1974: Holpriger Auftakt in Heim-WM

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

14. Juni in Berlin - erstes Gruppenspiel: Deutschland - Chile 1:0

Vor dem Spiel:

Am 29. Mai bezog der Kader des Gastgebers die Sportschule Malente. Zwei Jahre zuvor war Deutschland auf glanzvolle Weise erstmals Europameister geworden, zwei Wochen zuvor Bayern München erstmals Europapokalsieger der Landesmeister. Kein Wunder, dass die deutsche Mannschaft, in der sieben Bayern-Spieler standen, der große Favorit auf den WM-Titel war. Bei einer Umfrage erwarteten alle 18 Bundesligatrainer Deutschland im Finale. Was der Titel wert sei, darüber wurde heftig debattiert in Malente. Das vorgelegte Angebot des DFB (30.000 DM pro Spieler) lehnte die Mannschaft zunächst ab, weshalb Helmut Schön schon anfing, die Koffer zu packen. Rechtzeitig vor dem Start fand man, nach 15-stündigen Verhandlungen, in den frühen Morgenstunden des 5. Juni einen Kompromiss (70.000 DM und einen VW-Käfer pro Kopf).

Nach dem beigelegten Streit konnte sich der Gastgeber endlich aufs Sportliche konzentrieren. Der Bundestrainer entschied sich in der seine Amtszeit prägenden Spielmacherfrage für Overath – und gegen den nicht austrainiert wirkenden Madrid-Legionär Netzer. Überraschend schaffte es auch Overaths Kölner Klubkamerad Cullmann in die erste Elf (Mittelfeld), die Experten rechneten eher mit Wimmer oder Flohe. Nachdem der Schalker Erwin Kremers kurz vor der WM einen Platzverweis erhielt, suchte Schön einen neuen Linksaußen. Das Rennen machte Gladbachs Jupp Heynckes, einer von acht Spielern aus der Europameister-Elf von Brüssel, wo er noch auf rechts gestürmt hatte. Sechs Europameister spielten für den FC Bayern und bildeten das Gerüst der Elf.

Gegen Chile hatte es erst vier Partien gegeben, bei ausgeglichener Bilanz (2:2). Die Erinnerung an das bis dahin einzige WM-Spiel 1962 (2:0) war indes eine angenehme für Helmut Schön, damals noch Co-Trainer.

Die Chilenen provozierten in jenen Tagen Proteste der freien Welt, seit sich in ihrer Heimat das Militär an die Macht geputscht hatte (1973). Spätestens nach dem Bombenanschlag auf das chilenische Konsulat in West-Berlin zwei Tage zuvor war jeder ihrer WM-Auftritte für die Polizei ein Hochsicherheitsspiel. Die Mannschaft trainierte hinter Stacheldraht und wurde von 250 Polizisten bewacht. Chiles Trainer machte sich in sportlicher Hinsicht keine Illusionen. Luis Alamos hatte angekündigt: "Wir werden gegen Deutschland mauern, das ist unsere einzige Chance, gewinnen können wir sowieso nicht." Und Rudi Gutendorf, Trainer-Weltenbummler, warnte: "Die Chilenen sind die Preußen Südamerikas."



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

14. Juni in Berlin - erstes Gruppenspiel: Deutschland - Chile 1:0

Vor dem Spiel:

Am 29. Mai bezog der Kader des Gastgebers die Sportschule Malente. Zwei Jahre zuvor war Deutschland auf glanzvolle Weise erstmals Europameister geworden, zwei Wochen zuvor Bayern München erstmals Europapokalsieger der Landesmeister. Kein Wunder, dass die deutsche Mannschaft, in der sieben Bayern-Spieler standen, der große Favorit auf den WM-Titel war. Bei einer Umfrage erwarteten alle 18 Bundesligatrainer Deutschland im Finale. Was der Titel wert sei, darüber wurde heftig debattiert in Malente. Das vorgelegte Angebot des DFB (30.000 DM pro Spieler) lehnte die Mannschaft zunächst ab, weshalb Helmut Schön schon anfing, die Koffer zu packen. Rechtzeitig vor dem Start fand man, nach 15-stündigen Verhandlungen, in den frühen Morgenstunden des 5. Juni einen Kompromiss (70.000 DM und einen VW-Käfer pro Kopf).

Nach dem beigelegten Streit konnte sich der Gastgeber endlich aufs Sportliche konzentrieren. Der Bundestrainer entschied sich in der seine Amtszeit prägenden Spielmacherfrage für Overath – und gegen den nicht austrainiert wirkenden Madrid-Legionär Netzer. Überraschend schaffte es auch Overaths Kölner Klubkamerad Cullmann in die erste Elf (Mittelfeld), die Experten rechneten eher mit Wimmer oder Flohe. Nachdem der Schalker Erwin Kremers kurz vor der WM einen Platzverweis erhielt, suchte Schön einen neuen Linksaußen. Das Rennen machte Gladbachs Jupp Heynckes, einer von acht Spielern aus der Europameister-Elf von Brüssel, wo er noch auf rechts gestürmt hatte. Sechs Europameister spielten für den FC Bayern und bildeten das Gerüst der Elf.

Gegen Chile hatte es erst vier Partien gegeben, bei ausgeglichener Bilanz (2:2). Die Erinnerung an das bis dahin einzige WM-Spiel 1962 (2:0) war indes eine angenehme für Helmut Schön, damals noch Co-Trainer.

Die Chilenen provozierten in jenen Tagen Proteste der freien Welt, seit sich in ihrer Heimat das Militär an die Macht geputscht hatte (1973). Spätestens nach dem Bombenanschlag auf das chilenische Konsulat in West-Berlin zwei Tage zuvor war jeder ihrer WM-Auftritte für die Polizei ein Hochsicherheitsspiel. Die Mannschaft trainierte hinter Stacheldraht und wurde von 250 Polizisten bewacht. Chiles Trainer machte sich in sportlicher Hinsicht keine Illusionen. Luis Alamos hatte angekündigt: "Wir werden gegen Deutschland mauern, das ist unsere einzige Chance, gewinnen können wir sowieso nicht." Und Rudi Gutendorf, Trainer-Weltenbummler, warnte: "Die Chilenen sind die Preußen Südamerikas."

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DFB-Team trotz Sieg kritisch

Spielbericht:

Dieser Freitag ist einer der wenigen echten Sommertage während der WM. Die aus dem kühlen Malente angereisten Deutschen müssen sich in Berlin regelrecht akklimatisieren. Paul Breitner berichtet in seinem WM-Buch, das er zusammen mit Uli Hoeneß und seinem damaligen Vereinstrainer Udo Lattek in einer Auflage von 200.000 Stück herausbringt: "Im Berliner Olympiastadion stand am 14. Juni die Luft, es war drückend schwül. Franz Beckenbauer klagte über Atembeschwerden, Uli Hoeneß, der ohnehin gegen Klimawechsel stehts anfällig ist, schleppte sich vor dem Spiel herum…andere hatten Kopfschmerzen. Wegen der strengen Dopingvorschriften mußten jedoch die wirksamen Mittel im Schrank bleiben. Ein Glück, daß wir zur Akklimatisierung bereits zwei Tage vorher nach Berlin gereist waren."

Das ZDF überträgt das erste deutsche Spiel, am Mikrofon ist Werner Schneider. Bei der Verlesung der Aufstellung gibt es bei einem Namen Pfiffe: Wolfgang Overath, der Mann, der dem allseits beliebten Netzer den Platz weggenommen hat, obwohl er nicht in Bestform ist.

Aktivisten eines "Chile-Komitees" ziehen derweil ihr eigenes Programm durch, skandieren "Chile si, junta no". Auf Spruchbändern steht "Tod den Faschisten" und "Freiheit für Chile". Der Stadionsprecher fordert das restliche Publikum auf, sie zu ignorieren.

Um 16 Uhr rollt endlich der Ball. Kein großes Interesse am Spiel scheint indes auch die chilenische Elf zu haben. Sie macht die Ankündigung ihres Trainers wahr und mauert sich ein. Mit einem damals noch unüblichen 4-4-2-System signalisiert Alamos: safety first! Um Gerd Müller kümmern sich im Wechsel beide Innenverteidiger, die Flügel Heynckes und Grabowski bekommen die Härte ihrer Widersacher von Beginn an zu spüren. Gegen den chilenischen Beton versuchen es die Deutschen deshalb zuvorderst mit Weitschüssen, der 1,77 m kleine Torwart Vallejos ist als Schwachpunkt ausgemacht. Schon nach 18 Minuten erweist sich die Methode als goldrichtig. Über Heynckes und den weit aufgerückten Beckenbauer, der bei seiner dritten WM erstmals Libero spielt, kommt der Ball zu Offensivverteidiger Paul Breitner. Der nimmt ihn an und schießt ansatzlos aus 25 Metern mit rechts in den linken Winkel. Vallejos ist noch dran, aber doch machtlos – 1:0!

Breitner über die folgende Gratulationstour: "Einer küßte mich gleich dreimal, ein anderer zog mich schrecklich lang an meinen Haaren." Dann fällt ihm ein, dass er nun eine Wette gegen einen Freund verloren hat, der ihm das Tor prophezeit hat. So froh die Deutschen über das erste Turniertor sind, man hat schon glücklichere Schützen gesehen.

Zum Leidwesen der Zuschauer ist das Tor kein "Dosenöffner", die Chilenen bleiben hinter ihrem Schutzwall, die Deutschen tun sich weiter schwer. Bernd Cullmann setzt einen Kopfball neben das Tor, Gerd Müller wird zweimal in bester Position von Figueroa gestoppt. Mit fairen Mitteln, im Gegensatz zu seinem Kollegen Caszely, der sich nach einem brutalen Foul gegen Jupp Heynckes Gelb einhandelt. Mit 1:0 geht es in die Halbzeit.

Nach 50 Minuten muss Vogts plötzlich in höchster Not vor dem einschussbereiten Caszely retten. Dann nimmt sich der chilenische Hitzkopf selbst aus dem Spiel, als er sich bei Vogts für eine harte Attacke im Mittelfeld revanchiert. Der Ball ist schon weg, da haut Caszely den kleinen Mönchengladbacher im Mittelfeld von den Beinen und handelt sich die erste Rote Karte der WM-Historie ein. 1970 war die Farbenlehre eingeführt worden, doch hatte es nur Gelb gegeben.

Auch dieser Vorteil macht das deutsche Spiel nicht besser. Overath humpelt verletzt vom Platz, Hölzenbein gibt sein WM-Debüt.

Der Schlusspfiff des türkischen Schiedsrichters Babacan löst ein Vielfaches von Pfiffen auf den Rängen aus. Franz Beckenbauer schreibt in sein WM-Tagebuch, das nach dem Turnier zu lesen sein wird: "Selten ist unsere Mannschaft nach einem Sieg so nachdenklich und selbstkritisch gewesen." Ein Faktor sei das Lampenfieber gewesen: "Ich musste in der ersten halben Stunde mehr reden und beruhigend auf meine Nebenspieler einwirken, als Fußball spielen. Das Premierenfieber und die Last des Favoriten machten einigen schwer zu schaffen."

Aufstellung: Maier – Vogts, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner – Hoeneß, Overath (76. Hölzenbein), Cullmann – Grabowski, Müller, Heynckes.

Tore: 1:0 Breitner (16.).

Platzverweis: Caszely (67.).

Zuschauer: 83.168

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Schön: "Es war ein Arbeitssieg"

Stimmen zum Spiel:

Helmut Schön: "Ich hatte mir die Sache schwer, aber nicht so schwer vorgestellt. Dass es keinen Schönheitspreis geben würde, war klar. Mehr als ein 1:0 oder 2:0 habe ich nie prophezeit. Es war ein Arbeitssieg, aber wir haben die ersten Punkte gewonnen. Das allein zählt."

Franz Beckenbauer: "Alle elf Spieler haben nicht ihre gewohnte Leistung gebracht. Darin sehe ich die Hauptursache für das unbefriedigende Spiel."

Paul Breitner: "Wir haben einfach kein Mittel gefunden, die dichte Abwehr der Chilenen aufzureißen. In der gegnerischen Hälfte wurde zu langsam gespielt. Natürlich sind alle Südamerikaner undankbare Gegner. Mit ihrem übertriebenen Sicherheitsfußball zerstören sie jeden Spielfluß."

Leopoldo Vallejos (Chile): "Ich sah den Ball etwas spät. Er kam unglaublich schnell und scharf. Es fehlten nur Millimeter."

"Das gellende Pfeifkonzert, das die Mehrzahl der 83.168 zahlenden Zuschauer nach dem matten 1:0 über Chiles Defensivfüchse im Olympiastadion anstimmte, drückte die Enttäuschung deutlich aus… Vielleicht war der nicht einmal auf der Reservebank sitzende Günter Netzer der große Sieger des gestrigen Spiels." (Berliner Tagesspiegel)

"Gedämpfte Freude, mehr löste das 1:0 gegen Chile nicht aus. Vieles erinnerte an das mühsame 2:1 über Marokko vier Jahre zuvor in Leon. Gehemmt, als schleppten sie eine Zentnerlast auf den Schultern, wirkten viele unserer Spieler." (kicker)

"Chile war sich seiner begrenzten Möglichkeiten bewusst und behielt die Nerven. Keiner stürmte, um den Ausgleich zu erzielen, alle konzentrierten sich weiter auf die Verteidigung. Es war besser, die Dinge so zu belassen, auch wenn es mit einer Niederlage endete." (Estadio/Santiago de Chile)

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