1974: Magdeburg erster und einziger DDR-Europacupsieger

Natürlich werden sie den größten Tag ihre Vereinsgeschichte auch in diesen Zeiten würdigen. Auf seiner Homepage bietet der Drittligist 1. FC Magdeburg heute einen "Retro-Live-Ticker" über ein Ereignis an, das auf den Tag genau 46 Jahre zurückliegt. Am 8. Mai 1974 gewann der 1. FCM in Rotterdam den Europapokal der Pokalsieger, per Livestream ist die Partie gegen den AC Mailand zudem auf der Seite des MDR zu verfolgen. Das Schöne an Sternstunden ist ja, dass sie ewig glänzen. Wie war das damals?

Der Weg nach Rotterdam führte über Breda, Ostrau, Stara Zagora und Lissabon. Nicht Benfica, sondern Sporting. Allein daran merkt man schon, wie lange es her sein muss, als der 1. FC Magdeburg Europas Fußballwelt aufmischte. Am 8. Mai 1974, vor 46 Jahren, gewann zum ersten und einzigen Mal ein DDR-Klub einen internationalen Titel. Im Finale des Europapokals der Pokalsieger wartete nicht irgendwer auf den 1. FC Magdeburg, es wartete der große AC Mailand, der im Halbfinale noch die Gladbacher Borussen eliminiert hatte.

Duell zwischen David und Goliath

Für den kicker war es schlicht ein Duell zwischen David und Goliath. "Hier der mehrfache Europapokal-sieger und Weltcupgewinner, dort eine Mannschaft, die im internationalen Fußball ein unbeschriebenes Blatt ist. Hier eine Elf, die mit glanzvollen Namen wie Rivera, Schnellinger oder Chiarugi bestückt ist, dort ein Gegner, der nichts dergleichen aufzuweisen hat." Nichts dergleichen – wie freundlich. Aber doch nicht ganz falsch, die notorische Abwesenheit des DDR-Fußballs von großen Turnieren und Endspielen führte nicht geradezu dazu, dass die Fachwelt von ihren besten Spielern schwärmte. Wenn man sie denn überhaupt kannte. Sie lebten noch in einer anderen Welt, im Sozialismus, der offiziell keine Profis kannte.

Die Spieler arbeiteten fast alle beim "Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann" und fuhren mit dem Fahrrad zum abendlichen Training, auf den bestellten Trabi warteten auch Nationalspieler Jahre. Einer hieß Klaus Decker und weil der gesperrt war, sprang in Rotterdam ein Spieler aus der Bezirksliga-Reserve ein. Der David-gegen-Goliath-Vergleich hatte gewiss seine Berechtigung. FCM-Trainer Heinz Krügel, der DDR-Führung als "Ost-West-Versöhnler" negativ aufgefallen, las seinen Spielern den Artikel aus dem verbotenen West-Organ vor und weckte nur noch ihren Ehrgeiz, für ein Fußball-Wunder zu sorgen. Krügel: "Der Artikel war der beste Ansporn für meine Jungs." Der FCM Anfang der Siebziger mag trotz zwei Meisterschaften (1972, 1974) ein unbeschriebenes Blatt gewesen sein, aber das war vor allem den politischen Rahmenbedingungen jener Epoche geschuldet. Was da hinter Mauer und Stacheldraht-Zäunen vorging, blieb der westlichen Welt weitgehend verborgen.

Als Milan-Trainer Giovanni Trapattoni sich am 1. Mai 1974 erstmals über den Finalgegner, mit dem keiner rechnete, informieren wollte, wurde er schlicht reingelegt. Fünf Magdeburger sollten an diesem Tag eigentlich im Junioren-EM-Spiel DDR gegen Polen auflaufen, doch urplötzlich wurde auf sie verzichtet. Zufälle gibt es.

Seltsames Finale vor Minuskulisse

Wundertüte Magdeburg gegen den damals kriselnden Weltklub Milan – es war ein seltsames Finale. Das dachten sich auch die Rotterdamer, sie blieben zuhause. Nur 5000 Zuschauer verloren sich im weiten Rund "de Kuip", es war ein absoluter Minusrekord für Finales in der Europapokal-Historie. Den DDR-Pokalsieger durften nur 350 ausgesuchte Anhänger begleiten, darunter die Besatzungen von fünf Handelsschiffen, die zufällig in Rotterdam lagen und nicht alle wirkliche Fußballexperten waren. "Da waren auch Leute dabei, die erst mal gefragt haben: wer ist denn hier der 1. FC Magdeburg?", erinnerte sich Heinz Krügel, der 2008 verstarb.

In dieser eigentümlichen Atmosphäre also stieg das größte Spiel in der Historie des 1. FC Magdeburg, in dessen Reihen sieben Spieler standen, die es ins vorläufige WM-Aufgebot geschafft hatten. Im Frühjahr 1974 gab es zarte Anzeichen, dass auch der andere deutsche Staat, der in fast allen anderen Sportarten längst konkurrenzfähig war, zur Fußballmacht werden könnte. Dass dazu ein unter dem Strich "eine über weite Strecken mäßige Partie" (kicker) wesentlich beitrug, tat der Freude keinen Abbruch.

"Helden in Bademänteln"

Ein Eigentor des Italieners Lanzi zwei Minuten vor der Pause, der eine Flanke von Raugust ins eigene Netz lenkte, sorgte für den ersten Höhepunkt. Milan musste nun sein Defensivkonzept aufgeben, beim spielerisch starken FCM-Mittelfeld um Jürgen Pommerenke und Wolfgang Seguin rollte der Ball. Die überalterten Italiener um den damals 31 Jahre alten Gianni Rivera und den Deutschen Libero Karl-Heinz Schnellinger (35) hatten kräftemäßig nicht mehr viel zuzusetzen, während die im Schnitt 22,3 Jahre jungen Magdeburger locker noch eine Verlängerung hätten verkraften können. Mussten sie aber nicht: mit dem 2:0 von Seguin (73.) aus spitzem Winkel war das Spiel entschieden. Es war der Endstand.

Als der niederländische Schiedsrichter van Gemert um 22.15 Uhr abpfiff, brannten endlich auch die Italiener ein Feuerwerk ab. Aus purem Frust verbrannte die kleine Hundertschaft von Milan-Fans ihre rot-schwarzen Fahnen. Dagegen drehten die Magdeburger in unverwechselbarem und schon damals kurios anmutendem Outfit samt Pokal eine Ehrenrunde. Sie trugen gegen die Kälte weiße Bademäntel, eine Aufmerksamkeit von Feyenoord Rotterdam, wo das nach kühlen Abendspielen üblich war. So wurden sie im Westen zu den "Helden in Bademänteln", in der Heimat wurden sie schlicht geliebt. Es waren ja ausnahmslos Jungs aus der Region, was angesichts der gängigen Praxis in der DDR, hochveranlagte Spieler einfach von A nach B zu delegieren bemerkenswert ist. Doch der 1. FC Magdeburg bestand quasi nur aus Magde-burgern.

Sektfeier und ein Telegramm von Honecker

Der Alte Markt war am 9. Mai 1974 schwarz vor Menschen, als die Champions nach einer Feiernacht, in dem der unvermeidliche Rotkäppchen-Sekt nicht fehlen durfte, zum Empfang im Rathaus-Keller eintrafen. Da lag das Glückwunschtelegramm von Erich Honecker schon vor. Der Staatsratsvorsitzende kam mit wenigen Worten aus: "Liebe Sportfreunde! Ich beglückwünsche Sie sehr herzlich zu dieser hervorragenden Leistung und wünsche Ihnen auch weiterhin viel Erfolg!"

Der Wunsch bezog sich gewiss auch auf die Fußball-WM einen Monat später, wo beide deutsche Mannschaften in einer Gruppe spielten. Der kicker hatte schon so eine Ahnung und baute sie in seinen Spielbericht aus Rotterdam ein: "Und wer es bisher noch nicht glauben wollte, dem wird es jetzt endgültig klar sein: das WM-Spiel am 22. Juni gegen die DDR wird für unsere Nationalelf alles andere als ein Spaziergang." In der Tat. Das einzige Tor an jenem denkwürdigen Tag erzielte ein Mann aus Magdeburg: Jürgen Sparwasser.

Die Siegermannschaft: Schulze – Enge, Zapf, Gaube, Abraham – Pommerenke, Seguin, Tyll – Raugust, Sparwasser, Hoffmann.

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Natürlich werden sie den größten Tag ihre Vereinsgeschichte auch in diesen Zeiten würdigen. Auf seiner Homepage bietet der Drittligist 1. FC Magdeburg heute einen "Retro-Live-Ticker" über ein Ereignis an, das auf den Tag genau 46 Jahre zurückliegt. Am 8. Mai 1974 gewann der 1. FCM in Rotterdam den Europapokal der Pokalsieger, per Livestream ist die Partie gegen den AC Mailand zudem auf der Seite des MDR zu verfolgen. Das Schöne an Sternstunden ist ja, dass sie ewig glänzen. Wie war das damals?

Der Weg nach Rotterdam führte über Breda, Ostrau, Stara Zagora und Lissabon. Nicht Benfica, sondern Sporting. Allein daran merkt man schon, wie lange es her sein muss, als der 1. FC Magdeburg Europas Fußballwelt aufmischte. Am 8. Mai 1974, vor 46 Jahren, gewann zum ersten und einzigen Mal ein DDR-Klub einen internationalen Titel. Im Finale des Europapokals der Pokalsieger wartete nicht irgendwer auf den 1. FC Magdeburg, es wartete der große AC Mailand, der im Halbfinale noch die Gladbacher Borussen eliminiert hatte.

Duell zwischen David und Goliath

Für den kicker war es schlicht ein Duell zwischen David und Goliath. "Hier der mehrfache Europapokal-sieger und Weltcupgewinner, dort eine Mannschaft, die im internationalen Fußball ein unbeschriebenes Blatt ist. Hier eine Elf, die mit glanzvollen Namen wie Rivera, Schnellinger oder Chiarugi bestückt ist, dort ein Gegner, der nichts dergleichen aufzuweisen hat." Nichts dergleichen – wie freundlich. Aber doch nicht ganz falsch, die notorische Abwesenheit des DDR-Fußballs von großen Turnieren und Endspielen führte nicht geradezu dazu, dass die Fachwelt von ihren besten Spielern schwärmte. Wenn man sie denn überhaupt kannte. Sie lebten noch in einer anderen Welt, im Sozialismus, der offiziell keine Profis kannte.

Die Spieler arbeiteten fast alle beim "Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann" und fuhren mit dem Fahrrad zum abendlichen Training, auf den bestellten Trabi warteten auch Nationalspieler Jahre. Einer hieß Klaus Decker und weil der gesperrt war, sprang in Rotterdam ein Spieler aus der Bezirksliga-Reserve ein. Der David-gegen-Goliath-Vergleich hatte gewiss seine Berechtigung. FCM-Trainer Heinz Krügel, der DDR-Führung als "Ost-West-Versöhnler" negativ aufgefallen, las seinen Spielern den Artikel aus dem verbotenen West-Organ vor und weckte nur noch ihren Ehrgeiz, für ein Fußball-Wunder zu sorgen. Krügel: "Der Artikel war der beste Ansporn für meine Jungs." Der FCM Anfang der Siebziger mag trotz zwei Meisterschaften (1972, 1974) ein unbeschriebenes Blatt gewesen sein, aber das war vor allem den politischen Rahmenbedingungen jener Epoche geschuldet. Was da hinter Mauer und Stacheldraht-Zäunen vorging, blieb der westlichen Welt weitgehend verborgen.

Als Milan-Trainer Giovanni Trapattoni sich am 1. Mai 1974 erstmals über den Finalgegner, mit dem keiner rechnete, informieren wollte, wurde er schlicht reingelegt. Fünf Magdeburger sollten an diesem Tag eigentlich im Junioren-EM-Spiel DDR gegen Polen auflaufen, doch urplötzlich wurde auf sie verzichtet. Zufälle gibt es.

Seltsames Finale vor Minuskulisse

Wundertüte Magdeburg gegen den damals kriselnden Weltklub Milan – es war ein seltsames Finale. Das dachten sich auch die Rotterdamer, sie blieben zuhause. Nur 5000 Zuschauer verloren sich im weiten Rund "de Kuip", es war ein absoluter Minusrekord für Finales in der Europapokal-Historie. Den DDR-Pokalsieger durften nur 350 ausgesuchte Anhänger begleiten, darunter die Besatzungen von fünf Handelsschiffen, die zufällig in Rotterdam lagen und nicht alle wirkliche Fußballexperten waren. "Da waren auch Leute dabei, die erst mal gefragt haben: wer ist denn hier der 1. FC Magdeburg?", erinnerte sich Heinz Krügel, der 2008 verstarb.

In dieser eigentümlichen Atmosphäre also stieg das größte Spiel in der Historie des 1. FC Magdeburg, in dessen Reihen sieben Spieler standen, die es ins vorläufige WM-Aufgebot geschafft hatten. Im Frühjahr 1974 gab es zarte Anzeichen, dass auch der andere deutsche Staat, der in fast allen anderen Sportarten längst konkurrenzfähig war, zur Fußballmacht werden könnte. Dass dazu ein unter dem Strich "eine über weite Strecken mäßige Partie" (kicker) wesentlich beitrug, tat der Freude keinen Abbruch.

"Helden in Bademänteln"

Ein Eigentor des Italieners Lanzi zwei Minuten vor der Pause, der eine Flanke von Raugust ins eigene Netz lenkte, sorgte für den ersten Höhepunkt. Milan musste nun sein Defensivkonzept aufgeben, beim spielerisch starken FCM-Mittelfeld um Jürgen Pommerenke und Wolfgang Seguin rollte der Ball. Die überalterten Italiener um den damals 31 Jahre alten Gianni Rivera und den Deutschen Libero Karl-Heinz Schnellinger (35) hatten kräftemäßig nicht mehr viel zuzusetzen, während die im Schnitt 22,3 Jahre jungen Magdeburger locker noch eine Verlängerung hätten verkraften können. Mussten sie aber nicht: mit dem 2:0 von Seguin (73.) aus spitzem Winkel war das Spiel entschieden. Es war der Endstand.

Als der niederländische Schiedsrichter van Gemert um 22.15 Uhr abpfiff, brannten endlich auch die Italiener ein Feuerwerk ab. Aus purem Frust verbrannte die kleine Hundertschaft von Milan-Fans ihre rot-schwarzen Fahnen. Dagegen drehten die Magdeburger in unverwechselbarem und schon damals kurios anmutendem Outfit samt Pokal eine Ehrenrunde. Sie trugen gegen die Kälte weiße Bademäntel, eine Aufmerksamkeit von Feyenoord Rotterdam, wo das nach kühlen Abendspielen üblich war. So wurden sie im Westen zu den "Helden in Bademänteln", in der Heimat wurden sie schlicht geliebt. Es waren ja ausnahmslos Jungs aus der Region, was angesichts der gängigen Praxis in der DDR, hochveranlagte Spieler einfach von A nach B zu delegieren bemerkenswert ist. Doch der 1. FC Magdeburg bestand quasi nur aus Magde-burgern.

Sektfeier und ein Telegramm von Honecker

Der Alte Markt war am 9. Mai 1974 schwarz vor Menschen, als die Champions nach einer Feiernacht, in dem der unvermeidliche Rotkäppchen-Sekt nicht fehlen durfte, zum Empfang im Rathaus-Keller eintrafen. Da lag das Glückwunschtelegramm von Erich Honecker schon vor. Der Staatsratsvorsitzende kam mit wenigen Worten aus: "Liebe Sportfreunde! Ich beglückwünsche Sie sehr herzlich zu dieser hervorragenden Leistung und wünsche Ihnen auch weiterhin viel Erfolg!"

Der Wunsch bezog sich gewiss auch auf die Fußball-WM einen Monat später, wo beide deutsche Mannschaften in einer Gruppe spielten. Der kicker hatte schon so eine Ahnung und baute sie in seinen Spielbericht aus Rotterdam ein: "Und wer es bisher noch nicht glauben wollte, dem wird es jetzt endgültig klar sein: das WM-Spiel am 22. Juni gegen die DDR wird für unsere Nationalelf alles andere als ein Spaziergang." In der Tat. Das einzige Tor an jenem denkwürdigen Tag erzielte ein Mann aus Magdeburg: Jürgen Sparwasser.

Die Siegermannschaft: Schulze – Enge, Zapf, Gaube, Abraham – Pommerenke, Seguin, Tyll – Raugust, Sparwasser, Hoffmann.

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