Deutschland und die Elfmeter: Keine reine Nervensache

Heute (ab 21 Uhr, live in der ARD) ist es wieder so weit: England gegen Deutschland, das ewig junge Prestigeduell im Londoner Wembleystadion. Erinnerungen werden wach, an legendäre Elfmeterschießen wie vor 17 Jahren im EM-Halbfinale.

Das Kräftemessen zwischen englischen und deutschen Fußballern zählt zu den Klassikern, spätestens seit Geoffrey Hursts Ball im WM-Finale 1966 von der Latte vor-auf-hinter die Linie sprang. Doch kaum ein Duell ist so in Erinnerung geblieben wie der 26. Juni 1996, als Andreas Köpke, Gareth Southgate und Andreas Möller das EM-Halbfinale im ausverkauften Wembley entschieden.

Der Sportwissenschaftler Georg Froese hat über den Strafstoß promoviert. Für seine Doktorarbeit "Sportpsychologische Einflussfaktoren der Leistung von Elfmeterschützen" erhielt er im Januar den DFB-Wissenschaftspreis. Was also gab damals den Ausschlag? "For you Fritz ze Euro is over", hatte Gascoigne morgens noch auf dem Boulevard gehöhnt, und schon nach drei Minuten führte England durch einen Kopfball von Alan Shearer. Doch Stefan Kuntz schaffte den Ausgleich. Verlängerung, dann der Penalty Shoot-out.

Zehn Schützen, zehn Treffer

"Ein Elfmeterschießen auf höchstem Niveau", sagt Froese. "Nicht nur wurden bis zu Southgates Schuss alle Strafstöße verwandelt, es waren auch harte, platzierte Schüsse." Phänomenal - die ersten zehn Schützen hatten getroffen: Thomas Häßler, Thomas Strunz, Stefan Reuter, Christian Ziege und Stefan Kuntz für Deutschland; Alan Shearer, David Platt, Stuart Pearce, Paul Gascoigne und Teddy Sheringham für England. Dann trat Southgate an gegen Andreas Köpke.

Froese beschreibt den Moment: "Southgate versuchte es flach ins linke Eck. Er war bereits der sechste englische Schütze, bei solchen 'sudden-death-Schüssen' fällt die Trefferquote auf 63 Prozent. Andreas Köpke wurde später zum besten Torhüter der Europameisterschaft gewählt. Konsequent springt er ins linke Eck und pariert den Ball. Vor dem Schuss hatte er auf jedes Störmanöver verzichtet - ein Versäumnis, denn damit kann der Torwart den Plan des Schützen durcheinander bringen."

Mutloser Sicherheitsschuss von Southgate

Froeses Analyse des Southgate-Schusses ist vernichtend: "In angstvollen Situationen sind zwei Reaktionsmuster beim Schützen zu erkennen. 'Fight or flight', also Kampf oder Flucht. Fight wäre in dem Fall das Draufballern, Flight ein mutloser Sicherheitsschuss - wie bei Southgate."

Vor dem Elfmeter war sich Southgate sicher, den Schuss vom Punkt könne man nicht trainieren, der erfolgreiche Elfmeter sei reine Nervensache. Der heutige Trainer der englischen U 21 ist mittlerweile ein Befürworter des Strafstoßtrainings. "Elfmeter sind keine Glückssache", sagt er. "Es geht darum, eine Leistung unter Druck auszuüben. Dazu war ich 1996 nicht in der Lage, ich stand da ziemlich im Dunkeln." Southgate fordert heute "Strategien zur Stressbewältigung für Elfmeterschützen".

Möller mit breiter Brust

Zurück ins Wembleystadion, noch hatte Deutschland nicht gewonnen, noch musste die Tür ins EM-Finale komplett aufgestoßen werden. Das besorgte Andreas Möller, der den Ball mit voller Wucht unter die Latte hämmerte. Froese ist zufrieden: "Der perfekte Elfmeter, die Mitte ist todsicher. Southgate hatte vorher vergeben, Möller war also in einer 'Win-Situation.'

Der Sportwissenschaftler weiter: "In der Qualifikation hatte Möller verschossen, deshalb stand er auch nicht unter den ersten fünf Schützen. Als Kapitän an dem Tag stand er noch unter einem besonderen Druck. Aber dem konnte er standhalten. Schüsse im oberen Drittel, wie der von Möller, besitzen eine deutlich höhere Trefferchance als flache Schüsse. Bis heute hat England sieben von acht Elfmeterschießen bei großen Turnieren verloren, zweimal gegen die Deutschen - ein nationales Trauma."

... und elf weitere Fakten über den Elfmeter

1. Es sind nicht elf Meter, sondern 10,98 Meter, also exakt 12 Yards, so festgelegt im FIFA-Regelwerk - jedenfalls in englischer Sprache. Im deutschen Text stehen natürlich 11 Meter.

2. Karl Wald ist der Erfinder des Elfmeterschießens - der bayerische Schiedsrichter schlug das Elfmeterschießen 1970 auf einer Tagung des Bayerischen Fußball-Verbandes (BFV) vor. Sechs Jahre später hatte sich das Elfmeterschießen auch international durchgesetzt.

3. Die Trefferquote bei Elfmeterschießen liegt niedriger als bei Elfmetern während der regulären Spielzeit. Noch eine Quote: Der letzte Schütze trifft signifikant seltener als der erste. Durchschnittlich werden etwa 75 Prozent aller Elfmeter verwandelt.

4. Die Deutschen gelten zurecht als weltweit beste Elfmeterschützen. Trotz Panenka. Gleich bei ihrem ersten Elfmeterschießen im EM-Finale 1976 unterlag die deutsche Mannschaft gegen die Tschechoslowakei. Seither aber wurden alle Elfmeterschießen bei Welt- und Europameisterschaften gewonnen. Seit Einführung des Elfmeterschießens wurde übrigens jedes fünfte Entscheidungsspiel bei einer Welt- oder Europameisterschaft durch Elfmeter entschieden.

5. Achtung, in Deckung gehen, hier kommt etwas Literatur: In Peter Handkes "Die Angst des Torwarts beim Elfmeter" (1972) formuliert die Hauptfigur Josef Bloch das Problem so: "Der Torwart überlegt, in welche Ecke der andere schießen wird. Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, dass der Torwart sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter, dass der Ball heute einmal in die andere Ecke kommt. Wie aber, wenn der Schütze noch immer mit dem Tormann mitdenkt und nun doch in die übliche Ecke schießen will? Und so weiter, und so weiter."

6. Schützen wählen etwas häufiger ihre "natürliche Seite" (der Rechtsfuß schießt von sich aus gesehen ins linke Eck), die Trefferchance aber ist größer beim Schuss auf die andere Seite.

7. Schüsse im oberen Drittel besitzen eine deutlich höhere Trefferchance als flache Schüsse.

8. Wenn der Torhüter bis zum Ballkontakt des Schützen abwartet, reicht die geringe Flugzeit (0,4 Sekunden) des Balles nicht zum Parieren eines platzierten Schusses aus.

9. Aktuelle Untersuchungen belegen, dass der Torwart durch das hektische Bewegen der Arme vor dem Schuss den Elfmeterschützen beeinflusst - die Trefferquote sinkt.

10. Die Trefferwahrscheinlichkeit bei positiven Schüssen liegt 17 Prozent höher, bei negativen Schüssen 45 Prozent niedriger als bei neutralen Schüssen. Positive Schüsse sind die, mit denen eine Mannschaft gewinnen kann. Negative Schüsse sind die, mit denen im Fall des Fehlschusses das Elfmeterschießen verloren geht.

11. Wer zuerst schießt, gewinnt. Die zuerst antretende Mannschaft gewinnt 60 Prozent der Elfmeterschießen.

[th]

Heute (ab 21 Uhr, live in der ARD) ist es wieder so weit: England gegen Deutschland, das ewig junge Prestigeduell im Londoner Wembleystadion. Erinnerungen werden wach, an legendäre Elfmeterschießen wie vor 17 Jahren im EM-Halbfinale.

Das Kräftemessen zwischen englischen und deutschen Fußballern zählt zu den Klassikern, spätestens seit Geoffrey Hursts Ball im WM-Finale 1966 von der Latte vor-auf-hinter die Linie sprang. Doch kaum ein Duell ist so in Erinnerung geblieben wie der 26. Juni 1996, als Andreas Köpke, Gareth Southgate und Andreas Möller das EM-Halbfinale im ausverkauften Wembley entschieden.

Der Sportwissenschaftler Georg Froese hat über den Strafstoß promoviert. Für seine Doktorarbeit "Sportpsychologische Einflussfaktoren der Leistung von Elfmeterschützen" erhielt er im Januar den DFB-Wissenschaftspreis. Was also gab damals den Ausschlag? "For you Fritz ze Euro is over", hatte Gascoigne morgens noch auf dem Boulevard gehöhnt, und schon nach drei Minuten führte England durch einen Kopfball von Alan Shearer. Doch Stefan Kuntz schaffte den Ausgleich. Verlängerung, dann der Penalty Shoot-out.

Zehn Schützen, zehn Treffer

"Ein Elfmeterschießen auf höchstem Niveau", sagt Froese. "Nicht nur wurden bis zu Southgates Schuss alle Strafstöße verwandelt, es waren auch harte, platzierte Schüsse." Phänomenal - die ersten zehn Schützen hatten getroffen: Thomas Häßler, Thomas Strunz, Stefan Reuter, Christian Ziege und Stefan Kuntz für Deutschland; Alan Shearer, David Platt, Stuart Pearce, Paul Gascoigne und Teddy Sheringham für England. Dann trat Southgate an gegen Andreas Köpke.

Froese beschreibt den Moment: "Southgate versuchte es flach ins linke Eck. Er war bereits der sechste englische Schütze, bei solchen 'sudden-death-Schüssen' fällt die Trefferquote auf 63 Prozent. Andreas Köpke wurde später zum besten Torhüter der Europameisterschaft gewählt. Konsequent springt er ins linke Eck und pariert den Ball. Vor dem Schuss hatte er auf jedes Störmanöver verzichtet - ein Versäumnis, denn damit kann der Torwart den Plan des Schützen durcheinander bringen."

Mutloser Sicherheitsschuss von Southgate

Froeses Analyse des Southgate-Schusses ist vernichtend: "In angstvollen Situationen sind zwei Reaktionsmuster beim Schützen zu erkennen. 'Fight or flight', also Kampf oder Flucht. Fight wäre in dem Fall das Draufballern, Flight ein mutloser Sicherheitsschuss - wie bei Southgate."

Vor dem Elfmeter war sich Southgate sicher, den Schuss vom Punkt könne man nicht trainieren, der erfolgreiche Elfmeter sei reine Nervensache. Der heutige Trainer der englischen U 21 ist mittlerweile ein Befürworter des Strafstoßtrainings. "Elfmeter sind keine Glückssache", sagt er. "Es geht darum, eine Leistung unter Druck auszuüben. Dazu war ich 1996 nicht in der Lage, ich stand da ziemlich im Dunkeln." Southgate fordert heute "Strategien zur Stressbewältigung für Elfmeterschützen".

Möller mit breiter Brust

Zurück ins Wembleystadion, noch hatte Deutschland nicht gewonnen, noch musste die Tür ins EM-Finale komplett aufgestoßen werden. Das besorgte Andreas Möller, der den Ball mit voller Wucht unter die Latte hämmerte. Froese ist zufrieden: "Der perfekte Elfmeter, die Mitte ist todsicher. Southgate hatte vorher vergeben, Möller war also in einer 'Win-Situation.'

Der Sportwissenschaftler weiter: "In der Qualifikation hatte Möller verschossen, deshalb stand er auch nicht unter den ersten fünf Schützen. Als Kapitän an dem Tag stand er noch unter einem besonderen Druck. Aber dem konnte er standhalten. Schüsse im oberen Drittel, wie der von Möller, besitzen eine deutlich höhere Trefferchance als flache Schüsse. Bis heute hat England sieben von acht Elfmeterschießen bei großen Turnieren verloren, zweimal gegen die Deutschen - ein nationales Trauma."

... und elf weitere Fakten über den Elfmeter

1. Es sind nicht elf Meter, sondern 10,98 Meter, also exakt 12 Yards, so festgelegt im FIFA-Regelwerk - jedenfalls in englischer Sprache. Im deutschen Text stehen natürlich 11 Meter.

2. Karl Wald ist der Erfinder des Elfmeterschießens - der bayerische Schiedsrichter schlug das Elfmeterschießen 1970 auf einer Tagung des Bayerischen Fußball-Verbandes (BFV) vor. Sechs Jahre später hatte sich das Elfmeterschießen auch international durchgesetzt.

3. Die Trefferquote bei Elfmeterschießen liegt niedriger als bei Elfmetern während der regulären Spielzeit. Noch eine Quote: Der letzte Schütze trifft signifikant seltener als der erste. Durchschnittlich werden etwa 75 Prozent aller Elfmeter verwandelt.

4. Die Deutschen gelten zurecht als weltweit beste Elfmeterschützen. Trotz Panenka. Gleich bei ihrem ersten Elfmeterschießen im EM-Finale 1976 unterlag die deutsche Mannschaft gegen die Tschechoslowakei. Seither aber wurden alle Elfmeterschießen bei Welt- und Europameisterschaften gewonnen. Seit Einführung des Elfmeterschießens wurde übrigens jedes fünfte Entscheidungsspiel bei einer Welt- oder Europameisterschaft durch Elfmeter entschieden.

5. Achtung, in Deckung gehen, hier kommt etwas Literatur: In Peter Handkes "Die Angst des Torwarts beim Elfmeter" (1972) formuliert die Hauptfigur Josef Bloch das Problem so: "Der Torwart überlegt, in welche Ecke der andere schießen wird. Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, dass der Torwart sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter, dass der Ball heute einmal in die andere Ecke kommt. Wie aber, wenn der Schütze noch immer mit dem Tormann mitdenkt und nun doch in die übliche Ecke schießen will? Und so weiter, und so weiter."

6. Schützen wählen etwas häufiger ihre "natürliche Seite" (der Rechtsfuß schießt von sich aus gesehen ins linke Eck), die Trefferchance aber ist größer beim Schuss auf die andere Seite.

7. Schüsse im oberen Drittel besitzen eine deutlich höhere Trefferchance als flache Schüsse.

8. Wenn der Torhüter bis zum Ballkontakt des Schützen abwartet, reicht die geringe Flugzeit (0,4 Sekunden) des Balles nicht zum Parieren eines platzierten Schusses aus.

9. Aktuelle Untersuchungen belegen, dass der Torwart durch das hektische Bewegen der Arme vor dem Schuss den Elfmeterschützen beeinflusst - die Trefferquote sinkt.

10. Die Trefferwahrscheinlichkeit bei positiven Schüssen liegt 17 Prozent höher, bei negativen Schüssen 45 Prozent niedriger als bei neutralen Schüssen. Positive Schüsse sind die, mit denen eine Mannschaft gewinnen kann. Negative Schüsse sind die, mit denen im Fall des Fehlschusses das Elfmeterschießen verloren geht.

11. Wer zuerst schießt, gewinnt. Die zuerst antretende Mannschaft gewinnt 60 Prozent der Elfmeterschießen.