Beckenbauers Nationalmannschaftsdebüt: "Ich war das Baby"

Größere Interviews gibt Franz Beckenbauer nur noch selten. Für das Magazin "Club der Nationalspieler*innen" macht der 76 Jahre alte Ehrenspielführer der Nationalmannschaft eine Ausnahme. Also machen wir uns auf zu ihm nach Salzburg. Von gesundheitlichen Tiefschlägen noch etwas gezeichnet, beantwortet die Legende des Weltfußballs offen und mit gutem Erinnerungsvermögen die Fragen zu "einem meiner wichtigsten, vielleicht sogar dem wichtigsten Spiel" seiner Profikarriere: seinem ersten Länderspiel am 26. September 1965 gegen Schweden in Stockholm.

DFB.de: Rasunda-Stadion, Stockholm. Was sagt Ihnen diese Fußballstätte heute, Herr Beckenbauer?

Franz Beckenbauer: Natürlich fällt mir dabei auf Anhieb mein erstes Länderspiel ein. Im September 1965 in Schweden gegen Schweden, es war das entscheidende Qualifikationsspiel für die WM 1966. Das Spiel war damals ja fast ein Schicksalsspiel. Gleichzeitig verbinde ich mit dem Rasunda-Stadion und dem Spiel gegen Schweden aber ein ganz besonders emotionales und persönliches Erlebnis.

DFB.de: Wir sind gespannt.

Beckenbauer: Sepp Herberger und Fritz Walter waren als die beiden überragenden Galionsfiguren des WM-Triumphs 1954 zu unserer moralischen Unterstützung in Malente und Stockholm in die Vorbereitungen auf dieses Alles-oder-Nichts-Spiel in Schweden eingebunden. Am Tag vor dem Spiel kam plötzlich Fritz Walter in Sportkleidung auf das Spielfeld und nahm an unserem Abschlusstraining im Rasunda-Stadion teil. Fritz Walter, mein großes, unerreichbares Vorbild, das Idol meiner Jugend- und Teenagerjahre, die ich gerade erst hinter mir hatte! Jetzt stand ich mit ihm, dem 25 Jahre Älteren, erstmals gemeinsam auf dem Rasen und spielte die Bälle mit ihm hin und her. Unglaublich.

DFB.de: Mental gestärkt durch diesen Beistand nahmen Sie dann am Tag darauf entspannt und unbekümmert, locker und unbeeindruckt Ihre Länderspielpremiere in Angriff?

Beckenbauer: So war es natürlich nicht. Ich war ja selbst ziemlich überrascht von meiner Nominierung. Eine gewisse Befangenheit und Nervosität waren schon da, was aber dazugehört beim Anpfiff vor solch einem Spiel. Doch von mir wurden keine Wunderdinge erwartet. Da standen andere viel stärker in der Verantwortung.

DFB.de: In dem Spiel ging es darum, die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1966 in England zu schaffen und damit auch darum, die Chance zu wahren, die Scharten und Schrammen der WM-Teilnahmen 1958 in Schweden und vor allem 1962 in Chile auszuwetzen. Wie sehr bekamen Sie diesen Erwartungsdruck zu spüren?

Beckenbauer: Ich habe ja seitdem einige WM-Turniere in unterschiedlicher Rolle miterlebt. Und ich muss sagen, dass die Weltmeisterschaften damals noch nicht diese schicksalhafte Bedeutung hatten, die ihnen später und heute in der internationalen Öffentlichkeit zugeordnet wird. Wir hatten einen wunderbaren Zusammenhalt in dieser Mannschaft. Diejenigen, die dabei waren, waren alle Freunde, die sich um mich kümmerten und mir viel abgenommen haben. Aber natürlich waren wir total fokussiert auf diese schwere Aufgabe.

DFB.de: Wie genau kam Ihre Premiere im Nationalteam zustande? Zumal nach gerade mal sechs Bundesligaspielen beim Aufsteiger FC Bayern München, die für Sie zu Buche standen. Ein Novum in einer Zeit, in der man sich "hochdienen" musste.

Beckenbauer: Im Jahr davor hatte ich drei Länderspiele in der Jugendnationalmannschaft und entsprechende Lehrgänge absolviert. Unter Dettmar Cramer. Der war total überzeugt von mir als Fußballer und setzte sich jetzt als Helmut Schöns Assistent intensiv für mich ein. So wurde es mir gesagt. Hinzu kam, dass in Helmut Haller und Wolfgang Overath zwei sehr gute und international erfahrene Mittelfeldspieler nicht zur Verfügung standen. So kam es zur Berufung für zwei Münchner Neulinge: für Peter Grosser, den damals herausragenden Spielmacher des Meisterteams der "Löwen", und für mich.

DFB.de: Überraschend war damals auch die Nominierung von Kapitän Uwe Seeler.

Beckenbauer: Überraschend, weil Uwe wegen eines Achillessehnenrisses fast ein Jahr lang kein Länderspiel bestritten hatte. Vielen in den Medien erschien sein Comeback zu früh. Er war in dieser Situation sicherlich stark mit sich selbst beschäftigt, doch er hat sich auch unglaublich für mich eingesetzt. Mit seinem Tor zum 2:1-Sieg in Stockholm hat er sich und uns verdientermaßen selbst belohnt.

DFB.de: Eine Erlösung war es vor allem für Helmut Schön, der ein Jahr zuvor Bundestrainer geworden war. Für ihn war die WM-Qualifikation Pflicht und das Spiel in Stockholm eine Aufgabe mit zwei Unbekannten. Wenn der Jüngste aus München nicht einschlagen, der Routinier aus Hamburg nicht durchhalten und die Mission 66 schon im Ansatz scheitern würde, wäre wohl auch Schön nur 14 Monate nach seinem Amtsantritt gescheitert gewesen.

Beckenbauer: Wenn wir gegen Schweden nicht gewonnen hätten, wäre Helmut Schön weggewesen. So aber konnte die erfolgreichste Karriere eines Bundestrainers ihren Anfang nehmen. Ich habe mich daran erinnert, als ich mich als Teamchef mit der Nationalmannschaft 1989 im letzten Qualifikationsspiel für die WM 1990 gegen Wales in Köln in einer ähnlichen Situation unter starkem Druck befand. Auch da gab es aber einen erlösenden 2:1-Sieg. Für Schön war Stockholm aber weitaus riskanter. Ihm hätte niemand garantieren können, dass er bleibt.

DFB.de: Um Ihnen Ihr Lampenfieber und etwaige Nervosität zu nehmen, hat Schön Sie als Jüngsten mit Horst Szymaniak, dem Ältesten und einstigen langjährigen Italien-Profi, auf ein Zimmer gelegt. Wie hat das funktioniert?

Beckenbauer: Tagsüber war ich für ihn und für alle anderen Routiniers wie Uwe Seeler, Karl-Heint Schnellinger, Hans Tilkowski oder Willi Schulz das Baby, das es zu hegen und zu pflegen galt. Nachts aber, als vor allem ich mit meinen 20 Jahren auf gesunden Schlaf angewiesen war, hatten sich die Rollen vertauscht.

DFB.de: Wie vertauscht?

Beckenbauer: Was offiziell niemand wusste: Szymaniak war Schlafwandler. Nachts saß "Schimmi" plötzlich kerzengrade im Bett und schrie irgendwelche Parolen. Dann stand er bei der nächsten Attacke auf, ging zum Fenster und brüllte hinaus oder rannte zur Tür. Da war ich dann derjenige, der ihm gut zureden und ihn beruhigen musste.

DFB.de: Es gibt also viele Gründe, dass Sie Ihr erstes Länderspiel nie vergessen werden.

Beckenbauer: Vor allem natürlich auch der Verlauf des Spiels an sich und die berüchtigten schwedischen Einpeitscher im Hexenkessel Rasunda-Stadion. Als die Nationalhymne vor dem Anpfiff gespielt wurde, dachte ich bei aller Nervosität aber auch mit einem gewissen Stolz daran, dass ich es so jung und schon so früh ins Nationalteam geschafft hatte.

DFB.de: Wie zeigte sich Ihr Stolz?

Beckenbauer: Dass ich zum Beispiel meinen Eltern ein paar Tage vorher extra für dieses Spiel einen Fernseher gekauft hatte. Sie sollten miterleben können, wie ihr Sohn nach der abgeschlossenen Lehre als Versicherungskaufmann nun auch die nächste Stufe als Fußballprofi erreicht hat.

DFB.de: Sind Sie heute noch ab und zu dankbar, wenn Ihnen Helmut Schöns damaliger Anruf wenige Tage nach Ihrem 20. Geburtstag in den Sinn kommt?

Beckenbauer: Auf jeden Fall war es ein schönes nachträgliches Geschenk und sehr mutig von ihm, mir für ein solch wichtiges Spiel zu vertrauen. Er hat als Bundestrainer alles richtig gemacht. Und ich bin heute noch dankbar, dass ich mich damals an so gestandenen Spielern anlehnen und aufrichten konnte wie Uwe Seeler, Hans Tilkowski, Willi Schulz, Karl-Heinz Schnellinger - und, wenn's nicht nachts dunkel war im Zimmer, auch an "Schimmi" Szymaniak. (lacht)

DFB.de: Gab es einen bestimmten Moment in diesem Spiel, der Ihre anfängliche Befangenheit auflösen und den Knoten platzen ließ?

Beckenbauer: Das war der schwedische Führungstreffer. Zum ungünstigsten Zeitpunkt in der 44. Minute. Und ausgerechnet Torbjörn Jonsson, mein direkter Gegenspieler, hat ihn erzielt. Damals wurde ja noch in der Manndeckung verteidigt, und ich hatte mich um Jonsson zu kümmern. Zwar war ich nicht schuldhaft am 0:1 beteiligt, doch es war "mein Mann" gewesen, dem ich dieses Tor zugelassen hatte. Ich war stinksauer auf mich selbst und nahm mir für die zweite Halbzeit ganz fest Wiedergutmachung vor.

DFB.de: Das hieß?

Beckenbauer: Mein Spiel so zu gestalten, wie ich es beim FC Bayern gewohnt war. Jonsson zwar in den Augen zu behalten, mich aber aus dieser Vorsicht der ersten Halbzeit zu lösen und Gas beim Spiel nach vorne zu geben. Als rechter Läufer im Mittelfeld suchte ich jetzt, wie beim FC Bayern als Libero, die Lücken in der gegnerischen Formation, nutzte sie aus und nahm weitaus mehr Einfluss auf den gesamten Spielverlauf. 

DFB.de: Mit dem Resümee, dass Sie nach Werner "Eia" Krämers Ausgleichstreffer und Uwe Seelers Siegtor dank herausragender Vorarbeit des anderen Debütanten Peter Grosser in den Medien als die große Entdeckung dieses Spiels, als einer der Weichensteller zur WM 1966 und als Hoffnung für die Zukunft gefeiert wurden.

Beckenbauer: Wichtig war mir, dass wir gemeinsam als geschlossene Einheit die Tür nach England aufgestoßen hatten.

DFB.de: Wie waren die Vorbereitung und die direkte Einstimmung auf dieses Schicksalsspiel im Vergleich zu heute oder zu Ihrer Zeit als Teamchef?

Beckenbauer: Die Taktik war, um es so zu formulieren, auf das Tempo und die Räume der damaligen Zeit abgestellt. Dass zur Verdeutlichung der Größe dieser Aufgabe einstige Heroen wie Sepp Herberger und Fritz Walter hautnah an die Mannschaft herangelassen wurden, dürfte heutzutage sicherlich keine Selbstverständlichkeit sein.

DFB.de: Und wie war das mit dem berühmten Schwur in der Kabine, kurz bevor es rausging zum Spielbeginn in Stockholm?

Beckenbauer: Das war damals so üblich vor wichtigen Spielen. Wir bildeten einen Kreis und fassten uns alle an den Händen. Uwe hat uns als Kapitän mit mächtigen Worten auf die Aufgabe eingeschworen, was wir im Kreis mit einem lautstarken Chor bestätigt und uns gegenseitig angefeuert haben. So habe ich das als Kapitän in den 70er-Jahren später auch noch gemacht. Während meiner Zeit als Teamchef hatte sich dieses Ritual einige Jahrzehnte später allerdings überlebt.

DFB.de: Mit Blick auf Ihre folgende Karriere: Welche Bedeutung hatte Rasunda in Stockholm für Sie?

Beckenbauer: Es war mit Sicherheit eines der wichtigsten Spiele für mich, vielleicht sogar das wichtigste. Dieser Sieg war die Voraussetzung, der Aufbruch, dass ich im nächsten Sommer bei der WM in England den internationalen Durchbruch schaffen konnte. Bei einem WM-Turnier, das für uns und den Fußball in Deutschland mit der Vizeweltmeisterschaft zu einem tollen Erfolg und mit dem legendären Wembley-Tor zum ewigen Diskussionsstoff werden sollte. Wer weiß, wohin sich unser Fußball in Deutschland ohne den gewaltigen Schub unserer WM-Teilnahme in England entwickelt hätte.

[wt]

Größere Interviews gibt Franz Beckenbauer nur noch selten. Für das Magazin "Club der Nationalspieler*innen" macht der 76 Jahre alte Ehrenspielführer der Nationalmannschaft eine Ausnahme. Also machen wir uns auf zu ihm nach Salzburg. Von gesundheitlichen Tiefschlägen noch etwas gezeichnet, beantwortet die Legende des Weltfußballs offen und mit gutem Erinnerungsvermögen die Fragen zu "einem meiner wichtigsten, vielleicht sogar dem wichtigsten Spiel" seiner Profikarriere: seinem ersten Länderspiel am 26. September 1965 gegen Schweden in Stockholm.

DFB.de: Rasunda-Stadion, Stockholm. Was sagt Ihnen diese Fußballstätte heute, Herr Beckenbauer?

Franz Beckenbauer: Natürlich fällt mir dabei auf Anhieb mein erstes Länderspiel ein. Im September 1965 in Schweden gegen Schweden, es war das entscheidende Qualifikationsspiel für die WM 1966. Das Spiel war damals ja fast ein Schicksalsspiel. Gleichzeitig verbinde ich mit dem Rasunda-Stadion und dem Spiel gegen Schweden aber ein ganz besonders emotionales und persönliches Erlebnis.

DFB.de: Wir sind gespannt.

Beckenbauer: Sepp Herberger und Fritz Walter waren als die beiden überragenden Galionsfiguren des WM-Triumphs 1954 zu unserer moralischen Unterstützung in Malente und Stockholm in die Vorbereitungen auf dieses Alles-oder-Nichts-Spiel in Schweden eingebunden. Am Tag vor dem Spiel kam plötzlich Fritz Walter in Sportkleidung auf das Spielfeld und nahm an unserem Abschlusstraining im Rasunda-Stadion teil. Fritz Walter, mein großes, unerreichbares Vorbild, das Idol meiner Jugend- und Teenagerjahre, die ich gerade erst hinter mir hatte! Jetzt stand ich mit ihm, dem 25 Jahre Älteren, erstmals gemeinsam auf dem Rasen und spielte die Bälle mit ihm hin und her. Unglaublich.

DFB.de: Mental gestärkt durch diesen Beistand nahmen Sie dann am Tag darauf entspannt und unbekümmert, locker und unbeeindruckt Ihre Länderspielpremiere in Angriff?

Beckenbauer: So war es natürlich nicht. Ich war ja selbst ziemlich überrascht von meiner Nominierung. Eine gewisse Befangenheit und Nervosität waren schon da, was aber dazugehört beim Anpfiff vor solch einem Spiel. Doch von mir wurden keine Wunderdinge erwartet. Da standen andere viel stärker in der Verantwortung.

DFB.de: In dem Spiel ging es darum, die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1966 in England zu schaffen und damit auch darum, die Chance zu wahren, die Scharten und Schrammen der WM-Teilnahmen 1958 in Schweden und vor allem 1962 in Chile auszuwetzen. Wie sehr bekamen Sie diesen Erwartungsdruck zu spüren?

Beckenbauer: Ich habe ja seitdem einige WM-Turniere in unterschiedlicher Rolle miterlebt. Und ich muss sagen, dass die Weltmeisterschaften damals noch nicht diese schicksalhafte Bedeutung hatten, die ihnen später und heute in der internationalen Öffentlichkeit zugeordnet wird. Wir hatten einen wunderbaren Zusammenhalt in dieser Mannschaft. Diejenigen, die dabei waren, waren alle Freunde, die sich um mich kümmerten und mir viel abgenommen haben. Aber natürlich waren wir total fokussiert auf diese schwere Aufgabe.

DFB.de: Wie genau kam Ihre Premiere im Nationalteam zustande? Zumal nach gerade mal sechs Bundesligaspielen beim Aufsteiger FC Bayern München, die für Sie zu Buche standen. Ein Novum in einer Zeit, in der man sich "hochdienen" musste.

Beckenbauer: Im Jahr davor hatte ich drei Länderspiele in der Jugendnationalmannschaft und entsprechende Lehrgänge absolviert. Unter Dettmar Cramer. Der war total überzeugt von mir als Fußballer und setzte sich jetzt als Helmut Schöns Assistent intensiv für mich ein. So wurde es mir gesagt. Hinzu kam, dass in Helmut Haller und Wolfgang Overath zwei sehr gute und international erfahrene Mittelfeldspieler nicht zur Verfügung standen. So kam es zur Berufung für zwei Münchner Neulinge: für Peter Grosser, den damals herausragenden Spielmacher des Meisterteams der "Löwen", und für mich.

DFB.de: Überraschend war damals auch die Nominierung von Kapitän Uwe Seeler.

Beckenbauer: Überraschend, weil Uwe wegen eines Achillessehnenrisses fast ein Jahr lang kein Länderspiel bestritten hatte. Vielen in den Medien erschien sein Comeback zu früh. Er war in dieser Situation sicherlich stark mit sich selbst beschäftigt, doch er hat sich auch unglaublich für mich eingesetzt. Mit seinem Tor zum 2:1-Sieg in Stockholm hat er sich und uns verdientermaßen selbst belohnt.

DFB.de: Eine Erlösung war es vor allem für Helmut Schön, der ein Jahr zuvor Bundestrainer geworden war. Für ihn war die WM-Qualifikation Pflicht und das Spiel in Stockholm eine Aufgabe mit zwei Unbekannten. Wenn der Jüngste aus München nicht einschlagen, der Routinier aus Hamburg nicht durchhalten und die Mission 66 schon im Ansatz scheitern würde, wäre wohl auch Schön nur 14 Monate nach seinem Amtsantritt gescheitert gewesen.

Beckenbauer: Wenn wir gegen Schweden nicht gewonnen hätten, wäre Helmut Schön weggewesen. So aber konnte die erfolgreichste Karriere eines Bundestrainers ihren Anfang nehmen. Ich habe mich daran erinnert, als ich mich als Teamchef mit der Nationalmannschaft 1989 im letzten Qualifikationsspiel für die WM 1990 gegen Wales in Köln in einer ähnlichen Situation unter starkem Druck befand. Auch da gab es aber einen erlösenden 2:1-Sieg. Für Schön war Stockholm aber weitaus riskanter. Ihm hätte niemand garantieren können, dass er bleibt.

DFB.de: Um Ihnen Ihr Lampenfieber und etwaige Nervosität zu nehmen, hat Schön Sie als Jüngsten mit Horst Szymaniak, dem Ältesten und einstigen langjährigen Italien-Profi, auf ein Zimmer gelegt. Wie hat das funktioniert?

Beckenbauer: Tagsüber war ich für ihn und für alle anderen Routiniers wie Uwe Seeler, Karl-Heint Schnellinger, Hans Tilkowski oder Willi Schulz das Baby, das es zu hegen und zu pflegen galt. Nachts aber, als vor allem ich mit meinen 20 Jahren auf gesunden Schlaf angewiesen war, hatten sich die Rollen vertauscht.

DFB.de: Wie vertauscht?

Beckenbauer: Was offiziell niemand wusste: Szymaniak war Schlafwandler. Nachts saß "Schimmi" plötzlich kerzengrade im Bett und schrie irgendwelche Parolen. Dann stand er bei der nächsten Attacke auf, ging zum Fenster und brüllte hinaus oder rannte zur Tür. Da war ich dann derjenige, der ihm gut zureden und ihn beruhigen musste.

DFB.de: Es gibt also viele Gründe, dass Sie Ihr erstes Länderspiel nie vergessen werden.

Beckenbauer: Vor allem natürlich auch der Verlauf des Spiels an sich und die berüchtigten schwedischen Einpeitscher im Hexenkessel Rasunda-Stadion. Als die Nationalhymne vor dem Anpfiff gespielt wurde, dachte ich bei aller Nervosität aber auch mit einem gewissen Stolz daran, dass ich es so jung und schon so früh ins Nationalteam geschafft hatte.

DFB.de: Wie zeigte sich Ihr Stolz?

Beckenbauer: Dass ich zum Beispiel meinen Eltern ein paar Tage vorher extra für dieses Spiel einen Fernseher gekauft hatte. Sie sollten miterleben können, wie ihr Sohn nach der abgeschlossenen Lehre als Versicherungskaufmann nun auch die nächste Stufe als Fußballprofi erreicht hat.

DFB.de: Sind Sie heute noch ab und zu dankbar, wenn Ihnen Helmut Schöns damaliger Anruf wenige Tage nach Ihrem 20. Geburtstag in den Sinn kommt?

Beckenbauer: Auf jeden Fall war es ein schönes nachträgliches Geschenk und sehr mutig von ihm, mir für ein solch wichtiges Spiel zu vertrauen. Er hat als Bundestrainer alles richtig gemacht. Und ich bin heute noch dankbar, dass ich mich damals an so gestandenen Spielern anlehnen und aufrichten konnte wie Uwe Seeler, Hans Tilkowski, Willi Schulz, Karl-Heinz Schnellinger - und, wenn's nicht nachts dunkel war im Zimmer, auch an "Schimmi" Szymaniak. (lacht)

DFB.de: Gab es einen bestimmten Moment in diesem Spiel, der Ihre anfängliche Befangenheit auflösen und den Knoten platzen ließ?

Beckenbauer: Das war der schwedische Führungstreffer. Zum ungünstigsten Zeitpunkt in der 44. Minute. Und ausgerechnet Torbjörn Jonsson, mein direkter Gegenspieler, hat ihn erzielt. Damals wurde ja noch in der Manndeckung verteidigt, und ich hatte mich um Jonsson zu kümmern. Zwar war ich nicht schuldhaft am 0:1 beteiligt, doch es war "mein Mann" gewesen, dem ich dieses Tor zugelassen hatte. Ich war stinksauer auf mich selbst und nahm mir für die zweite Halbzeit ganz fest Wiedergutmachung vor.

DFB.de: Das hieß?

Beckenbauer: Mein Spiel so zu gestalten, wie ich es beim FC Bayern gewohnt war. Jonsson zwar in den Augen zu behalten, mich aber aus dieser Vorsicht der ersten Halbzeit zu lösen und Gas beim Spiel nach vorne zu geben. Als rechter Läufer im Mittelfeld suchte ich jetzt, wie beim FC Bayern als Libero, die Lücken in der gegnerischen Formation, nutzte sie aus und nahm weitaus mehr Einfluss auf den gesamten Spielverlauf. 

DFB.de: Mit dem Resümee, dass Sie nach Werner "Eia" Krämers Ausgleichstreffer und Uwe Seelers Siegtor dank herausragender Vorarbeit des anderen Debütanten Peter Grosser in den Medien als die große Entdeckung dieses Spiels, als einer der Weichensteller zur WM 1966 und als Hoffnung für die Zukunft gefeiert wurden.

Beckenbauer: Wichtig war mir, dass wir gemeinsam als geschlossene Einheit die Tür nach England aufgestoßen hatten.

DFB.de: Wie waren die Vorbereitung und die direkte Einstimmung auf dieses Schicksalsspiel im Vergleich zu heute oder zu Ihrer Zeit als Teamchef?

Beckenbauer: Die Taktik war, um es so zu formulieren, auf das Tempo und die Räume der damaligen Zeit abgestellt. Dass zur Verdeutlichung der Größe dieser Aufgabe einstige Heroen wie Sepp Herberger und Fritz Walter hautnah an die Mannschaft herangelassen wurden, dürfte heutzutage sicherlich keine Selbstverständlichkeit sein.

DFB.de: Und wie war das mit dem berühmten Schwur in der Kabine, kurz bevor es rausging zum Spielbeginn in Stockholm?

Beckenbauer: Das war damals so üblich vor wichtigen Spielen. Wir bildeten einen Kreis und fassten uns alle an den Händen. Uwe hat uns als Kapitän mit mächtigen Worten auf die Aufgabe eingeschworen, was wir im Kreis mit einem lautstarken Chor bestätigt und uns gegenseitig angefeuert haben. So habe ich das als Kapitän in den 70er-Jahren später auch noch gemacht. Während meiner Zeit als Teamchef hatte sich dieses Ritual einige Jahrzehnte später allerdings überlebt.

DFB.de: Mit Blick auf Ihre folgende Karriere: Welche Bedeutung hatte Rasunda in Stockholm für Sie?

Beckenbauer: Es war mit Sicherheit eines der wichtigsten Spiele für mich, vielleicht sogar das wichtigste. Dieser Sieg war die Voraussetzung, der Aufbruch, dass ich im nächsten Sommer bei der WM in England den internationalen Durchbruch schaffen konnte. Bei einem WM-Turnier, das für uns und den Fußball in Deutschland mit der Vizeweltmeisterschaft zu einem tollen Erfolg und mit dem legendären Wembley-Tor zum ewigen Diskussionsstoff werden sollte. Wer weiß, wohin sich unser Fußball in Deutschland ohne den gewaltigen Schub unserer WM-Teilnahme in England entwickelt hätte.

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