Als die "Hertha-Bubis" ins Finale stürmten

In der Regel wird das DFB-Pokalfinale von zwei Bundesligisten bestritten. Dass der Regionalligist 1. FC Saarbrücken nun im Halbfinale steht, ist ein absolutes Novum - und natürlich rechnet fast jeder mit einem Sieg von Bayer Leverkusen, wenn es denn nach der Corona-Pause weitergehen sollte. Aber es gab auch andere Zeiten.

Genau heute vor 27 Jahren stand schon vor Anpfiff des ersten Halbfinales am 31. März 1993 fest, dass ein unterklassiger Verein das Finale erreichen würde. Wie im Jahr zuvor, als mit Hannover 96 erstmals ein Zweitligist sogar den Pokal gewonnen hatte. Nun das nächste Novum: Das Los hatte die drittklassigen sogenannten "Hertha-Bubis", die zweite Mannschaft des Hauptstadtklubs und Fünfter der Oberliga Nordost-Mitte, mit Zweitligist Chemnitzer FC zusammengeführt - und Drittligisten hatten es noch nie ins Endspiel gepackt. Erst 1997 zog Energie Cottbus nach, das allerdings den Aufstieg in die 2. Bundesliga schon sicher hatte, als es im Finale stand.

Das Interesse an der ungewöhnlichen Paarung war in der Hauptstadt so groß, dass schon das Halbfinale im Olympiastadion stattfand - quasi als Generalprobe. Die meisten der 56.540 Fans und natürlich auch der TV-Zuschauer, die damals RTL plus empfingen, drückten der kleinen Hertha die Daumen. Die Amateure beschämten die eigene, damals zweitklassige Profiabteilung, der es bis heute nicht gelungen ist, das Pokalfinale zu erreichen. Die Bubis von Trainer Jochem Ziegert aber hatten alle Hürden genommen, wobei nur ein Bundesligist ihren Weg gekreuzt hatte.

"Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin!"

Die Etappen auf der "Via triumphalis" der Berliner: Erst ein Freilos, dann kam die SKG Heidelberg (3:0). In Runde drei war der kommende Bundesligaaufsteiger VfB Leipzig schon ein anderes Kaliber, aber die aus Studenten, Schülern und Feierabendfußballern bestehende Mannschaft meisterte auch diese Prüfung (4:2). Nun kam der Titelverteidiger nach Berlin - Hannover 96. Auch er scheiterte, im Mommsenstadion gewann die kleine Hertha mit 4:3, und die Spieler dichteten den Finalsong um: "Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin!"

Im verrückten Viertelfinale, nun schon vor 13.700 Zuschauern, kassierte Hertha in der 89. Minute gegen Bundesligist 1. FC Nürnberg den Ausgleich und schoss im Gegenzug das 2:1. Entsetzt sahen sich die Club-Profis um Andreas Köpke, Hans Dorfner und Dieter Eckstein an, Letzterer stellte fest: "Schlimm daran ist, dass Hertha verdient weitergekommen ist." Nicht ganz so schlimm war der spontane Rücktritt von Hertha-Trainer Ziegert, im Hauptberuf Finanzbeamter ("So geht's nicht weiter, auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Aktenberge"), denn man konnte ihn beruhigen.

Für seine Spieler, über die niemand etwas wusste, sagte Ziegert stolz: "Alles intelligente Jungs, da ist keiner darunter, der wegen dem Fußball seine Lehre abgebrochen hat. Die wissen alle, was sie wollen." Das Ziel "Profi" hatten trotzdem alle, am weitesten brachte es Carsten Ramelow, der 2002 im WM-Finale stand. Am schönsten aber war es bei den Bubis, rein atmosphärisch. Ramelow sagte 2016 dem Spiegel: "Das Klima in der Mannschaft war sensationell. Vom ersten Spiel an bis ins Finale hatten wir alle eine Lockerheit, wie ich sie danach als Profi nie wieder erlebt habe." Auch Torwart Christian Fiedler und die Schmidt-Zwillinge Andreas und Oliver wurden bei Hertha Bundesliga-Spieler.

Spaghetti bis zum Abwinken

Im Halbfinale gegen die von Trainerlegende Hans Meyer betreuten Chemnitzer waren sie an jenem 31. März 1993 fast schon Favorit. Ziegert hielt an seinen Ritualen fest, ging mit der Mannschaft am Vorabend in die Weddinger Pizzeria "San Remo" und erlaubte "Spaghetti bis zum Abwinken". Neu war, dass sie mit Polizeieskorte ins Stadion durften, es war einfach zu viel los auf Berlins Straßen an diesem denkwürdigen Pokalabend. Auch in der Kabine war einiges los, es lief die Filmmusik aus den Rocky-Filmen mit Sylvester Stallone: "Eye of the tiger".

Wie Raubtiere stürzten sich die Berliner dann auf die Chemnitzer, deren Trainer Meyer zwar einen Glückspfennig vergraben hatte ("Mehr als einen Pfennig können wir uns nicht leisten, so viel Geld haben wir im Osten nicht"), aber der verfehlte seine Wirkung. Carsten Ramelow glückte nach Kopfballvorlage von Oliver Schmidt das frühe 1:0 (5.), und er verspürte "ein sensationelles Gefühl vor dieser Kulisse".

Sogar der Spiegel fragte ihn 2016 noch mal danach. Ramelow schilderte sein Tor 23 Jahre später, als wäre es am Vortag gefallen: "Ein langer Einwurf, der irgendwie rausgeköpft wurde von einem Chemnitzer, dann Gewühl im Strafraum. Und dann habe ich darauf spekuliert, dass einer von den Schmidt-Zwillingen den Ball wieder in den Raum reinköpft. So kam es auch glücklicherweise, ich konnte ihn mit links volley nehmen, und er ging dann dem Torhüter durch die Beine. Ein bisschen glücklich, aber mir war's egal. Ich habe unendlich gejubelt und hätte auch noch etwas weiterjubeln können."

"Nur nach Hause gehen wir nicht"

Sven Meyer baute die Führung per Kopf nach einer Ecke sogar aus (22.). Steffen Heidrichs Foulelfmeter (36.) bedeutete schon den Endstand der Partie, bei der die Hertha-Verantwortlichen für echte Pokalatmosphäre sorgten. Es wurden zwei Trommler und zwei Trompeter engagiert, in der Pause trat Showstar Frank Zander auf. Seine Hymne "Nur nach Hause gehen wir nicht", hatte an diesem Tag Premiere im Olympiastadion und ist bis heute die Vereinshymne, nun erklingt sie bei den Profis. Sie ist das Erbe jenes Halbfinales, an dem echte Hertha-Fans am meisten hängen.

In der relativ ereignislosen zweiten Hälfte, in der die Bubis durch Abgeklärtheit beeindruckten, bedeutete der Schlusspfiff von Schiedsrichter Eugen Strigel den Höhepunkt des Abends, dann ging die Party in den Berliner Kneipen erst so richtig los. "Janz Berlin" feiert Amateure, titelte der kicker und analysierte: "Der Erfolg der Amateure war hochverdient gegen die höherklassigen Gäste, die ideenlos auftraten."

Was dieser Erfolg außerhalb der sporthistorischen Marke wert war, wussten die Bubis nicht, Prämien hatten sie gar nicht ausgehandelt. "Darüber wird erst nach dem Spiel gesprochen", sagte Vorstand Jörg Thomas, für die Amateure zuständig. Geld aber war plötzlich reichlich da, Ziegert glaubte sogar, die Bubis hätten den verschuldeten Verein gerettet, "denn wir hatten ja allein bei jedem Spiel einen neuen Brustsponsor." Die Gesamteinnahmen des Halbfinales übertrafen alles, was die Hertha-Profis je im Pokal verdient hatten: 850.000 Mark.

Beifall für "Bande von Mechanikern, Studenten und Schuljungen"

Wie ging es weiter? Turbulent. Die Auslandspresse überschlug sich. "Deutschlands Fußball kann den größten Schock seiner Geschichte vermelden", schrieb die malaysische Zeitung New Strait Times in etwas eigentümlicher Ausdrucksweise und pries "die Bande von Mechanikern, Studenten und Schuljungen". Die jugendlichen Helden nahmen eine Platte auf, auch ein Buch erschien über den ungewöhnlichsten Finalisten der DFB-Historie. Der bei anderen Sensationssiegern oft zu beobachtende Spannungsabfall im Alltag trat zunächst nicht ein, in der Liga blieben sie fünf Spiele ungeschlagen, am Ende rutschten sie nur einen Platz ab (auf Rang sechs).

Mit der kleinen Hertha hatte am großen Tag des Finales im Juni 1993 auch Bayer Leverkusens Starensemble seine Mühe, nur ein Tor von Ulf Kirsten gelang dem Bundesligisten - das aber reichte zu einem 1:0. Doch selten war der Beifall für einen Finalverlierer lauter.

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In der Regel wird das DFB-Pokalfinale von zwei Bundesligisten bestritten. Dass der Regionalligist 1. FC Saarbrücken nun im Halbfinale steht, ist ein absolutes Novum - und natürlich rechnet fast jeder mit einem Sieg von Bayer Leverkusen, wenn es denn nach der Corona-Pause weitergehen sollte. Aber es gab auch andere Zeiten.

Genau heute vor 27 Jahren stand schon vor Anpfiff des ersten Halbfinales am 31. März 1993 fest, dass ein unterklassiger Verein das Finale erreichen würde. Wie im Jahr zuvor, als mit Hannover 96 erstmals ein Zweitligist sogar den Pokal gewonnen hatte. Nun das nächste Novum: Das Los hatte die drittklassigen sogenannten "Hertha-Bubis", die zweite Mannschaft des Hauptstadtklubs und Fünfter der Oberliga Nordost-Mitte, mit Zweitligist Chemnitzer FC zusammengeführt - und Drittligisten hatten es noch nie ins Endspiel gepackt. Erst 1997 zog Energie Cottbus nach, das allerdings den Aufstieg in die 2. Bundesliga schon sicher hatte, als es im Finale stand.

Das Interesse an der ungewöhnlichen Paarung war in der Hauptstadt so groß, dass schon das Halbfinale im Olympiastadion stattfand - quasi als Generalprobe. Die meisten der 56.540 Fans und natürlich auch der TV-Zuschauer, die damals RTL plus empfingen, drückten der kleinen Hertha die Daumen. Die Amateure beschämten die eigene, damals zweitklassige Profiabteilung, der es bis heute nicht gelungen ist, das Pokalfinale zu erreichen. Die Bubis von Trainer Jochem Ziegert aber hatten alle Hürden genommen, wobei nur ein Bundesligist ihren Weg gekreuzt hatte.

"Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin!"

Die Etappen auf der "Via triumphalis" der Berliner: Erst ein Freilos, dann kam die SKG Heidelberg (3:0). In Runde drei war der kommende Bundesligaaufsteiger VfB Leipzig schon ein anderes Kaliber, aber die aus Studenten, Schülern und Feierabendfußballern bestehende Mannschaft meisterte auch diese Prüfung (4:2). Nun kam der Titelverteidiger nach Berlin - Hannover 96. Auch er scheiterte, im Mommsenstadion gewann die kleine Hertha mit 4:3, und die Spieler dichteten den Finalsong um: "Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin!"

Im verrückten Viertelfinale, nun schon vor 13.700 Zuschauern, kassierte Hertha in der 89. Minute gegen Bundesligist 1. FC Nürnberg den Ausgleich und schoss im Gegenzug das 2:1. Entsetzt sahen sich die Club-Profis um Andreas Köpke, Hans Dorfner und Dieter Eckstein an, Letzterer stellte fest: "Schlimm daran ist, dass Hertha verdient weitergekommen ist." Nicht ganz so schlimm war der spontane Rücktritt von Hertha-Trainer Ziegert, im Hauptberuf Finanzbeamter ("So geht's nicht weiter, auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Aktenberge"), denn man konnte ihn beruhigen.

Für seine Spieler, über die niemand etwas wusste, sagte Ziegert stolz: "Alles intelligente Jungs, da ist keiner darunter, der wegen dem Fußball seine Lehre abgebrochen hat. Die wissen alle, was sie wollen." Das Ziel "Profi" hatten trotzdem alle, am weitesten brachte es Carsten Ramelow, der 2002 im WM-Finale stand. Am schönsten aber war es bei den Bubis, rein atmosphärisch. Ramelow sagte 2016 dem Spiegel: "Das Klima in der Mannschaft war sensationell. Vom ersten Spiel an bis ins Finale hatten wir alle eine Lockerheit, wie ich sie danach als Profi nie wieder erlebt habe." Auch Torwart Christian Fiedler und die Schmidt-Zwillinge Andreas und Oliver wurden bei Hertha Bundesliga-Spieler.

Spaghetti bis zum Abwinken

Im Halbfinale gegen die von Trainerlegende Hans Meyer betreuten Chemnitzer waren sie an jenem 31. März 1993 fast schon Favorit. Ziegert hielt an seinen Ritualen fest, ging mit der Mannschaft am Vorabend in die Weddinger Pizzeria "San Remo" und erlaubte "Spaghetti bis zum Abwinken". Neu war, dass sie mit Polizeieskorte ins Stadion durften, es war einfach zu viel los auf Berlins Straßen an diesem denkwürdigen Pokalabend. Auch in der Kabine war einiges los, es lief die Filmmusik aus den Rocky-Filmen mit Sylvester Stallone: "Eye of the tiger".

Wie Raubtiere stürzten sich die Berliner dann auf die Chemnitzer, deren Trainer Meyer zwar einen Glückspfennig vergraben hatte ("Mehr als einen Pfennig können wir uns nicht leisten, so viel Geld haben wir im Osten nicht"), aber der verfehlte seine Wirkung. Carsten Ramelow glückte nach Kopfballvorlage von Oliver Schmidt das frühe 1:0 (5.), und er verspürte "ein sensationelles Gefühl vor dieser Kulisse".

Sogar der Spiegel fragte ihn 2016 noch mal danach. Ramelow schilderte sein Tor 23 Jahre später, als wäre es am Vortag gefallen: "Ein langer Einwurf, der irgendwie rausgeköpft wurde von einem Chemnitzer, dann Gewühl im Strafraum. Und dann habe ich darauf spekuliert, dass einer von den Schmidt-Zwillingen den Ball wieder in den Raum reinköpft. So kam es auch glücklicherweise, ich konnte ihn mit links volley nehmen, und er ging dann dem Torhüter durch die Beine. Ein bisschen glücklich, aber mir war's egal. Ich habe unendlich gejubelt und hätte auch noch etwas weiterjubeln können."

"Nur nach Hause gehen wir nicht"

Sven Meyer baute die Führung per Kopf nach einer Ecke sogar aus (22.). Steffen Heidrichs Foulelfmeter (36.) bedeutete schon den Endstand der Partie, bei der die Hertha-Verantwortlichen für echte Pokalatmosphäre sorgten. Es wurden zwei Trommler und zwei Trompeter engagiert, in der Pause trat Showstar Frank Zander auf. Seine Hymne "Nur nach Hause gehen wir nicht", hatte an diesem Tag Premiere im Olympiastadion und ist bis heute die Vereinshymne, nun erklingt sie bei den Profis. Sie ist das Erbe jenes Halbfinales, an dem echte Hertha-Fans am meisten hängen.

In der relativ ereignislosen zweiten Hälfte, in der die Bubis durch Abgeklärtheit beeindruckten, bedeutete der Schlusspfiff von Schiedsrichter Eugen Strigel den Höhepunkt des Abends, dann ging die Party in den Berliner Kneipen erst so richtig los. "Janz Berlin" feiert Amateure, titelte der kicker und analysierte: "Der Erfolg der Amateure war hochverdient gegen die höherklassigen Gäste, die ideenlos auftraten."

Was dieser Erfolg außerhalb der sporthistorischen Marke wert war, wussten die Bubis nicht, Prämien hatten sie gar nicht ausgehandelt. "Darüber wird erst nach dem Spiel gesprochen", sagte Vorstand Jörg Thomas, für die Amateure zuständig. Geld aber war plötzlich reichlich da, Ziegert glaubte sogar, die Bubis hätten den verschuldeten Verein gerettet, "denn wir hatten ja allein bei jedem Spiel einen neuen Brustsponsor." Die Gesamteinnahmen des Halbfinales übertrafen alles, was die Hertha-Profis je im Pokal verdient hatten: 850.000 Mark.

Beifall für "Bande von Mechanikern, Studenten und Schuljungen"

Wie ging es weiter? Turbulent. Die Auslandspresse überschlug sich. "Deutschlands Fußball kann den größten Schock seiner Geschichte vermelden", schrieb die malaysische Zeitung New Strait Times in etwas eigentümlicher Ausdrucksweise und pries "die Bande von Mechanikern, Studenten und Schuljungen". Die jugendlichen Helden nahmen eine Platte auf, auch ein Buch erschien über den ungewöhnlichsten Finalisten der DFB-Historie. Der bei anderen Sensationssiegern oft zu beobachtende Spannungsabfall im Alltag trat zunächst nicht ein, in der Liga blieben sie fünf Spiele ungeschlagen, am Ende rutschten sie nur einen Platz ab (auf Rang sechs).

Mit der kleinen Hertha hatte am großen Tag des Finales im Juni 1993 auch Bayer Leverkusens Starensemble seine Mühe, nur ein Tor von Ulf Kirsten gelang dem Bundesligisten - das aber reichte zu einem 1:0. Doch selten war der Beifall für einen Finalverlierer lauter.

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