50 Jahre, 50 Gesichter: Netzers legendärer Abgang

50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: Günter Netzer, der nach der Saison 1972/73 als erster Deutscher zu Real Madrid wechselte.

In den Siebzigern entdeckten die Medien den Fußball. Er war auch für sie mehr als ein 1:0. Alles, was glitzerte und glänzte, wurde auf den Boulevard gezerrt. Einer wie Günter Netzer glänzte in beinahe allen Lebenslagen und man musste ihn auch nicht lange bitten, dem öffentlichen Interesse die Türen zu öffnen. Im Jahr vor seinem absoluten Karriere-Höhepunkt, dem Gewinn der Europameisterschaft in Belgien, eröffnete er in Mönchengladbach einen dieser neumodischen Tanzschuppen namens Discothek.

Zur Eröffnung des "Lovers Lane", der Straße der Verliebten, kam die ganze Mannschaft von Borussia Mönchengladbach. Schlagersänger Udo Jürgens hat man dort auch gesehen in jenen Tagen und der Portier sagt dem Kicker, der Netzer im Juni 1972 einen ganzen Tag lang begleiten darf: "20 Prozent unserer Gäste kommen nur, um den 'Jünter' zu sehen. Dann gehen se wieder."

Disco, Ferrari, Unfall: der "blonde Beatle" Netzer

Günter Netzer steht im Sommer 1972 auf dem Höhepunkt seiner Popularität; in Belgien wird er Europameister, die Sportpresse wählt ihn erstmals zum Fußballer des Jahres. Einer wie er kann es sich leisten, eine Disco zu führen und nach Spielen dort abzuhängen "meistens, bis wir dicht machen."

Er kann sich auch einen knallgelben Ferrari leisten, mit dem er im März 1971 einen Unfall baut und Unfallflucht begeht. Im Prozess bestätigt ihm das Amtsgericht Mönchengladbach ein halbes Jahr später laut Pressemitteilung, dass er "charakterlich nicht ungeeignet für den Straßenverkehr" sei. Mit anderen Worten: Freispruch. Und so kann "der blonde Beatle", wie ihn die Medien nennen, weiter Gas geben.

Die Saison 1972/73 ist seine siebte in der Bundesliga, immer für die Borussia. Seine beste ist es nicht. Der Notenschnitt am Saisonende lautet 2,88 – passabel, aber für einen wie ihn eher unterdurchschnittlich. Trotzdem wird über keinen Spieler in jener Saison mehr gesprochen als über Günter Netzer. Verletzungsbedingt kommt er nur auf 18 Einsätze und schießt drei Tore; nach einem Foul in Duisburg müssen ihn Sanitäter in Januar vom Platz schleppen. Muskelfaserriss. Statt der prognostizierten drei Wochen fällt er lange zwei Monate aus.

Lange Verletzungspause

Der Kapitän nimmt sich die Freiheit, die Verletzung in der Karibik auszukurieren, was für Unruhe und Spekulationen sorgt. Hat er überhaupt noch Lust auf Fußball? Trainer Hennes Weisweiler lässt wissen, er rechne nicht damit, dass Netzer bei all seinen Nebengeschäften seinen Vertrag noch mal verlängern werde. Der endet jedoch erst 1974. Von unmittelbarer Bedeutung sind dagegen die Dissonanzen zwischen Trainer und Kapitän, die eine solche Aussage offenbaren. Weisweiler plant bereits für die Zeit ohne Netzer und sagt über dessen Vertreter Christian Kulik: "Der wird einmal der Nachfolger Netzers."

Teamkollege Berti Vogts verteidigt die "Flucht" seines Freundes: "Günter war noch nie so deprimiert." Als Netzer im März 1973 beim 6:0 gegen Bochum auf der Tribüne sitzt, klagt er neidisch: "Ich kann die Jungs nicht mehr so munter spielen sehen, ohne dass es mir fast körperlich weh tut." Im gleichen Atemzug verkündet er, nach der WM 1974 mit dann 30 Jahren als Nationalspieler zurückzutreten; "danach spiele ich nur noch für meinen Verein." Beides wird nicht zutreffen.

Niederlage im UEFA-Pokal-Finale

Seine Borussia hat mit der schon am 30. Spieltag zu Gunsten der Bayern entschiedenen Meisterschaft nichts zu tun. Doch zum Glück gibt es ja noch andere Wettbewerbe. Mit Netzer erreicht Borussia das UEFA-Cup-Finale, wo sie dem FC Liverpool in zwei Spielen (0:3; 2:0) unterliegt. Was der Mai versagt, soll der Juni bringen: einen Titel.

Am 23. Juni kommt es im Düsseldorfer Rheinstadion zum DFB-Pokal-Finale zwischen der Borussia und dem 1. FC Köln. Das für viele beste Finale aller Zeiten wird auch zum magischsten Karrieremoment des Günter Netzer, obwohl oder gerade weil er bei Anpfiff auf der Bank sitzt. Die Spannungen mit Weisweiler haben einen Höhepunkt erreicht, zwei Sturköpfe sind zum x-ten Mal aneinander geprallt. Wieder einmal reden sie kaum miteinander, dafür haben sie ihren "Dolmetscher" Berti Vogts.

Extraklasse im Pokalfinale

Was ist geschehen? Zwei Wochen vor dem Finale wird ruchbar, dass Netzer zu Real Madrid gehen wird. Eine Sensation. Dem Trainer kann weder die Unruhe noch der drohende Verlust recht sein. Für ihn ist es Verrat. In derselben Woche stirbt Netzers Mutter, die sechs Tage vor dem Finale beerdigt wird. Dienstags erscheint er wieder beim Training, Weisweiler verkündet, er müsse Konditionsrückstand aufholen. Für ihn steht schon fest, dass Netzer aufgrund der seelischen Belastungen der letzten Tage auf die Bank muss. Netzer wird nach dem Warum gefragt und knurrt die Reporter an: "Fragen Sie den Trainer, der kann ihnen die Gründe nennen." Nebenbei betont er: "Es hat nicht nur an mir gelegen, dass ich zu Real gehe. Borussia hat nicht alles unternommen, um mich zu halten."

Was dann kommt, ist längst Fußball-Geschichte, ist Legende. Nach 90 Minuten wechselt sich Netzer beim Stand von 1:1 selbst ein, der junge Kulik wagt nicht zu widersprechen. Weisweiler genehmigt den letzten rebellischen Akt seines Kapitäns nonverbal, man schaut sich nur kurz an. Drei Minuten auf dem Platz, schmettert Netzer den Ball nach Doppelpass mit Rainer Bonhof mit links in den Winkel. Es ist das Siegtor. Eine Woche später wird Netzer erneut zum Fußballer des Jahres gewählt. Was für ein Abgang.

Günter Netzers Bundesligabilanz: 230 Spiele, 82 Tore, zwei Meisterschaften (1970, 1971)

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50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: Günter Netzer, der nach der Saison 1972/73 als erster Deutscher zu Real Madrid wechselte.

In den Siebzigern entdeckten die Medien den Fußball. Er war auch für sie mehr als ein 1:0. Alles, was glitzerte und glänzte, wurde auf den Boulevard gezerrt. Einer wie Günter Netzer glänzte in beinahe allen Lebenslagen und man musste ihn auch nicht lange bitten, dem öffentlichen Interesse die Türen zu öffnen. Im Jahr vor seinem absoluten Karriere-Höhepunkt, dem Gewinn der Europameisterschaft in Belgien, eröffnete er in Mönchengladbach einen dieser neumodischen Tanzschuppen namens Discothek.

Zur Eröffnung des "Lovers Lane", der Straße der Verliebten, kam die ganze Mannschaft von Borussia Mönchengladbach. Schlagersänger Udo Jürgens hat man dort auch gesehen in jenen Tagen und der Portier sagt dem Kicker, der Netzer im Juni 1972 einen ganzen Tag lang begleiten darf: "20 Prozent unserer Gäste kommen nur, um den 'Jünter' zu sehen. Dann gehen se wieder."

Disco, Ferrari, Unfall: der "blonde Beatle" Netzer

Günter Netzer steht im Sommer 1972 auf dem Höhepunkt seiner Popularität; in Belgien wird er Europameister, die Sportpresse wählt ihn erstmals zum Fußballer des Jahres. Einer wie er kann es sich leisten, eine Disco zu führen und nach Spielen dort abzuhängen "meistens, bis wir dicht machen."

Er kann sich auch einen knallgelben Ferrari leisten, mit dem er im März 1971 einen Unfall baut und Unfallflucht begeht. Im Prozess bestätigt ihm das Amtsgericht Mönchengladbach ein halbes Jahr später laut Pressemitteilung, dass er "charakterlich nicht ungeeignet für den Straßenverkehr" sei. Mit anderen Worten: Freispruch. Und so kann "der blonde Beatle", wie ihn die Medien nennen, weiter Gas geben.

Die Saison 1972/73 ist seine siebte in der Bundesliga, immer für die Borussia. Seine beste ist es nicht. Der Notenschnitt am Saisonende lautet 2,88 – passabel, aber für einen wie ihn eher unterdurchschnittlich. Trotzdem wird über keinen Spieler in jener Saison mehr gesprochen als über Günter Netzer. Verletzungsbedingt kommt er nur auf 18 Einsätze und schießt drei Tore; nach einem Foul in Duisburg müssen ihn Sanitäter in Januar vom Platz schleppen. Muskelfaserriss. Statt der prognostizierten drei Wochen fällt er lange zwei Monate aus.

Lange Verletzungspause

Der Kapitän nimmt sich die Freiheit, die Verletzung in der Karibik auszukurieren, was für Unruhe und Spekulationen sorgt. Hat er überhaupt noch Lust auf Fußball? Trainer Hennes Weisweiler lässt wissen, er rechne nicht damit, dass Netzer bei all seinen Nebengeschäften seinen Vertrag noch mal verlängern werde. Der endet jedoch erst 1974. Von unmittelbarer Bedeutung sind dagegen die Dissonanzen zwischen Trainer und Kapitän, die eine solche Aussage offenbaren. Weisweiler plant bereits für die Zeit ohne Netzer und sagt über dessen Vertreter Christian Kulik: "Der wird einmal der Nachfolger Netzers."

Teamkollege Berti Vogts verteidigt die "Flucht" seines Freundes: "Günter war noch nie so deprimiert." Als Netzer im März 1973 beim 6:0 gegen Bochum auf der Tribüne sitzt, klagt er neidisch: "Ich kann die Jungs nicht mehr so munter spielen sehen, ohne dass es mir fast körperlich weh tut." Im gleichen Atemzug verkündet er, nach der WM 1974 mit dann 30 Jahren als Nationalspieler zurückzutreten; "danach spiele ich nur noch für meinen Verein." Beides wird nicht zutreffen.

Niederlage im UEFA-Pokal-Finale

Seine Borussia hat mit der schon am 30. Spieltag zu Gunsten der Bayern entschiedenen Meisterschaft nichts zu tun. Doch zum Glück gibt es ja noch andere Wettbewerbe. Mit Netzer erreicht Borussia das UEFA-Cup-Finale, wo sie dem FC Liverpool in zwei Spielen (0:3; 2:0) unterliegt. Was der Mai versagt, soll der Juni bringen: einen Titel.

Am 23. Juni kommt es im Düsseldorfer Rheinstadion zum DFB-Pokal-Finale zwischen der Borussia und dem 1. FC Köln. Das für viele beste Finale aller Zeiten wird auch zum magischsten Karrieremoment des Günter Netzer, obwohl oder gerade weil er bei Anpfiff auf der Bank sitzt. Die Spannungen mit Weisweiler haben einen Höhepunkt erreicht, zwei Sturköpfe sind zum x-ten Mal aneinander geprallt. Wieder einmal reden sie kaum miteinander, dafür haben sie ihren "Dolmetscher" Berti Vogts.

Extraklasse im Pokalfinale

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Was ist geschehen? Zwei Wochen vor dem Finale wird ruchbar, dass Netzer zu Real Madrid gehen wird. Eine Sensation. Dem Trainer kann weder die Unruhe noch der drohende Verlust recht sein. Für ihn ist es Verrat. In derselben Woche stirbt Netzers Mutter, die sechs Tage vor dem Finale beerdigt wird. Dienstags erscheint er wieder beim Training, Weisweiler verkündet, er müsse Konditionsrückstand aufholen. Für ihn steht schon fest, dass Netzer aufgrund der seelischen Belastungen der letzten Tage auf die Bank muss. Netzer wird nach dem Warum gefragt und knurrt die Reporter an: "Fragen Sie den Trainer, der kann ihnen die Gründe nennen." Nebenbei betont er: "Es hat nicht nur an mir gelegen, dass ich zu Real gehe. Borussia hat nicht alles unternommen, um mich zu halten."

Was dann kommt, ist längst Fußball-Geschichte, ist Legende. Nach 90 Minuten wechselt sich Netzer beim Stand von 1:1 selbst ein, der junge Kulik wagt nicht zu widersprechen. Weisweiler genehmigt den letzten rebellischen Akt seines Kapitäns nonverbal, man schaut sich nur kurz an. Drei Minuten auf dem Platz, schmettert Netzer den Ball nach Doppelpass mit Rainer Bonhof mit links in den Winkel. Es ist das Siegtor. Eine Woche später wird Netzer erneut zum Fußballer des Jahres gewählt. Was für ein Abgang.

Günter Netzers Bundesligabilanz: 230 Spiele, 82 Tore, zwei Meisterschaften (1970, 1971)