15 Zeilen mit den Namen der nominierten elf Spieler. Von den meisten werden sie nie gehört haben, sie kommen aus allen Teilen des Reiches: vier Süddeutsche, drei Westdeutsche, zwei Mitteldeutsche, ein Nord-deutscher und ein Berliner. Das Durchschnittsalter beträgt 21,5 Jahre. Da es keinen Bundestrainer gibt, hat der 1900 gegründete DFB auf dem Bundestag im Februar "nach heftigen Debatten" eine Proporz-Lösung beschlossen.

"Demokratische" deutsche Elf

Die Landesverbände teilen sich die Mannschaftsteile auf, wobei die Größe eine wesentliche Rolle spielt. Der kleine Berliner Verband darf nur den Torwart nominieren, der Mitteldeutsche die Abwehr, der Süddeutsche fast die komplette Sturmreihe. Es ist nicht die beste deutsche Elf, aber sicher die demokratischste.

Kurz vor der Abreise gibt es zwei Absagen, der Leipziger Heinrich Riso und der Stuttgarter Otto Löble verletzen sich und kommen also nicht mit aufs legendäre Premierenfoto. Den Fotografen stellen sich: Fritz Baumgarten (im Tor), Walter Hempel und Ernst Jordan in der Abwehr, Karl Ludwig, Arthur Hiller und Hans Weymar (sie sind die Läufer) und im Sturm Gustav Hensel, Fritz Förderer, Eugen Kipp, Fritz Becker und Willy Baumgärtner. Fünf von ihnen machen zwei Spiele auf einmal – ihr erstes und ihr letztes.

Auch Fritz Becker ist eine Eintagsfliege, dabei geht er als erster Torschütze in die Annalen des DFB ein. Den Schilderungen des Frankfurter Oberprimaners ist es zu verdanken, dass die Premiere als recht chaotische Veranstaltung wahrgenommen wurde. Demnach hat er von der Nominierung aus der Zeitung erfahren und in dem Brief kurz vor der Abreise sei nur die Kleiderordnung geregelt worden – man forderte einen dunklen Anzug oder Smoking, schließlich gab es noch ein Bankett nach dem Spiel und auch da galt es eine gute Figur zu machen.

"Eine freudige Schar unserer Fußball-Jünger"

Auf der einsamen Bahnfahrt nach Basel musste er mit anhören, wie sich zwei Damen darüber echauffierten, dass in Berlin ab diesem Sommer künftig Männer und Frauen gemeinsam ins Freibad dürften. In Zeiten wie diesen hatten es auch Fußballer, die ihre nackten Waden zeigten, schwer. Doch der Siegeszug des Fußballs war ebenso wenig aufzuhalten wie der Zug nach Basel, der die Hälfte der Nationalmannschaft transportierte. "Der 4. April sah eine freudige Schar unserer Fußball-Jünger durch die frühlingsfrischen Gauen des deutschen Vaterlands eilen, um sich mit hochgesinnten Sportsbrüdern im friedlichen Basel ein Stelldichein zu geben. Die Sonne überstrahlte die Ebenen – frohen Mut in der Brust eines jeden hervorrufend. Wir werden gewinnen!"

So pathetisch steht es im DFB-Jahrbuch von 1908. Am Bahnhof von Basel werden sie von einer großen Menge – manche schätzen sie auf 2000 Menschen – empfangen. Im Hotel Metropol machen sich die Spieler miteinander bekannt, man siezt sich. Becker ist froh, als abends die Süddeutschen mit dem Zug aus München eintreffen, die Kollegen immerhin kennt er von den Meisterschaftsspielen. Ein Training findet nicht mehr statt und um zehn Uhr ist Bettruhe.

Am Spieltag finden sich die kommenden Nationalspieler um neun Uhr morgens zum "Kleiderappell" im Zimmer des Kassierers Dehm ein und greifen sich die schwarzweißen Trikots mit dem Adler auf der Brust.Die meisten sind zu groß oder weit, der DFB geht auf Nummer sicher – besser als zu klein und eng. Danach erteilt Delegationsleiter Kubaseck Anstandsunterricht, auf dem Bankett dürfe keiner aus der Rolle fallen. An eine Spielersitzung kann sich niemand erinnern – und es bleibt auch keine Zeit. Um zehn Uhr holt eine Schweizer Dele-gation das Team, "zur frohen Fahrt durch die Stadt" ab.

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Ohne Kabinen und Zwischenrufe

Die lange Kutschwagen-Kolonne erregt Aufsehen. Man zeigt den Deutschen den Zoo und es wird sogar Bier getrunken. Gegen 12 Uhr sind sie wieder im Hotel zum Mittagessen. Während sie auf ihren Zimmern dem Anpfiff entgegenfiebern, füllt sich der Sportplatz des FC Basel, der sich Landhof nennt und mit unseren modernen Stadien wenig gemein hat. Eigentlich gibt es nur Stehplätze, aber der Verein als Ausrichter hat extra eine Tribüne für 700 Personen errichtet. Es wird 14 Uhr.

"Die Ungeduldigen machen sich auf die Beine, um sich einen möglichst guten Platz an der Barriere zu sichern. Gruppen junger Leute hasten an uns vorüber, Fiaker und Automobile steuern dem gleichen Ziele zu. Festlich gerüstet ist der tadellose Spielplatz", protokolliert die Fachzeitschrift "Suisse Football". Die Spieler bleiben bis viertel vor drei im Hotel, es gibt schließlich keine Kabinen am Landhof. Dort haben sich zwischen 3000 und 5000 Zuschauer eingefunden, die Angaben schwanken. Darunter auffallend viele Frauen, die mit einer Tafel Schokolade aus den Beständen des Tribünensponsors gelockt werden. "Schokolade LUCERNA isst die ganze Welt!" prangt in großen Lettern von der Tribüne. Werbung im Fußball, ein zeitloses Phänomen.

Im Programmheft werden die Zuschauer gebeten, Zwischenrufe zu unterlassen und möglichst nur zu applaudieren. Reden werden gehalten, während der britische Schiedsrichter Devitte im blauen Straßenanzug und mit Zylinder den Platz begeht und an den Pfosten rüttelt. Weil ihn der deutsche Kapitän Arthur Hiller für einen weiteren Redner hält, verzögert sich der Anpfiff noch etwas.

Schon 58 Jahre vor Wembley ein Wembley-Tor?

Dann, um 15.10 Uhr, rollt der erste Ball in der Geschichte der Nationalmannschaft. Die Schweiz hat Anstoß – und nach sechs Minuten schon wieder. Fritz Becker, Schlussläufer der 4x100-Meter-Staffel seiner Schule, hat abgestaubt. "Der Schweizer Torwächter glaubte nicht eingreifen zu müssen, unterschätzte aber meine Schnelligkeit", erinnert sich Becker 50 Jahre später.

Nun setzt Hagel ein, der in Dauerregen übergeht. "Der schlüpfrige Boden lässt ein sicheres Spiel nicht mehr aufkommen." kommentiert Suisse Football. Einige Deutsche haben buchstäblich einen schweren Stand, der lange Magdeburger Jordan gibt eine bemitleidenswerte Figur ab. Neue Schuhe hat er sich extra gekauft vor seinem Debüt, das er Risos Ausfall verdankt. Nun trabt er nur noch hinterher.

Kurz nach dem Ausgleich von Kämpfer unterläuft ihm ein Eigentor mit dem Kopf. Kubaseck notiert später: "Falls nicht der Back (so nannte man die Verteidiger) Jordan so versagte, wäre es wohl möglich gewesen, ein unentschiedenes Resultat zu erzielen." Ein Sündenbock ist gefunden. Nach drei Gegentoren binnen elf Minuten steht es zur Pause 3:1 für die Schweiz. "Jetzt endlich fand auch bei uns eine Teambesprechung statt", berichtet Becker. Mit Folgen, wie der Schweizer Spieler Lehmann verblüfft feststellt: "Es entwickelte sich ein Wettkampf, als ginge es um Sein oder Nichtsein." Der Karlsruher Fritz Förderer verkürzt schnell auf 3:2. Später werden Mitspieler allerdings "gestehen", es sei kein Tor, sondern nur ein Lattenschuss gewesen. Ist schon 58 Jahre vor Wembley ein Wembley-Tor gefallen? Egal, es wird sich niemals klären lassen. Es gibt noch kein Fernsehen und deshalb hat der Fußball jener Gründertage so manches Geheimnis bewahrt. Die Schweiz erhöht auf 4:2 und nach Beckers zweitem Treffer (69.) in der Schlussminute gar auf 5:3. Ein verdienter Sieg nach einem spannenden Spiel.

Eine Reinigung für 48 Goldmark

Der Schweizer Sportjournalist E. Rüegg tadelt die Deutschen: "Es fehlte der Mannschaft die für ein solches Wettspiel bedingte Begeisterung". Das zumindest hat man in den folgenden 110 Jahren eher selten gehört. In Deutschland spekuliert man über andere Gründe: Die BZ am Mittag wird am folgenden Tag auf sechs Zeilen das Ergebnis ohne Torschützen vermelden, dafür mit dem Kommentar: "Nach diesem Resultat schienen die Schweizer bedeutend unterschätzt gewesen zu sein".

Das Spiel hat übrigens noch ein Nachspiel: Abends um halb sieben sitzen alle beim Bankett im "Bären", Festreden werden gehalten. Delegationsleiter Kubaseck ist zufrieden, seine Jungs machen in ihren roten Schirmmützen mit goldener Aufschrift "DFB" eine gute Figur und sitzen brav unter den Schweizern. Keine besonderen Vorkommnisse. Noch nicht.

Erst gegen drei Uhr in der Früh, als die meisten schon weg sind, hört er es scheppern – und Fritz Becker ist mittendrin im Tumult. Der Schweizer Torwart Dreyfuß hat ihm seine Spezialparade demonstriert und dabei ein Tablett mit Worcester-Soße und Senf abgeräumt. Beckers Leihsmoking ist ruiniert, die Reinigung kostet horrende 48 Goldmark – mehr als ein neuer Anzug. Aber das Erlebnis, das war unbezahlbar.

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