1984: 26 Tore in einem Pokal-Halbfinale

26 Tore in einem Pokal-Halbfinale – ein Ereignis, das kaum zu glauben scheint, feiert jetzt 40. Jahrestag. Es war ein Drama mit zwei Akten und einer Zugabe und das Publikum spendete stehend Beifall. Was in den ersten Mai-Tagen 1984 geschah, verdient das Etikett „Pokal total!“ Zwei Sternstunden des deutschen Fußballs, eine TV-Premiere und der größte Tag eines kleinen, großen Fußballers verbinden wir mit diesem Spielen. Schauen wir noch mal rein:

1. Akt: Dienstag, 1. Mai 1984

Borussia Mönchengladbach – Werder Bremen 5:4 n. V.

Diese Halbfinal-Partie war die erste, die im deutschen Fernsehen live übertragen wurde. Noch vor der Bundesliga-TV-Premiere, die ein halbes Jahr später ebenfalls auf dem Gladbacher Bökelberg stattfinden sollte. Auch aufgrund der aufkommenden Privatsender weichte das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Zusammenspiel mit dem DFB seine Regelungen, die vor allem dem Schutz der Amateure galten, auf.

Außerdem: Die Nation hungerte nach gutem Fußball. Von der Nationalmannschaft unter Bundestrainer Jupp Derwall war sie nicht gerade verwöhnt worden, die deutschen Fußballer hatten mit Mühe und Not die EM in Frankreich erreicht. Auch im Europapokal hatten deutsche Fußballer keine Freude verbreitet, erstmals war keine Mannschaft über den Winter gekommen.

Da war der Pokal ein Trostpflaster, die Lose führten namhafte Mannschaften zusammen. Die ARD übertrug das erste Spiel am Tag der Arbeit um 18 Uhr zwischen Borussia Mönchen-gladbach und Werder Bremen.

Wer etwas später von seinem Feiertagsausflug zurückkehrte, der musste sich nicht ärgern.

40 Minuten lang passierte wenig am Bökelberg. Ein gewisser Lothar Matthäus, damals 23 Jahre jung und ein künftiger Bayern-Spieler, eröffnete dann den Torreigen. Er rutschte nach einem Fehler von Klaus Fichtel, der ein paar Jahre später der älteste Bundesliga-Spielers aller Zeiten werden sollte, in eine Flanke und überwand Dieter Burdenski. Das war aber nicht der Halbzeitstand, denn in diesem Halbfinale fielen die Tore wie die Domino-Steine: das eine löste das nächste beinahe unmittelbar aus. So glich Norbert Meier sofort zum 1:1 aus, aber Borussen-Verteidiger Norbert Ringels schoss prompt das 2:1. Drei Tore in vier Minuten, da herrschte bei den 34.500 Zuschauern fast südländische Begeisterung, die nach über einer Stunde überschäumen sollte. Da flog aus dem Bremer Block eine Tränengasbombe auf den Rasen und Schiedsrichter Franz-Josef Hontheim unterbrach für fünf Minuten. Werder-Kapitän Benno Möhlmann legte noch auf dem Platz den drei Tage später zurückgezogenen Protest ein, denn zumindest drei Spieler hatten Probleme mit den Augen. Die Bedingungen schienen irregulär zu werden. Gegen alle Regeln der Vernunft war jedenfalls das was dann geschah.

Uwe Rahn erhöhte nach 76 Minuten auf 3:1, es roch nach  Vorentscheidung. Noch war es ein normales Spiel. Doch nur sechs Minuten später saß Werder Bremen quasi im Flieger nach Frankfurt, wo das Finale für den 31. Mai terminiert war. Die entfesselten Gäste führten urplötzlich mit 4:3 durch Tore von Möhlmann, Wolfgang Sidka und Uwe Reinders. Fassungslosigkeit beim Borussen-Anhang, Otto Rehhagels Team wähnte sich schon im Endspiel. Sein Kollege Jupp Heynckes wechselte in der Not seinen Joker Hans-Jörg Criens ein – nur selten hat ein Trainer eine bessere Wahl getroffen.

Zunächst schien Wilfried Hannes zum Helden zu werden, doch Hontheim gab sein Tor in der 88. Minute zu Unrecht nicht. Der Bökelberg bebte vor Wut – und wenig später vor  Entzücken: Mit der wirklich letzten Aktion, es war die fünfte Minute der Nachspiel-zeit, glückte dem langen Criens das 4:4. Verlängerung!

Die ARD sah sich genötigt, die heilige Kuh "Tagesschau" in die Warteschleife zu setzen, jetzt regierte König Fußball.

Die Spannung wurde unerträglich, aber wenigstens war es nicht mehr so schwer den Überblick zu bewahren. Es fiel nur noch ein Tor – das 5:4 durch den 23jährigen Criens, der nachher sagte: "Mein Ziel ist es, den Ruf des Jokers bald los zu werden. Ich möchte wie jeder Fußballer einen Stamm-platz." Das Tor fiel in der 107. Minute und 17 weitere vergingen bis zum Abpfiff, weil nach einem Zusammenprall dreier Spieler der Ball wieder für vier Minuten ruhte. Der kommenden Nationalspieler Rahn bezahlte seinen Einsatz mit einem Nasenbeinbruch. Das Fachmagazin Kicker bilanzierte: "Das war Fußball total! Ein Spiel, das in die Geschichte eingehen wird."

2. Akt Mittwoch, 2. Mai 1984

Schalke 04 – Bayern München 6:6 n. V.

Am Abend des 1. Mai 1984 saßen die Spieler von Schalke 04 im Trainingslager zusammen und sahen das erste DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen. Schalkes Bernd Dierßen erzählte später: "Wir haben damals gesagt: ‚So ein Spiel gibt es nur alle zehn Jahre’." Irrtum. Schon einen Tag später wurde es in seiner Dramatik noch überboten und damit war wirklich nicht zu rechnen. Denn Schalke 04 spielte wie auch jetzt damals in der Zweiten Liga, die Bayern um die Brüder Rummenigge und Sören Lerby wie gewöhnlich um die Meisterschaft. Dennoch kamen an diesem verregneten Mittwoch offiziell 70.600, inoffiziell aber 78.000 Menschen, ins Gelsenkirchener Park-Stadion in der Hoffnung auf ein königsblaues Wunder. Für jeden Schalker ging es um 10.000 D-Mark Prämie.

Das Spiel wurde im ZDF übertragen und wer zu spät einschaltete, verpasste einiges.  Nach 20 Minuten waren bereits fünf Treffer gefallen, nach dem Motto des Vortags: Ein Tor kommt selten alleine. Karl-Heinz Rummenigge und Reinhold Mathy sorgten für eine standesgemäße Führung für Bayern, doch Thomas Kruse verkürzte im Gegenzug auf 1:2. Dann fiel der erste Treffer des Mannes, der an diesem Tag weltberühmt wurde. Olaf Thon, ein Gelsenkirchener Junge, am Vortag erst 18 Jahre geworden, wurde nun auch als Fußballer volljährig. Er versetzte gestandene Profis wie Klaus Augenthaler wie Slalomstangen, schoss aus allen Lagen und mit beiden Füßen. Auf seinen Flachschuss zum 2:2 hatten die Bayern noch eine prompte Antwort, denn Michael Rummenigge stellte postwendend die Bayern-Führung wieder her. Das 2:3 war der Pausenstand und leuchtete lange von der Anzeigetafel im Parkstadion. Kaum zu glauben, dass es bei einer Partie mit zwölf Toren eine Phase über 41 Minuten geben konnte, in der sich das Netz mal nicht beulte. Dann aber kam wieder der nur 1,70 Meter kleine Thon zum Vorschein, nun sogar als Kopfball-Ungeheuer. "Meine Spieler haben den kleinen Kerl doch gar nicht ernst genommen", sagte Bayern-Trainer Udo Lattek später. Das Stadion toste nach dem 3:3, die ersten bekamen eine Ahnung davon, dass das Drama vom Bökelberg keine Ausnahme bleiben würde.

Die Schalker Spieler vergaßen jedenfalls den Klassenunterschied und bekamen Flügel. Thon berichtete: "Ich war mir sicher: die haben richtig Schiss." Der biedere Verteidiger Peter Stichler gab den Bayern allen Grund dazu, als er nach 72 Minuten Schalke erstmals in Führung köpfte – 4:3. Nun zog Lattek seinen Joker, brachte den langen Dieter Hoeneß, dessen Bruder Uli als Manager unruhig auf der Bank herumrutschte. Michael Rummenigge verhinderte das Schlimmste mit einem weiteren Kopfballtor (80.) und so ging auch das zweite Halbfinale nach einem 4:4-Zwischenstand in die Verlängerung.

Die Abnutzungsschlacht bei Dauerregen nahm sich eine kleine Auszeit, bis ausgerechnet der frühere Bayern-Torwart Walter Junghans das Spiel wiederbelebte. In der 112. Minute ließ er einen schon gesicherten Ball auf der Torauslinie wieder los und Hoeneß stolperte ihn zum 4:5 ins Netz. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier verkündete seinem Publikum die Vorentscheidung, Schalkes Spieler kümmerten sich nicht drum. "Der Walter Junghans hat uns so leid getan. Wir haben uns gesagt: Er ist so ein netter Kerl und hat es einfach nicht verdient, als Verlierer vom Platz zu gehen", nannte Thon 2009 in einem Jubiläums-Beitrag des WDR zu diesem Spiel ein Motiv für die Aufholjagd.

Der Kapitän ging mit gutem Beispiel voran. Bernard Dietz kam nach einer Ecke frei zum Schuss und überwand Jean-Marie Pfaff ein fünftes Mal – das war fünf Minuten vor Ende, aber keineswegs vor Torschluss.

In der 117. Minute enteilte Dieter Hoeneß den Verteidigern und überwand Junghans erneut – 5:6. Wie am Vortag Gladbachs Criens stach auch dieser Joker doppelt. "Ist das die Entscheidung? Ja!", legte sich Figgemeier nun fest. Aber es gab ja noch den kleinen Mann mit der großen Zukunft und der Nummer zehn auf dem Rücken. Schiedsrichter Wiesel ließ drei Minuten nachspielen und munterte Olaf Thon sogar auf: "Komm', den einen Angriff noch." Daraus entstand ein Freistoß von Dierßen, Klaus Augenthaler köpfte nicht weit genug weg und der Ball fand seinen Weg zum Liebling des Schicksals. Zu Olaf Thon, dem die Sensationen magisch anziehende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien im Interview entlockte, dass er eigentlich in Bayern-Bettwäsche schlafe. Diesmal schoss Thon mit links, volley in den Winkel. 6:6!

Ein solches Ergebnis gab es nie zuvor und niemals wieder im DFB-Pokal, ein solches Erlebnis schon gar nicht. Dann war Schluss.

Drei Menschen erlitten im Stadion einen Herzinfarkt, ein 60-Jähriger starb.

Olaf Thon wurde von den Fans noch 45 Minuten lang auf Schultern durch die Arena getragen und sagte noch oft: "Es war das schönste Spiel in meiner Karriere. Ich sage immer scherzhaft: Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich aufhören müssen."

Er spielte dann doch noch ein paar Jährchen, vier davon in München. Udo Lattek hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen, doch Schalkes Schatzmeister verlangte im Scherz zwölf Millionen Mark.

Ganz ernst gemeint waren dagegen die Worte von Fritz Walter, dem Helden von Bern. "Ich habe schon viel erlebt, aber das war in den letzten 20 Jahren das absolut Größte. Die Spiele in Gladbach und Schalke waren Sternstunden des Fußballs."

Zugabe: 9. Mai 1984 Bayern München – Schalke 04 3:2

Wie ging es weiter? Die Regeln sahen ein Wiederholungsspiel vor. 40.000 Zuschauer zogen in München das Live-Erlebnis dem Fernsehsessel vor. Die Bayern starteten gut, es sah nun nach einer klaren Sache aus, führten sie doch zur Halbzeit mit 2:0. Karl-Heinz Rummenigge (32.) und Dieter Hoeneß (44.) überwanden Walter Junghans im Schalker Tor. Doch der Zweitligist bewies erneut seine Unbeugsamkeit, glich durch Michael Jakobs (50.) und Michael Opitz (72.) aus und Wunderknabe Olaf Thon, dreifacher Torschütze im Hinspiel, bot sich gar die Chance zum 2:3, doch Jean-Marie Pfaff parierte glänzend. Dann flankte Joker Kalle Del’Haye auf  Karl-Heinz Rummenigge, der mit seinem zweiten Tor des Abends per Flugkopfball (79.) den Bayern das Finale sicherte. Udo Lattek war es "ein Anliegen, dieser Schalker Mannschaft zu gratulieren." Der Vorstand zahlte den 04-Spielern pro Kopf 10.000 DM, so als hätten sie gewonnen. Das Finale gewannen die Bayern dann auch nicht ohne Drama, gegen Mönchengladbach gab es ein 8:7 – nach Elfmeterschießen.

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26 Tore in einem Pokal-Halbfinale – ein Ereignis, das kaum zu glauben scheint, feiert jetzt 40. Jahrestag. Es war ein Drama mit zwei Akten und einer Zugabe und das Publikum spendete stehend Beifall. Was in den ersten Mai-Tagen 1984 geschah, verdient das Etikett „Pokal total!“ Zwei Sternstunden des deutschen Fußballs, eine TV-Premiere und der größte Tag eines kleinen, großen Fußballers verbinden wir mit diesem Spielen. Schauen wir noch mal rein:

1. Akt: Dienstag, 1. Mai 1984

Borussia Mönchengladbach – Werder Bremen 5:4 n. V.

Diese Halbfinal-Partie war die erste, die im deutschen Fernsehen live übertragen wurde. Noch vor der Bundesliga-TV-Premiere, die ein halbes Jahr später ebenfalls auf dem Gladbacher Bökelberg stattfinden sollte. Auch aufgrund der aufkommenden Privatsender weichte das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Zusammenspiel mit dem DFB seine Regelungen, die vor allem dem Schutz der Amateure galten, auf.

Außerdem: Die Nation hungerte nach gutem Fußball. Von der Nationalmannschaft unter Bundestrainer Jupp Derwall war sie nicht gerade verwöhnt worden, die deutschen Fußballer hatten mit Mühe und Not die EM in Frankreich erreicht. Auch im Europapokal hatten deutsche Fußballer keine Freude verbreitet, erstmals war keine Mannschaft über den Winter gekommen.

Da war der Pokal ein Trostpflaster, die Lose führten namhafte Mannschaften zusammen. Die ARD übertrug das erste Spiel am Tag der Arbeit um 18 Uhr zwischen Borussia Mönchen-gladbach und Werder Bremen.

Wer etwas später von seinem Feiertagsausflug zurückkehrte, der musste sich nicht ärgern.

40 Minuten lang passierte wenig am Bökelberg. Ein gewisser Lothar Matthäus, damals 23 Jahre jung und ein künftiger Bayern-Spieler, eröffnete dann den Torreigen. Er rutschte nach einem Fehler von Klaus Fichtel, der ein paar Jahre später der älteste Bundesliga-Spielers aller Zeiten werden sollte, in eine Flanke und überwand Dieter Burdenski. Das war aber nicht der Halbzeitstand, denn in diesem Halbfinale fielen die Tore wie die Domino-Steine: das eine löste das nächste beinahe unmittelbar aus. So glich Norbert Meier sofort zum 1:1 aus, aber Borussen-Verteidiger Norbert Ringels schoss prompt das 2:1. Drei Tore in vier Minuten, da herrschte bei den 34.500 Zuschauern fast südländische Begeisterung, die nach über einer Stunde überschäumen sollte. Da flog aus dem Bremer Block eine Tränengasbombe auf den Rasen und Schiedsrichter Franz-Josef Hontheim unterbrach für fünf Minuten. Werder-Kapitän Benno Möhlmann legte noch auf dem Platz den drei Tage später zurückgezogenen Protest ein, denn zumindest drei Spieler hatten Probleme mit den Augen. Die Bedingungen schienen irregulär zu werden. Gegen alle Regeln der Vernunft war jedenfalls das was dann geschah.

Uwe Rahn erhöhte nach 76 Minuten auf 3:1, es roch nach  Vorentscheidung. Noch war es ein normales Spiel. Doch nur sechs Minuten später saß Werder Bremen quasi im Flieger nach Frankfurt, wo das Finale für den 31. Mai terminiert war. Die entfesselten Gäste führten urplötzlich mit 4:3 durch Tore von Möhlmann, Wolfgang Sidka und Uwe Reinders. Fassungslosigkeit beim Borussen-Anhang, Otto Rehhagels Team wähnte sich schon im Endspiel. Sein Kollege Jupp Heynckes wechselte in der Not seinen Joker Hans-Jörg Criens ein – nur selten hat ein Trainer eine bessere Wahl getroffen.

Zunächst schien Wilfried Hannes zum Helden zu werden, doch Hontheim gab sein Tor in der 88. Minute zu Unrecht nicht. Der Bökelberg bebte vor Wut – und wenig später vor  Entzücken: Mit der wirklich letzten Aktion, es war die fünfte Minute der Nachspiel-zeit, glückte dem langen Criens das 4:4. Verlängerung!

Die ARD sah sich genötigt, die heilige Kuh "Tagesschau" in die Warteschleife zu setzen, jetzt regierte König Fußball.

Die Spannung wurde unerträglich, aber wenigstens war es nicht mehr so schwer den Überblick zu bewahren. Es fiel nur noch ein Tor – das 5:4 durch den 23jährigen Criens, der nachher sagte: "Mein Ziel ist es, den Ruf des Jokers bald los zu werden. Ich möchte wie jeder Fußballer einen Stamm-platz." Das Tor fiel in der 107. Minute und 17 weitere vergingen bis zum Abpfiff, weil nach einem Zusammenprall dreier Spieler der Ball wieder für vier Minuten ruhte. Der kommenden Nationalspieler Rahn bezahlte seinen Einsatz mit einem Nasenbeinbruch. Das Fachmagazin Kicker bilanzierte: "Das war Fußball total! Ein Spiel, das in die Geschichte eingehen wird."

2. Akt Mittwoch, 2. Mai 1984

Schalke 04 – Bayern München 6:6 n. V.

Am Abend des 1. Mai 1984 saßen die Spieler von Schalke 04 im Trainingslager zusammen und sahen das erste DFB-Pokal-Halbfinale zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen. Schalkes Bernd Dierßen erzählte später: "Wir haben damals gesagt: ‚So ein Spiel gibt es nur alle zehn Jahre’." Irrtum. Schon einen Tag später wurde es in seiner Dramatik noch überboten und damit war wirklich nicht zu rechnen. Denn Schalke 04 spielte wie auch jetzt damals in der Zweiten Liga, die Bayern um die Brüder Rummenigge und Sören Lerby wie gewöhnlich um die Meisterschaft. Dennoch kamen an diesem verregneten Mittwoch offiziell 70.600, inoffiziell aber 78.000 Menschen, ins Gelsenkirchener Park-Stadion in der Hoffnung auf ein königsblaues Wunder. Für jeden Schalker ging es um 10.000 D-Mark Prämie.

Das Spiel wurde im ZDF übertragen und wer zu spät einschaltete, verpasste einiges.  Nach 20 Minuten waren bereits fünf Treffer gefallen, nach dem Motto des Vortags: Ein Tor kommt selten alleine. Karl-Heinz Rummenigge und Reinhold Mathy sorgten für eine standesgemäße Führung für Bayern, doch Thomas Kruse verkürzte im Gegenzug auf 1:2. Dann fiel der erste Treffer des Mannes, der an diesem Tag weltberühmt wurde. Olaf Thon, ein Gelsenkirchener Junge, am Vortag erst 18 Jahre geworden, wurde nun auch als Fußballer volljährig. Er versetzte gestandene Profis wie Klaus Augenthaler wie Slalomstangen, schoss aus allen Lagen und mit beiden Füßen. Auf seinen Flachschuss zum 2:2 hatten die Bayern noch eine prompte Antwort, denn Michael Rummenigge stellte postwendend die Bayern-Führung wieder her. Das 2:3 war der Pausenstand und leuchtete lange von der Anzeigetafel im Parkstadion. Kaum zu glauben, dass es bei einer Partie mit zwölf Toren eine Phase über 41 Minuten geben konnte, in der sich das Netz mal nicht beulte. Dann aber kam wieder der nur 1,70 Meter kleine Thon zum Vorschein, nun sogar als Kopfball-Ungeheuer. "Meine Spieler haben den kleinen Kerl doch gar nicht ernst genommen", sagte Bayern-Trainer Udo Lattek später. Das Stadion toste nach dem 3:3, die ersten bekamen eine Ahnung davon, dass das Drama vom Bökelberg keine Ausnahme bleiben würde.

Die Schalker Spieler vergaßen jedenfalls den Klassenunterschied und bekamen Flügel. Thon berichtete: "Ich war mir sicher: die haben richtig Schiss." Der biedere Verteidiger Peter Stichler gab den Bayern allen Grund dazu, als er nach 72 Minuten Schalke erstmals in Führung köpfte – 4:3. Nun zog Lattek seinen Joker, brachte den langen Dieter Hoeneß, dessen Bruder Uli als Manager unruhig auf der Bank herumrutschte. Michael Rummenigge verhinderte das Schlimmste mit einem weiteren Kopfballtor (80.) und so ging auch das zweite Halbfinale nach einem 4:4-Zwischenstand in die Verlängerung.

Die Abnutzungsschlacht bei Dauerregen nahm sich eine kleine Auszeit, bis ausgerechnet der frühere Bayern-Torwart Walter Junghans das Spiel wiederbelebte. In der 112. Minute ließ er einen schon gesicherten Ball auf der Torauslinie wieder los und Hoeneß stolperte ihn zum 4:5 ins Netz. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier verkündete seinem Publikum die Vorentscheidung, Schalkes Spieler kümmerten sich nicht drum. "Der Walter Junghans hat uns so leid getan. Wir haben uns gesagt: Er ist so ein netter Kerl und hat es einfach nicht verdient, als Verlierer vom Platz zu gehen", nannte Thon 2009 in einem Jubiläums-Beitrag des WDR zu diesem Spiel ein Motiv für die Aufholjagd.

Der Kapitän ging mit gutem Beispiel voran. Bernard Dietz kam nach einer Ecke frei zum Schuss und überwand Jean-Marie Pfaff ein fünftes Mal – das war fünf Minuten vor Ende, aber keineswegs vor Torschluss.

In der 117. Minute enteilte Dieter Hoeneß den Verteidigern und überwand Junghans erneut – 5:6. Wie am Vortag Gladbachs Criens stach auch dieser Joker doppelt. "Ist das die Entscheidung? Ja!", legte sich Figgemeier nun fest. Aber es gab ja noch den kleinen Mann mit der großen Zukunft und der Nummer zehn auf dem Rücken. Schiedsrichter Wiesel ließ drei Minuten nachspielen und munterte Olaf Thon sogar auf: "Komm', den einen Angriff noch." Daraus entstand ein Freistoß von Dierßen, Klaus Augenthaler köpfte nicht weit genug weg und der Ball fand seinen Weg zum Liebling des Schicksals. Zu Olaf Thon, dem die Sensationen magisch anziehende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien im Interview entlockte, dass er eigentlich in Bayern-Bettwäsche schlafe. Diesmal schoss Thon mit links, volley in den Winkel. 6:6!

Ein solches Ergebnis gab es nie zuvor und niemals wieder im DFB-Pokal, ein solches Erlebnis schon gar nicht. Dann war Schluss.

Drei Menschen erlitten im Stadion einen Herzinfarkt, ein 60-Jähriger starb.

Olaf Thon wurde von den Fans noch 45 Minuten lang auf Schultern durch die Arena getragen und sagte noch oft: "Es war das schönste Spiel in meiner Karriere. Ich sage immer scherzhaft: Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich aufhören müssen."

Er spielte dann doch noch ein paar Jährchen, vier davon in München. Udo Lattek hätte ihn am liebsten gleich mitgenommen, doch Schalkes Schatzmeister verlangte im Scherz zwölf Millionen Mark.

Ganz ernst gemeint waren dagegen die Worte von Fritz Walter, dem Helden von Bern. "Ich habe schon viel erlebt, aber das war in den letzten 20 Jahren das absolut Größte. Die Spiele in Gladbach und Schalke waren Sternstunden des Fußballs."

Zugabe: 9. Mai 1984 Bayern München – Schalke 04 3:2

Wie ging es weiter? Die Regeln sahen ein Wiederholungsspiel vor. 40.000 Zuschauer zogen in München das Live-Erlebnis dem Fernsehsessel vor. Die Bayern starteten gut, es sah nun nach einer klaren Sache aus, führten sie doch zur Halbzeit mit 2:0. Karl-Heinz Rummenigge (32.) und Dieter Hoeneß (44.) überwanden Walter Junghans im Schalker Tor. Doch der Zweitligist bewies erneut seine Unbeugsamkeit, glich durch Michael Jakobs (50.) und Michael Opitz (72.) aus und Wunderknabe Olaf Thon, dreifacher Torschütze im Hinspiel, bot sich gar die Chance zum 2:3, doch Jean-Marie Pfaff parierte glänzend. Dann flankte Joker Kalle Del’Haye auf  Karl-Heinz Rummenigge, der mit seinem zweiten Tor des Abends per Flugkopfball (79.) den Bayern das Finale sicherte. Udo Lattek war es "ein Anliegen, dieser Schalker Mannschaft zu gratulieren." Der Vorstand zahlte den 04-Spielern pro Kopf 10.000 DM, so als hätten sie gewonnen. Das Finale gewannen die Bayern dann auch nicht ohne Drama, gegen Mönchengladbach gab es ein 8:7 – nach Elfmeterschießen.

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