2002 - zehn Jahre danach

Heute vor zehn Jahren stand die Nationalmannschaft zum siebten und bis dato letzten Mal in einem WM-Finale. Udo Muras erinnert an den Tag, als aus dem Titan wieder ein Mensch wurde.

Oft genug war die Final-Teilnahme für eine DFB-Elf das Minimalziel gewesen, diesmal aber war sie eine Sensation. Der Tiefpunkt nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2000 war gerade erst überwunden, zur WM schaffte es das Team von Rudi Völler erst im Nachsitzen – zwei Relegationsspiele gegen die Ukraine (1:1 und 4:1) im November 2001 waren notwendig, ehe es in den Flieger gen Asien gegangen war. In Japan, wo die Vorrunde stattfand, und Südkorea blieb diese zudem von Personalsorgen (Ausfälle von Deisler, Nowotny, Scholl, Heinrich) geplagte Mannschaft ungeschlagen. Vom Start abgesehen (8:0 gegen Saudi-Arabien) gab es nur enge Spiele, aber am Ende gewannen immer die Deutschen – vom 1:1 gegen Irland im zweiten Spiel mal abgesehen. Da kassierte Oliver Kahn in letzter Minute sein einziges Gegentor.

Kahn wurde bei dieser WM auf dem Boulevard zum "Titan" und beeindruckte alle Welt mit seinen Paraden. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", fragte der Kicker hintersinnig nach dem 1:0 gegen die USA im Viertelfinale. Das nicht, aber zumindest mit seinen Kollegen ins Finale einziehen. Das geschah am 25. Juni 2002 in Seoul nach einem 1:0 über Gastgeber Südkorea.

"Was kein vernünftiger Mensch für möglich gehalten hat, ist geschehen", schrie ARD-Kommentator Heribert Fassbender in sein Mikrofon. Das hörten schon nicht mehr alle der 22,58 Millionen TV-Zuschauer (Marktanteil: 85,2 %), spontane Jubelfeiern brachen an einem hellichten Dienstagnachmittag in ganz Deutschland aus. Autokorsos auf der Reeperbahn, am Kurfürstendamm, auf der Leopoldstraße, im ganzen Land. Einer jubelte nicht.

"Gott sei Dank bin ich nicht dabei"

In der Kabine, erst nach getaner Arbeit, haderte Michel Ballack mit seinem Schicksal. Von einem Weinkrampf war in großen Lettern die Rede, doch Oliver Kahn hatte auch etwas anderes zu berichten. "Ballack hat schon geflachst und gesagt: 'Gott sei Dank bin ich nicht dabei, sonst würden wir wieder nur Zweiter.`" Denn im Frühjahr war er mit Bayer Leverkusen binnen drei Wochen in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League stets Zweiter geworden. Kahn, der wieder nicht zu bezwungen war, sah Ballacks Einsatz als Symbol für den Teamgeist. "Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, dass er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft."

Am Sonntag, den 30. Juni, wollten sie die Krönung ihres unglaublichen Märchens. Aber der denkbar schwerste Gegner wartete auf die Deutschen: Brasilien.

Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauergäste bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Bundespräsident Johannes Rau und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Final-Ticket gezahlt und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro. Das Finale zog die Welt in ihren Bann.



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Heute vor zehn Jahren stand die Nationalmannschaft zum siebten und bis dato letzten Mal in einem WM-Finale. Udo Muras erinnert an den Tag, als aus dem Titan wieder ein Mensch wurde.

Oft genug war die Final-Teilnahme für eine DFB-Elf das Minimalziel gewesen, diesmal aber war sie eine Sensation. Der Tiefpunkt nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2000 war gerade erst überwunden, zur WM schaffte es das Team von Rudi Völler erst im Nachsitzen – zwei Relegationsspiele gegen die Ukraine (1:1 und 4:1) im November 2001 waren notwendig, ehe es in den Flieger gen Asien gegangen war. In Japan, wo die Vorrunde stattfand, und Südkorea blieb diese zudem von Personalsorgen (Ausfälle von Deisler, Nowotny, Scholl, Heinrich) geplagte Mannschaft ungeschlagen. Vom Start abgesehen (8:0 gegen Saudi-Arabien) gab es nur enge Spiele, aber am Ende gewannen immer die Deutschen – vom 1:1 gegen Irland im zweiten Spiel mal abgesehen. Da kassierte Oliver Kahn in letzter Minute sein einziges Gegentor.

Kahn wurde bei dieser WM auf dem Boulevard zum "Titan" und beeindruckte alle Welt mit seinen Paraden. "Kann ein Mann Weltmeister werden?", fragte der Kicker hintersinnig nach dem 1:0 gegen die USA im Viertelfinale. Das nicht, aber zumindest mit seinen Kollegen ins Finale einziehen. Das geschah am 25. Juni 2002 in Seoul nach einem 1:0 über Gastgeber Südkorea.

"Was kein vernünftiger Mensch für möglich gehalten hat, ist geschehen", schrie ARD-Kommentator Heribert Fassbender in sein Mikrofon. Das hörten schon nicht mehr alle der 22,58 Millionen TV-Zuschauer (Marktanteil: 85,2 %), spontane Jubelfeiern brachen an einem hellichten Dienstagnachmittag in ganz Deutschland aus. Autokorsos auf der Reeperbahn, am Kurfürstendamm, auf der Leopoldstraße, im ganzen Land. Einer jubelte nicht.

"Gott sei Dank bin ich nicht dabei"

In der Kabine, erst nach getaner Arbeit, haderte Michel Ballack mit seinem Schicksal. Von einem Weinkrampf war in großen Lettern die Rede, doch Oliver Kahn hatte auch etwas anderes zu berichten. "Ballack hat schon geflachst und gesagt: 'Gott sei Dank bin ich nicht dabei, sonst würden wir wieder nur Zweiter.`" Denn im Frühjahr war er mit Bayer Leverkusen binnen drei Wochen in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League stets Zweiter geworden. Kahn, der wieder nicht zu bezwungen war, sah Ballacks Einsatz als Symbol für den Teamgeist. "Man muss vor ihm den Hut ziehen, denn er hat ein Foul gemacht, dass er für die Mannschaft und für das Weiterkommen machen musste. Ein typisches Beispiel für die Charaktere in der Mannschaft."

Am Sonntag, den 30. Juni, wollten sie die Krönung ihres unglaublichen Märchens. Aber der denkbar schwerste Gegner wartete auf die Deutschen: Brasilien.

Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauergäste bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Bundespräsident Johannes Rau und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Final-Ticket gezahlt und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro. Das Finale zog die Welt in ihren Bann.

"Ein logisches Endspiel"

"Die Weltmeisterschaft der Überraschungen bekommt doch nach ein logisches Endspiel", schrieb eine holländische Zeitung. Zwei große Fußball-Nationen kämpften um den Pokal, damit war nach dem Turnierverlauf kaum noch zu rechnen gewesen. Im DFB-Quartier ging es am Vortag in Yokohama zu wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Print-Journalisten aus aller Welt belagerten das Foyer im "Sheraton Bay and Tower"-Hotel vor der Pressekonferenz. Rudi Völler forderte schlicht von allen Akteuren in seiner Elf "das Spiel des Lebens" zu machen. Die Bild am Sonntag setzte besonders auf einen und titelte: "Heute sind wir alle Olli".

Mit 14:1 Toren, drei guten Spielen und ihren Tugenden, die die ganze Welt fürchtete, war diese Mannschaft ins Finale gekommen. Wieso eigentlich sollte sie chancenloser Außenseiter sein?

Als das ZDF seine Finalsendung begann, tippten oder besser wünschten sich 82% der Teilnehmer an einer Umfrage den WM-Titel. Aber Ballack fehlte, Bayerns Jens Jeremies ersetzte ihn. Um 20 Uhr Ortszeit, in Deutschland war es 13 Uhr, pfiff der Italiener Pierluigi Collina an.

Die ersten 20 Minuten gehörten der deutschen Elf, die couragiert nach vorne spielte. Besonders auffällig agierte der Leverkusener Bernd Schneider, den sie schon vor dem Spiel den "weißen Brasilianer" nannten. Er erwies sich dieses Rufes würdig, er spielte an diesem Tag besser als alle richtigen Brasilianer. Dennoch musste Deutschland froh sein, mit einem 0:0 in die Kabinen zu gehen, weil Kleberson die Latte und Ronaldo Oliver Kahn traf – beides in der 45. Minute.

Vorboten brasilianischer Torgefahr, während die deutsche Mannschaft keine Chance herausgespielt hatte. Als es wieder losging, kamen auch die Chancen. Zunächst köpfte Jeremies vorbei (47.), dann wagte Neuville einen Freistoß aus rund 30 Metern. Torwart Marcos lenkte den Ball gerade noch an den Pfosten (49.), von wo auch das Glück von den Deutschen abprallte.

Kahn wird zur tragischen Figur

Dann kam auch noch Pech dazu. Der Fußballgott hatte sich die denkbar tragischste Konstellation, dieses Finale zu entscheiden, bis zur 67. Minute aufbewahrt. Da passierte es: einen Schuss von Rivaldo konnte Oliver Kahn, schon vor dem Finale zum besten WM-Torwart gewählt, nicht festhalten.

Der Unfehlbare beging nur diesen einen Fehler in Asien und wurde so hart bestraft: Ronaldo holte sich den Abpraller und schoss das 1:0. Nun bekamen die Zauberer vom Zuckerhut Oberwasser und nutzten gleich ihre nächste Chance: Wieder traf Ronaldo, diesmal unhaltbar, von der Strafraumgrenze (79.). Joker Oliver Bierhoff vergab noch eine Chance aus zwölf Metern (83.). Es war der Schlussakt eines sehenswerten Finales, das einen würdigen Sieger bekam. Franz Beckenbauer kommentierte stolz: "nach diesem Finale müssen wir nicht in Trauer versinken. So darf man gegen eine große brasilianische Mannschaft verlieren."

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Dass sich die deutsche Mannschaft nicht wirklich als Verlierer fühlen sollte nach einer solchen Turnierleistung sieht heute jeder so. Doch für Oliver Kahn war es in der Nacht von Yokohama kein Trost. Minutenlang stand, lehnte und kauerte er apathisch am Torpfosten. Der Titan war wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zuflogen wie nie zuvor in seinem von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Leben. Eine japanische Studentin schrieb in ihr Internet-Tagebuch: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer – das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

Für Kahn hagelte es Ehrungen

Selbst die Entschuldigung, dass er ab der 52.Minuten nach einem Tritt Ronaldos mit Bänderriss im Finger spielte, wollte er nicht gelten lassen. "So extrem schlimm ist es nicht", sagte er. "Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Da gibt es keinen Trost."

Dabei hagelte es Ehrungen für ihn. Er wurde von den Journalisten aller Welt ins All Star Team gewählt, dann zum besten Torwart und schließlich zum besten Spieler des Turniers. Er erhielt 147 Stimmen, rund 25 Prozent. Das hatte noch kein Torwart geschafft, seit die Wahl 1982 eingeführt worden ist. Er hätte aber vermutlich alles gegen den WM-Pokal eingetauscht. Aber der Empfang am nächsten Tag am Frankfurter Römer vor rund 50.000 Fans hätte auch nicht anders ausfallen können.

"Was wäre eigentlich hier los gewesen, wenn wir Weltmeister geworden wären?", fragte ein gerührter Rudi Völler. Es war das aus deutscher Sicht unerwartet schöne Ende einer WM, die alles, nur keine Niederlage, war.