Altonaer FC 1893: Die kleine große Welt

Ein echter "Hamburger Jung" mit türkischen Eltern, der sagt, ihm sei es nun wirklich egal, ob jemand schwarz, weiß oder grün ist – außer dass er den Grünfarbigen zum Arzt schicken würde. Und ein Spätaussiedler, der, als er mit 30 Jahren in Altona ankam, exakt einen deutschen Satz beherrschte: "Ich bin Wladimir, aus Kasachstan." Der eine sitzt auf der Trainerbank, der andere ist Integrationsbeauftragte, Jugendtrainer und Seniorenspieler in einem. Dreimal gewann man den Uwe-Seeler-Pokal, vier Nationalspieler kommen hierher und der DFB? Den hat man mitbegründet. Was sollte da noch schiefgehen? Musste ja klappen mit dem Preis. Der Integrationsverein des Jahres kommt aus Hamburg. Der Sieger des diesjährigen Integrationspreises vom DFB und Mercedes-Benz heißt Altonaer FC 1893.

Hinter den „Rothosen“ und den „Kiezkickern“ sehen sie sich als die Nummer drei in Hamburg. Mehr als 1200 Mitglieder, davon 750 Jugendliche, die Jugend im Hamburger Westen rennt dem Traditionsverein die Bude ein. Alles passt: das urbane Weltretter-Image, die Sprüche („1893 statt 0815“), der Markenclaim („Ehrlicher Fußball aus Altona“), das Flair eines Traditionsvereins inklusive Holztribüne und sogar eine eigene Biermarke hat man. „Unser Mix stimmt“, sagt der Ehrenvorsitzende Volker Kuntze-Braack. Nur das Wichtigste fehlt ihnen derzeit: die Punkte. Mit einem Schnitt von 1000 Zuschauern liegt man zwar auf Platz 3 der Zuschauertabelle. Aber in der Tabelle der Regionalliga Nord, die zählt, steht nur der VfV Borussia Hildesheim noch hinter ihnen. „Wir schaffen das“, sagt Trainer Berkan Algan, der in seiner aktiven Zeit mit Collin Benjamin und Ivan Klasnić zusammengespielt hatte. Vergangene Saison hatte Algan die Mannschaft nach acht Jahren Pause zurück in die Regionalliga geführt. Weil Schnee und Eis den Spielplan zerschossen haben, spielt man bis in den Mai im Drei-Tage-Rhythmus. „Soweit die Beine tragen“, sagt er.

Warum Altona 93 im Hamburger Westen so angesagt ist, erklärt Michael Braunheim: „Wir bilden die Realität des Viertels ab.“ Zur Grenze nach Osdorf residieren die betuchteren Altonaer, der Quadratmeterpreis liegt hier oft auch schon mal über 8000 Euro, im Zentrum des Stadtteils dagegen sprießt Graffiti auf jeder Wand. Hier überspringt der Migrationsanteil die 60-Prozent-Marke. Der Jugendwart sagt stolz: „Und die Kinder aus beiden Vierteln kicken bei uns.“ Den Stadtteil prägt eine faszinierende Diversität, kulturell, auch finanziell, und der AFC macht allen Altonaern ein Fußballangebot.

Internetseite auf zehn Sprachen

„Manche Eltern haben richtig Patte, andere bibbern sich zum Monatsende. Wir achten darauf, dass diese Unterschiede bei uns im Vereinsleben null-komma-null Bedeutung haben.“ Früher habe es Wartelisten gegeben, erzählt Braunheim, da hatten perspektivisch denkende Akademikerfamilien dem gerade geborenen Sohn schnell mal einen Platz bei den Bambinis geblockt. „Und dann war der sechs Jahre später bei uns und wollte eigentlich lieber Tennis oder World of Warcraft spielen.“ Wartelisten gäbe es heute nicht mehr, berichtet Braunheim, dafür Schnuppertrainings. Beide Seiten schnuppern. Denn wie in jeder Großstadt sind die Plätze knapp.

„Mehr Integration als bei uns gibt es nicht“, sagt der Trainer. Altona 93 – das ist aber auch große Fußballgeschichte. Schließlich zählte der Klub, den 1893 Kaufleute und Studenten ins Leben gerufen hatten, zu den Gründungsmitgliedern des DFB. Am 28. Januar 1900 im Leipziger Restaurant Mariengarten war man einer von 53 Vereinen, die dafür stimmten, dass sich ein Deutscher Fußball-Bund gründete. Weil es das Alphabet gut mit ihnen meint, stehen sie seitdem und auf ewig in jeder Listung ganz oben. Vier Nationalspieler brachte man hervor, keinen bedeutsameren als Adolf Jäger, bis heute ist die Heimspielstätte nach ihm benannt. Jäger lief zwischen 1908 und 1924 in 18 Spielen für Deutschland auf, elfmal als Kapitän. 700 Ligaspiele bestritt er für seinen Verein und soll dabei 2.000 Tore geschossen haben. Auch Eric Maxim Choupo-Moting, inzwischen bei Stoke City unter Vertrag, trug ganz am Anfang das schwarz-weiß-rot geringelte Trikot. Der vierte im Bunde der Altonaer Nationalspieler ist Jonathan Tah. Der heutige Bundesliga-Profi von Bayer Leverkusen besuchte, als er das noch war, den Kindergarten „Kurz und Klein“, seine Betreuerin erkannte Tahs Bewegungstalent und schickte ihn zum AFC-Training. Es heißt, schon in der D-Jugend habe er von der Strafraumgrenze an die Latte köpfen können.

In der Pokalsaison 1954/1955 schaffte man es bis ins DFB-Pokalhalbfinale. 1909 und 1914 wurde man Norddeutscher Meister. Dass der Klub jetzt vielleicht wieder Briefpapier drucken lässt, hat relativ viel mit Wladimir Bondarenko zu tun. Damals 30 Jahre alt, kam der Ukrainer 1995 als Spätaussiedler nach Hamburg. „Ich hatte mein Leben lang Fußball gespielt, aber erst in diesem Moment verstand ich, über welche Integrationskraft der Fußball verfügt“, sagt er. Heute arbeitet Bondarenko als Diplom-Ingenieur im Maschinenbau. Und Altona 93 baute er zum Musterbeispiel an Modernität und Urbanität um.

40 Nationen im Verein

Die Liste seiner Verdienste ist lang. Bondarenko sorgte dafür, dass die Internetseite auf zehn Sprachen angeboten wird, Englisch zählt dazu, Serbisch und Polnisch auch. Ein Flyer wirbt mit einer Weltkugel, auf der die 40 Nationen zu sehen sind, die beim AFC fußballspielend vertreten sind. Jedes Jahr veranstaltet man ein integratives Sommerfest. Internationale Austausche brachten die Vereinsjugend nach Kaliningrad, Petersburg, zuletzt nach Haifa. „Integration“ ist als Ziel in der Vereinssatzung verankert. Mit Ausländervereinen, Schulen und sozialen Einrichtungen verbinden den Verein wirkstarke Kooperationen. Altona ist aktiv beim Programm „Integration durch Sport“ des Deutschen Olympischen Sportbundes. Vier von zehn Mitgliedern im Verein haben einen Migrationshintergrund, ähnlich schaut das Verhältnis bei den Jugendtrainern aus. So werden die C-Junioren vom ehemaligen Oberligaspieler Babacar M’Baye trainiert. Rund 60 Trainer und Betreuer kümmern sich um die fast 600 Kinder und Jugendlichen in der Abteilung. Dem Projekt „Kids in the Club“ ist zu verdanken, dass für 36 Kinder und Jugendliche, deren Familien es sich sonst nicht leisten könnten, der Beitrag bezahlt wird.

Fragt man Bondarenko, ob es ihn besorgt, wenn manche Politiker Nachbarn nach deren Hautfarbe aussuchen wollen und andere türkische Mitbürger als „Kameltreiber“ beschimpfen, sagt er: „Nein, besorgen, das ist ein zu starkes Wort. Aber unangenehm finde ich es schon, dass wir jetzt so eine politische Strömung im Land haben.“ Berkan Algan ist überzeugt, dass „ein Rechtsruck durchs Land“ gegangen sei. Überall spüre er „Abschottung und Abgrenzung“, von türkischer wie von deutscher Seite. „Das war doch vor ein paar Jahren ganz anders. Ich vermisse diese Zeit sehr. Wir können nur offen sein und versuchen, Liebe auszustrahlen.“ Und Algan sagt auch: „Der DFB fährt gegen Rassismus und Diskriminierung einen überzeugenden Kurs. Auch was die Nationalmannschaft macht und wie sich Jogi Löw öffentlich äußert, finde ich stark. Da bin ich stolz auf den Fußball.“

[th]

Ein echter "Hamburger Jung" mit türkischen Eltern, der sagt, ihm sei es nun wirklich egal, ob jemand schwarz, weiß oder grün ist – außer dass er den Grünfarbigen zum Arzt schicken würde. Und ein Spätaussiedler, der, als er mit 30 Jahren in Altona ankam, exakt einen deutschen Satz beherrschte: "Ich bin Wladimir, aus Kasachstan." Der eine sitzt auf der Trainerbank, der andere ist Integrationsbeauftragte, Jugendtrainer und Seniorenspieler in einem. Dreimal gewann man den Uwe-Seeler-Pokal, vier Nationalspieler kommen hierher und der DFB? Den hat man mitbegründet. Was sollte da noch schiefgehen? Musste ja klappen mit dem Preis. Der Integrationsverein des Jahres kommt aus Hamburg. Der Sieger des diesjährigen Integrationspreises vom DFB und Mercedes-Benz heißt Altonaer FC 1893.

Hinter den „Rothosen“ und den „Kiezkickern“ sehen sie sich als die Nummer drei in Hamburg. Mehr als 1200 Mitglieder, davon 750 Jugendliche, die Jugend im Hamburger Westen rennt dem Traditionsverein die Bude ein. Alles passt: das urbane Weltretter-Image, die Sprüche („1893 statt 0815“), der Markenclaim („Ehrlicher Fußball aus Altona“), das Flair eines Traditionsvereins inklusive Holztribüne und sogar eine eigene Biermarke hat man. „Unser Mix stimmt“, sagt der Ehrenvorsitzende Volker Kuntze-Braack. Nur das Wichtigste fehlt ihnen derzeit: die Punkte. Mit einem Schnitt von 1000 Zuschauern liegt man zwar auf Platz 3 der Zuschauertabelle. Aber in der Tabelle der Regionalliga Nord, die zählt, steht nur der VfV Borussia Hildesheim noch hinter ihnen. „Wir schaffen das“, sagt Trainer Berkan Algan, der in seiner aktiven Zeit mit Collin Benjamin und Ivan Klasnić zusammengespielt hatte. Vergangene Saison hatte Algan die Mannschaft nach acht Jahren Pause zurück in die Regionalliga geführt. Weil Schnee und Eis den Spielplan zerschossen haben, spielt man bis in den Mai im Drei-Tage-Rhythmus. „Soweit die Beine tragen“, sagt er.

Warum Altona 93 im Hamburger Westen so angesagt ist, erklärt Michael Braunheim: „Wir bilden die Realität des Viertels ab.“ Zur Grenze nach Osdorf residieren die betuchteren Altonaer, der Quadratmeterpreis liegt hier oft auch schon mal über 8000 Euro, im Zentrum des Stadtteils dagegen sprießt Graffiti auf jeder Wand. Hier überspringt der Migrationsanteil die 60-Prozent-Marke. Der Jugendwart sagt stolz: „Und die Kinder aus beiden Vierteln kicken bei uns.“ Den Stadtteil prägt eine faszinierende Diversität, kulturell, auch finanziell, und der AFC macht allen Altonaern ein Fußballangebot.

Internetseite auf zehn Sprachen

„Manche Eltern haben richtig Patte, andere bibbern sich zum Monatsende. Wir achten darauf, dass diese Unterschiede bei uns im Vereinsleben null-komma-null Bedeutung haben.“ Früher habe es Wartelisten gegeben, erzählt Braunheim, da hatten perspektivisch denkende Akademikerfamilien dem gerade geborenen Sohn schnell mal einen Platz bei den Bambinis geblockt. „Und dann war der sechs Jahre später bei uns und wollte eigentlich lieber Tennis oder World of Warcraft spielen.“ Wartelisten gäbe es heute nicht mehr, berichtet Braunheim, dafür Schnuppertrainings. Beide Seiten schnuppern. Denn wie in jeder Großstadt sind die Plätze knapp.

„Mehr Integration als bei uns gibt es nicht“, sagt der Trainer. Altona 93 – das ist aber auch große Fußballgeschichte. Schließlich zählte der Klub, den 1893 Kaufleute und Studenten ins Leben gerufen hatten, zu den Gründungsmitgliedern des DFB. Am 28. Januar 1900 im Leipziger Restaurant Mariengarten war man einer von 53 Vereinen, die dafür stimmten, dass sich ein Deutscher Fußball-Bund gründete. Weil es das Alphabet gut mit ihnen meint, stehen sie seitdem und auf ewig in jeder Listung ganz oben. Vier Nationalspieler brachte man hervor, keinen bedeutsameren als Adolf Jäger, bis heute ist die Heimspielstätte nach ihm benannt. Jäger lief zwischen 1908 und 1924 in 18 Spielen für Deutschland auf, elfmal als Kapitän. 700 Ligaspiele bestritt er für seinen Verein und soll dabei 2.000 Tore geschossen haben. Auch Eric Maxim Choupo-Moting, inzwischen bei Stoke City unter Vertrag, trug ganz am Anfang das schwarz-weiß-rot geringelte Trikot. Der vierte im Bunde der Altonaer Nationalspieler ist Jonathan Tah. Der heutige Bundesliga-Profi von Bayer Leverkusen besuchte, als er das noch war, den Kindergarten „Kurz und Klein“, seine Betreuerin erkannte Tahs Bewegungstalent und schickte ihn zum AFC-Training. Es heißt, schon in der D-Jugend habe er von der Strafraumgrenze an die Latte köpfen können.

In der Pokalsaison 1954/1955 schaffte man es bis ins DFB-Pokalhalbfinale. 1909 und 1914 wurde man Norddeutscher Meister. Dass der Klub jetzt vielleicht wieder Briefpapier drucken lässt, hat relativ viel mit Wladimir Bondarenko zu tun. Damals 30 Jahre alt, kam der Ukrainer 1995 als Spätaussiedler nach Hamburg. „Ich hatte mein Leben lang Fußball gespielt, aber erst in diesem Moment verstand ich, über welche Integrationskraft der Fußball verfügt“, sagt er. Heute arbeitet Bondarenko als Diplom-Ingenieur im Maschinenbau. Und Altona 93 baute er zum Musterbeispiel an Modernität und Urbanität um.

40 Nationen im Verein

Die Liste seiner Verdienste ist lang. Bondarenko sorgte dafür, dass die Internetseite auf zehn Sprachen angeboten wird, Englisch zählt dazu, Serbisch und Polnisch auch. Ein Flyer wirbt mit einer Weltkugel, auf der die 40 Nationen zu sehen sind, die beim AFC fußballspielend vertreten sind. Jedes Jahr veranstaltet man ein integratives Sommerfest. Internationale Austausche brachten die Vereinsjugend nach Kaliningrad, Petersburg, zuletzt nach Haifa. „Integration“ ist als Ziel in der Vereinssatzung verankert. Mit Ausländervereinen, Schulen und sozialen Einrichtungen verbinden den Verein wirkstarke Kooperationen. Altona ist aktiv beim Programm „Integration durch Sport“ des Deutschen Olympischen Sportbundes. Vier von zehn Mitgliedern im Verein haben einen Migrationshintergrund, ähnlich schaut das Verhältnis bei den Jugendtrainern aus. So werden die C-Junioren vom ehemaligen Oberligaspieler Babacar M’Baye trainiert. Rund 60 Trainer und Betreuer kümmern sich um die fast 600 Kinder und Jugendlichen in der Abteilung. Dem Projekt „Kids in the Club“ ist zu verdanken, dass für 36 Kinder und Jugendliche, deren Familien es sich sonst nicht leisten könnten, der Beitrag bezahlt wird.

Fragt man Bondarenko, ob es ihn besorgt, wenn manche Politiker Nachbarn nach deren Hautfarbe aussuchen wollen und andere türkische Mitbürger als „Kameltreiber“ beschimpfen, sagt er: „Nein, besorgen, das ist ein zu starkes Wort. Aber unangenehm finde ich es schon, dass wir jetzt so eine politische Strömung im Land haben.“ Berkan Algan ist überzeugt, dass „ein Rechtsruck durchs Land“ gegangen sei. Überall spüre er „Abschottung und Abgrenzung“, von türkischer wie von deutscher Seite. „Das war doch vor ein paar Jahren ganz anders. Ich vermisse diese Zeit sehr. Wir können nur offen sein und versuchen, Liebe auszustrahlen.“ Und Algan sagt auch: „Der DFB fährt gegen Rassismus und Diskriminierung einen überzeugenden Kurs. Auch was die Nationalmannschaft macht und wie sich Jogi Löw öffentlich äußert, finde ich stark. Da bin ich stolz auf den Fußball.“

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