Beckenbauer im Azteca: "Ewig in Erinnerung"

Fünfmal trat Franz Beckenbauer im "Estadio Azteca" an, zweimal als Spieler, dreimal als DFB-Teamchef. Das "Jahrhundertspiel" im WM-Halbfinale 1970 gegen Italien ging dabei ebenso verloren wie das WM-Finale 1986 gegen Argentinien. Doch den Rückblick auf das Aztekenstadion in Mexico City empfindet der "Kaiser" auch heute als "überwältigend eindrucksvoll". "Das Erlebnis Azteca", sagt er, "gehört zu den größten Momenten meiner Karriere." DFB.de hat sich mit dem 76 Jahre alten Welt- und Europameister unterhalten.

DFB.de: Herr Beckenbauer, in Ihren verschiedenen Funktionen haben Sie auf der ganzen Welt in unzähligen Stadien gespielt und unzählige Stadien erlebt. Darunter auch das legendäre Aztekenstadion in Mexico City. Erzählen Sie mal: Was macht für Sie den Reiz dieses Stadions aus?

Franz Beckenbauer: Der Zauber und die Verzauberung des Fußballs gehen auch von seinen Kultstätten aus. Dazu gehört das Aztekenstadion. Das ist wie bei Olympia. Wenn du über die Olympischen Spiele glaubhaft erzählen sollst, musst du live dabei gewesen sein. Wenn man was sagen soll über die Faszination des Fußballs, dann gibt es ein paar Arenen auf der Welt, vor allem das Maracanã in Rio, das Wembley in London oder das Aztekenstadion in Mexiko, deren Magie man erlebt haben muss. Am besten als Spieler und am besten bei einem großen Ereignis. Wenn du mitreden willst im Fußball, dann musst du dabei gewesen sein.

DFB.de: Pelé 1970, Maradona 1986, Beckenbauer 1970. Jeder dieser drei Größen des Weltfußballs spielte bei einer Weltmeisterschaft im Aztekenstadion und hatte die Chance, in Mexico City seine Karriere als Spieler mit dem Weltmeistertitel zu krönen.

Beckenbauer: Pelé und Maradona haben es im Gegensatz zu mir dort geschafft. Mir blieb diese letzte absolute Steigerung in Mexiko versagt.

DFB.de: Weil Sie 1970 im "Jahrhundertspiel", dem Halbfinale gegen Italien, ausschieden. 16 Jahre später kamen Sie als Teamchef mit der deutschen Nationalmannschaft noch einen Schritt weiter. Diesmal stand Deutschland im Aztekenstadion im WM-Finale. Zum Triumph gereicht hat es wieder nicht.

Beckenbauer: Zwei jeweils kurz vor der Ziellinie gescheiterte Anläufe auf den WM-Titel – das war schon ein bisschen bitter. Doch man muss ehrlich zugeben, dass die Argentinier im Endspiel 1986, über die gesamte Spielzeit betrachtet, verdient Weltmeister geworden sind. Glücklicherweise konnte ich aber jeweils vier Jahre später, 1974 als Spieler und 1990 als Trainer, mit dem Gewinn der WM-Titel vieles wiedergutmachen. Wenn auch nicht im Aztekenstadion.

DFB.de: Kann man daher davon ausgehen, dass Sie das "Estadio Azteca", so der offizielle Name dieser fantastischen Riesenschüssel in 2200 Metern Höhe, am liebsten aus der Liste der legendären Fußballarenen, in denen Sie tätig waren, streichen würden?

Beckenbauer: Ganz im Gegenteil! Wir waren ja bei beiden WM-Endrunden mehrere Wochen in Mexiko. 1970 habe ich zum ersten Mal dieses fantastische Land und die unglaubliche Fußballbegeisterung
seiner Menschen kennengelernt. Dieses legendäre Aztekenstadion wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Dort kann man schon mal ein Spiel verlieren, ob es nun 1970 im Halbfinale gegen Italien war oder 1986 im Finale gegen Argentinien.

DFB.de: Welches dieser beiden WM-Spiele beeindruckt Sie bis heute stärker?

Beckenbauer: In beiden Spielen gaben nur Kleinigkeiten den Ausschlag zu unseren Ungunsten. 1986 gegen Argentinien lagen wir 0:2 hinten und sind auf 2:2 rangekommen, ehe ein Abwehrfehler zum 2:3 die Entscheidung brachte. Doch wir haben respektvoll auf diese Niederlage reagiert und dementsprechend fair gratuliert. Unser Spiel 16 Jahre vorher gegen Italien hatte natürlich eine ganz andere Dramaturgie, unglaublich spannend und mitreißend – und am Ende niederschmetternd.

DFB.de: Dieses Halbfinale gegen Italien wird heute noch als das "Jahrhundertspiel" der Fußball-Geschichte bezeichnet. Warum hat dieses Spiel eine solche Titulierung erhalten?

Beckenbauer: Wegen der Klasse der beiden Mannschaften, die an ihre Leistungsgrenze und in der Verlängerung noch darüber gegangen sind. Und wegen des dramatischen Spielverlaufs, der für die
115.000 Zuschauer und für das Fernsehpublikum unvergesslich war. 3:4 am Ende, sieben Tore in einem Halbfinale! Davon fünf Treffer in der Verlängerung – das hat es bis heute, glaube ich, nicht mehr gegeben. Es war von beiden Teams eine perfekte Vorstellung. Die Italiener mussten allerdings für diesen Leidensweg bis zur völligen Erschöpfung in der Höhe und Hitze von Mexico City einen hohen Preis bezahlen. Sie waren, von unserer erbitterten Gegenwehr völlig ausgelaugt, wenige Tage später an gleicher Stelle im Finale gegen Brasilien beim 1:4 komplett platt und ohne Chance.

DFB.de: In der Verlängerung erzielte Gerd Müller in der vierten Minute die 2:1-Führung. Hätten Sie sich damals schon die Entscheidung durch das "Golden Goal" gewünscht, so wie es bei Oliver Bierhoff 1996 im Finale von Wembley der Fall war?

Beckenbauer: In diesem Fall ausnahmsweise "ja"! (lacht) Doch den Fußballfans in aller Welt und den Zuschauern im Stadion wäre eine einzigartige Verlängerung entgangen, in der das grandiose Spektakel
auf die Spitze getrieben wurde. Dieses Spiel in seinen 120 Minuten miterlebt zu haben, das war für jeden, der dabei war, eine absolute Bereicherung.

DFB.de: Für Sie war dieses Jahrhundertspiel allerdings sehr schmerzhaft.

Beckenbauer: Nach einem Foul von Giacinto Facchetti musste ich eine Stunde mit einer schweren Schulterecksprengung spielen. Für das Foul hätte es, übertrieben gesagt, fünf Elfmeter geben müssen, doch es gab nur Freistoß. Zur Verlängerung hatte ich dann solch schlimme Schmerzen, dass ich mit einer Armschlinge und festgezurrtem Oberarm weiterspielen musste, weil wir nicht mehr auswechseln konnten. Ich war zwar noch auf dem Platz, konnte aber nichts mehr bewirken.

DFB.de: Welche Konsequenzen und Lehren haben Sie aus den beiden WM-Auftritten im Aztekenstadion im Hinblick auf Ihre folgenden großen Triumphe bei den WM-Turnieren 1974 als Spieler und 1990 als Teamchef gezogen?

Beckenbauer: 1970 spielte ich noch im Mittelfeld mit einem Manndecker als direktem Gegenspieler. Danach agierte ich im Hinblick auf 1974 immer mehr als Libero, weil ich von dort insgesamt noch mehr Einfluss auf das Spielgeschehen nehmen konnte, mit mehr Übersicht und viel mehr Entfaltung für die Offensive.

DFB.de: Und als Teamchef 1990 in Italien?

Beckenbauer: 1986 hatte ich mich entschieden, Lothar Matthäus als Bewacher von Diego Maradona abzustellen. Unseren besten Spieler gegen den besten Spieler der Welt. Damit habe ich ihn zu sehr für unser Spiel nach vorne eingeschränkt. Vier Jahre später habe ich das korrigiert und Guido Buchwald mit dieser Rolle beauftragt, wodurch Lothar freie Bahn im Mittelfeld hatte und unsere Offensive entscheidend
beflügelte. Das war die Grundvoraussetzung für den WM-Gewinn.

DFB.de: Im Dezember 1968 spielten Sie, zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung der damals modernsten Fußballarena der Welt, zum ersten Mal im Aztekenstadion. Welchen ersten Eindruck hinterließ der ursprünglich nach dem Stadtviertel "El Coloso de Santa Ursula" benannte "Koloss" auf Sie?

Beckenbauer: Gänsehaut total habe ich bekommen. Rund 120.000 Zuschauer – das war natürlich eine Dimension, die wir von uns zu Hause in Deutschland nicht kannten. Dazu der Komfort in den Kabinen
und Privatlogen mit ihren Balkonen und dem unverwechselbaren Dach rundherum. Für mich war es einer der größten Momente meiner Karriere, dieses Stadion zu betreten und in ihm zu spielen. Ein traumhaftes Erlebnis.

DFB.de: Was macht das "Azteca" darüber hinaus so besonders, welche Rolle spielt die Höhe, in der das Stadion liegt?

Beckenbauer: Die Höhe gehört nun mal zu den landestypischen besonderen geografischen Umständen. Leon, wo wir 1970 zunächst viermal gespielt haben, liegt ja schon 1600 Meter hoch. Das Azteca dann
2200 Meter. Hinzu kam die Hitze im Halbfinale von gefühlt mehr als 35 Grad. Probleme bereitete in der Höhe von Mexico City aber vor allem das Verhalten des Balls. Der flog in der dünnen Luft viel weiter. Unsere Flankenkönige wie Grabowski und Libuda wunderten sich manchmal, dass ihre Flanke bisweilen weit auf der Gegenseite ins Aus segelte.

DFB.de: Als Teamchef traten Sie 1985 mit der Nationalmannschaft zu Testspielen gegen England und Mexiko im Aztekenstadion an. Ihre Erinnerungen?

Beckenbauer: Bei diesen beiden WM-Tests wollten wir schon mal ein Gespür für die besonderen Verhältnisse in der Höhe von Mexico City bekommen. Zunächst allerdings bekamen viele unserer Spieler "Montezumas Rache", also massive Darmprobleme, und konnten nicht spielen.

DFB.de: Stimmt es, dass Sie damals sogar kurz vor einem Comeback in der Nationalmannschaft standen?

Beckenbauer: Angesichts der vielen Ausfälle steckte mir unser damaliger Präsident und Delegationsleiter Hermann Neuberger einen Zettel zu. Darauf stand: "Lieber Herr Beckenbauer, ich hätte nichts dagegen, wenn Sie gegen Mexiko spielen würden." Eine eher skurrile Botschaft zwei Monate vor meinem 40. Geburtstag. Noch einmal ein Auftritt als Spieler im Aztekenstadion kam für mich natürlich nicht infrage.

DFB.de: Können Sie beschreiben, welche Rolle die fünf Erlebnisse im Aztekenstadion im Rahmen Ihrer Karriere einnehmen?

Beckenbauer: Ich war dort mehr als fünfmal live dabei. Bei der WM 1970 im Spiel um Platz drei gegen Uruguay war ich Zuschauer, als ich wegen meiner Schulterverletzung nicht mitspielen konnte.

DFB.de: Stimmt! Sie haben diese Arena also aus allen möglichen Perspektiven erleben dürfen: Spielfeld, Trainerbank und Tribüne. Welcher Blickwinkel war dabei der spektakulärste?

Beckenbauer: Sicherlich der auf dem Spielfeld. Doch auch als Zuschauer war es ein unglaubliches Erlebnis. Ich habe auch noch das fantastische Viertelfinale zwischen England und Argentinien mit Maradonas
legendärem Alleingang über den halben Platz und seiner "Hand Gottes" als Beobachter auf der Tribüne miterlebt, war also insgesamt sieben Mal im Azteca. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich fünf Weltmeisterschaften als Spieler und Teamchef bestritten und dabei viermal das Endspiel erreicht habe. Doch die beeindruckendste WM war die, bei der wir es nicht ins Finale geschafft haben. 1970 in Mexiko. Für mich war sie mit Abstand die schönste. Erstens waren das Turnier und das ganze Drumherum noch nicht so total professionell durchgetaktet. Zweitens waren die Mexikaner ein wunderbarer, total herzlicher Gastgeber. Und drittens hatte ich damals zum ersten Mal das unvergessliche "Erlebnis Azteca".

[wt]

Fünfmal trat Franz Beckenbauer im "Estadio Azteca" an, zweimal als Spieler, dreimal als DFB-Teamchef. Das "Jahrhundertspiel" im WM-Halbfinale 1970 gegen Italien ging dabei ebenso verloren wie das WM-Finale 1986 gegen Argentinien. Doch den Rückblick auf das Aztekenstadion in Mexico City empfindet der "Kaiser" auch heute als "überwältigend eindrucksvoll". "Das Erlebnis Azteca", sagt er, "gehört zu den größten Momenten meiner Karriere." DFB.de hat sich mit dem 76 Jahre alten Welt- und Europameister unterhalten.

DFB.de: Herr Beckenbauer, in Ihren verschiedenen Funktionen haben Sie auf der ganzen Welt in unzähligen Stadien gespielt und unzählige Stadien erlebt. Darunter auch das legendäre Aztekenstadion in Mexico City. Erzählen Sie mal: Was macht für Sie den Reiz dieses Stadions aus?

Franz Beckenbauer: Der Zauber und die Verzauberung des Fußballs gehen auch von seinen Kultstätten aus. Dazu gehört das Aztekenstadion. Das ist wie bei Olympia. Wenn du über die Olympischen Spiele glaubhaft erzählen sollst, musst du live dabei gewesen sein. Wenn man was sagen soll über die Faszination des Fußballs, dann gibt es ein paar Arenen auf der Welt, vor allem das Maracanã in Rio, das Wembley in London oder das Aztekenstadion in Mexiko, deren Magie man erlebt haben muss. Am besten als Spieler und am besten bei einem großen Ereignis. Wenn du mitreden willst im Fußball, dann musst du dabei gewesen sein.

DFB.de: Pelé 1970, Maradona 1986, Beckenbauer 1970. Jeder dieser drei Größen des Weltfußballs spielte bei einer Weltmeisterschaft im Aztekenstadion und hatte die Chance, in Mexico City seine Karriere als Spieler mit dem Weltmeistertitel zu krönen.

Beckenbauer: Pelé und Maradona haben es im Gegensatz zu mir dort geschafft. Mir blieb diese letzte absolute Steigerung in Mexiko versagt.

DFB.de: Weil Sie 1970 im "Jahrhundertspiel", dem Halbfinale gegen Italien, ausschieden. 16 Jahre später kamen Sie als Teamchef mit der deutschen Nationalmannschaft noch einen Schritt weiter. Diesmal stand Deutschland im Aztekenstadion im WM-Finale. Zum Triumph gereicht hat es wieder nicht.

Beckenbauer: Zwei jeweils kurz vor der Ziellinie gescheiterte Anläufe auf den WM-Titel – das war schon ein bisschen bitter. Doch man muss ehrlich zugeben, dass die Argentinier im Endspiel 1986, über die gesamte Spielzeit betrachtet, verdient Weltmeister geworden sind. Glücklicherweise konnte ich aber jeweils vier Jahre später, 1974 als Spieler und 1990 als Trainer, mit dem Gewinn der WM-Titel vieles wiedergutmachen. Wenn auch nicht im Aztekenstadion.

DFB.de: Kann man daher davon ausgehen, dass Sie das "Estadio Azteca", so der offizielle Name dieser fantastischen Riesenschüssel in 2200 Metern Höhe, am liebsten aus der Liste der legendären Fußballarenen, in denen Sie tätig waren, streichen würden?

Beckenbauer: Ganz im Gegenteil! Wir waren ja bei beiden WM-Endrunden mehrere Wochen in Mexiko. 1970 habe ich zum ersten Mal dieses fantastische Land und die unglaubliche Fußballbegeisterung
seiner Menschen kennengelernt. Dieses legendäre Aztekenstadion wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Dort kann man schon mal ein Spiel verlieren, ob es nun 1970 im Halbfinale gegen Italien war oder 1986 im Finale gegen Argentinien.

DFB.de: Welches dieser beiden WM-Spiele beeindruckt Sie bis heute stärker?

Beckenbauer: In beiden Spielen gaben nur Kleinigkeiten den Ausschlag zu unseren Ungunsten. 1986 gegen Argentinien lagen wir 0:2 hinten und sind auf 2:2 rangekommen, ehe ein Abwehrfehler zum 2:3 die Entscheidung brachte. Doch wir haben respektvoll auf diese Niederlage reagiert und dementsprechend fair gratuliert. Unser Spiel 16 Jahre vorher gegen Italien hatte natürlich eine ganz andere Dramaturgie, unglaublich spannend und mitreißend – und am Ende niederschmetternd.

DFB.de: Dieses Halbfinale gegen Italien wird heute noch als das "Jahrhundertspiel" der Fußball-Geschichte bezeichnet. Warum hat dieses Spiel eine solche Titulierung erhalten?

Beckenbauer: Wegen der Klasse der beiden Mannschaften, die an ihre Leistungsgrenze und in der Verlängerung noch darüber gegangen sind. Und wegen des dramatischen Spielverlaufs, der für die
115.000 Zuschauer und für das Fernsehpublikum unvergesslich war. 3:4 am Ende, sieben Tore in einem Halbfinale! Davon fünf Treffer in der Verlängerung – das hat es bis heute, glaube ich, nicht mehr gegeben. Es war von beiden Teams eine perfekte Vorstellung. Die Italiener mussten allerdings für diesen Leidensweg bis zur völligen Erschöpfung in der Höhe und Hitze von Mexico City einen hohen Preis bezahlen. Sie waren, von unserer erbitterten Gegenwehr völlig ausgelaugt, wenige Tage später an gleicher Stelle im Finale gegen Brasilien beim 1:4 komplett platt und ohne Chance.

DFB.de: In der Verlängerung erzielte Gerd Müller in der vierten Minute die 2:1-Führung. Hätten Sie sich damals schon die Entscheidung durch das "Golden Goal" gewünscht, so wie es bei Oliver Bierhoff 1996 im Finale von Wembley der Fall war?

Beckenbauer: In diesem Fall ausnahmsweise "ja"! (lacht) Doch den Fußballfans in aller Welt und den Zuschauern im Stadion wäre eine einzigartige Verlängerung entgangen, in der das grandiose Spektakel
auf die Spitze getrieben wurde. Dieses Spiel in seinen 120 Minuten miterlebt zu haben, das war für jeden, der dabei war, eine absolute Bereicherung.

DFB.de: Für Sie war dieses Jahrhundertspiel allerdings sehr schmerzhaft.

Beckenbauer: Nach einem Foul von Giacinto Facchetti musste ich eine Stunde mit einer schweren Schulterecksprengung spielen. Für das Foul hätte es, übertrieben gesagt, fünf Elfmeter geben müssen, doch es gab nur Freistoß. Zur Verlängerung hatte ich dann solch schlimme Schmerzen, dass ich mit einer Armschlinge und festgezurrtem Oberarm weiterspielen musste, weil wir nicht mehr auswechseln konnten. Ich war zwar noch auf dem Platz, konnte aber nichts mehr bewirken.

DFB.de: Welche Konsequenzen und Lehren haben Sie aus den beiden WM-Auftritten im Aztekenstadion im Hinblick auf Ihre folgenden großen Triumphe bei den WM-Turnieren 1974 als Spieler und 1990 als Teamchef gezogen?

Beckenbauer: 1970 spielte ich noch im Mittelfeld mit einem Manndecker als direktem Gegenspieler. Danach agierte ich im Hinblick auf 1974 immer mehr als Libero, weil ich von dort insgesamt noch mehr Einfluss auf das Spielgeschehen nehmen konnte, mit mehr Übersicht und viel mehr Entfaltung für die Offensive.

DFB.de: Und als Teamchef 1990 in Italien?

Beckenbauer: 1986 hatte ich mich entschieden, Lothar Matthäus als Bewacher von Diego Maradona abzustellen. Unseren besten Spieler gegen den besten Spieler der Welt. Damit habe ich ihn zu sehr für unser Spiel nach vorne eingeschränkt. Vier Jahre später habe ich das korrigiert und Guido Buchwald mit dieser Rolle beauftragt, wodurch Lothar freie Bahn im Mittelfeld hatte und unsere Offensive entscheidend
beflügelte. Das war die Grundvoraussetzung für den WM-Gewinn.

DFB.de: Im Dezember 1968 spielten Sie, zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung der damals modernsten Fußballarena der Welt, zum ersten Mal im Aztekenstadion. Welchen ersten Eindruck hinterließ der ursprünglich nach dem Stadtviertel "El Coloso de Santa Ursula" benannte "Koloss" auf Sie?

Beckenbauer: Gänsehaut total habe ich bekommen. Rund 120.000 Zuschauer – das war natürlich eine Dimension, die wir von uns zu Hause in Deutschland nicht kannten. Dazu der Komfort in den Kabinen
und Privatlogen mit ihren Balkonen und dem unverwechselbaren Dach rundherum. Für mich war es einer der größten Momente meiner Karriere, dieses Stadion zu betreten und in ihm zu spielen. Ein traumhaftes Erlebnis.

DFB.de: Was macht das "Azteca" darüber hinaus so besonders, welche Rolle spielt die Höhe, in der das Stadion liegt?

Beckenbauer: Die Höhe gehört nun mal zu den landestypischen besonderen geografischen Umständen. Leon, wo wir 1970 zunächst viermal gespielt haben, liegt ja schon 1600 Meter hoch. Das Azteca dann
2200 Meter. Hinzu kam die Hitze im Halbfinale von gefühlt mehr als 35 Grad. Probleme bereitete in der Höhe von Mexico City aber vor allem das Verhalten des Balls. Der flog in der dünnen Luft viel weiter. Unsere Flankenkönige wie Grabowski und Libuda wunderten sich manchmal, dass ihre Flanke bisweilen weit auf der Gegenseite ins Aus segelte.

DFB.de: Als Teamchef traten Sie 1985 mit der Nationalmannschaft zu Testspielen gegen England und Mexiko im Aztekenstadion an. Ihre Erinnerungen?

Beckenbauer: Bei diesen beiden WM-Tests wollten wir schon mal ein Gespür für die besonderen Verhältnisse in der Höhe von Mexico City bekommen. Zunächst allerdings bekamen viele unserer Spieler "Montezumas Rache", also massive Darmprobleme, und konnten nicht spielen.

DFB.de: Stimmt es, dass Sie damals sogar kurz vor einem Comeback in der Nationalmannschaft standen?

Beckenbauer: Angesichts der vielen Ausfälle steckte mir unser damaliger Präsident und Delegationsleiter Hermann Neuberger einen Zettel zu. Darauf stand: "Lieber Herr Beckenbauer, ich hätte nichts dagegen, wenn Sie gegen Mexiko spielen würden." Eine eher skurrile Botschaft zwei Monate vor meinem 40. Geburtstag. Noch einmal ein Auftritt als Spieler im Aztekenstadion kam für mich natürlich nicht infrage.

DFB.de: Können Sie beschreiben, welche Rolle die fünf Erlebnisse im Aztekenstadion im Rahmen Ihrer Karriere einnehmen?

Beckenbauer: Ich war dort mehr als fünfmal live dabei. Bei der WM 1970 im Spiel um Platz drei gegen Uruguay war ich Zuschauer, als ich wegen meiner Schulterverletzung nicht mitspielen konnte.

DFB.de: Stimmt! Sie haben diese Arena also aus allen möglichen Perspektiven erleben dürfen: Spielfeld, Trainerbank und Tribüne. Welcher Blickwinkel war dabei der spektakulärste?

Beckenbauer: Sicherlich der auf dem Spielfeld. Doch auch als Zuschauer war es ein unglaubliches Erlebnis. Ich habe auch noch das fantastische Viertelfinale zwischen England und Argentinien mit Maradonas
legendärem Alleingang über den halben Platz und seiner "Hand Gottes" als Beobachter auf der Tribüne miterlebt, war also insgesamt sieben Mal im Azteca. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ich fünf Weltmeisterschaften als Spieler und Teamchef bestritten und dabei viermal das Endspiel erreicht habe. Doch die beeindruckendste WM war die, bei der wir es nicht ins Finale geschafft haben. 1970 in Mexiko. Für mich war sie mit Abstand die schönste. Erstens waren das Turnier und das ganze Drumherum noch nicht so total professionell durchgetaktet. Zweitens waren die Mexikaner ein wunderbarer, total herzlicher Gastgeber. Und drittens hatte ich damals zum ersten Mal das unvergessliche "Erlebnis Azteca".

###more###