1972: Der erste Sieg in Wembley

Heute vor 48 Jahren erlebte der deutsche Fußball einen historischen Moment. Erstmals siegte die Nationalmannschaft in England, das seine Heimspiele gewöhnlich im Londoner Wembley-Stadion austrug. Das 3:1 im Viertelfinalhinspiel der Europameisterschaft erhoben Experten zum besten Länderspiel der DFB-Historie. Für DFB.de blickt der Historiker Udo Muras zurück.

Vorspiel: Als am 12. Januar 1972 in Zürich die Viertelfinalspiele ausgelost wurden und Deutschland auf England traf, war der Aufschrei groß: "Schlimmer ging’s nicht, England!“, titelte der Kicker entsetzt. Denn im Mutterland des Fußballs hatte die Nationalmannschaft noch nicht gewonnen. Überhaupt hatten die Engländer in ihrer Historie erst vier Heimspiele verloren, alles eher unbedeutende Testspiele. Das mythische Londoner Wembley-Stadion, in dem sie 1966 Weltmeister wurden, galt bis in jene Tage als schier uneinnehmbar.

Es war also das Los, das keiner wollte. Dass die Deutschen vor einem sehr bedeutenden Spiel standen, musste man niemandem erklären; allein schon wegen der Rivalität, die durch die beiden zurückliegenden WM-Endrunden entstanden war. Revanche wollten beide – Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970. Doch im DFB-Lager wuchs der Pessimismus in den Monaten nach der Auslosung bis zum Anpfiff am 29. April 1972 geradezu täglich. Personal- und Formprobleme bei den "Blockmächten“ aus München und Mönchengladbach drückten die Stimmung. Der Kicker titelte über seinen Vorschaubericht beinahe flehentlich: "Lasst die Angst zu Hause!" 

Mit Sorgen gen England

Bezeichnend ist der von ihm selbst oft bestätigte Satz von Regisseur Günter Netzer, der in der Kabine zu Franz Beckenbauer sagte: "Du, wenn wir heute keine fünf Tore kriegen, haben wir ein gutes Resultat erzielt.“ Beckenbauers lapidarer Konter auf gut Bayerisch: "Ja mei!“ Nach 13 Spielen binnen 36 Tagen gingen die Münchner auf dem Zahnfleisch, Torjäger Gerd Müller sprach von "verbrauchten Kraftreserven" und die Zahlen sprachen Bände: angesichts deftiger Packungen (1:5 im Pokal in Köln, 0:3 in Duisburg, 0:2 in Glasgow) war die Stimmung der dominanten Bayern-Fraktion, sie stellten sechs Spieler, am Boden. Zu allem Übel hatte sich Torwart Sepp Maier beim Europacup-Aus in Glasgow verletzt. Er wachte am Spieltag mit dickem Ellenbogen auf und musste in Wembley mit Schaumverband auflaufen, was die Ärzte geheim hielten. Nur Ersatzkeeper Wolfgang Kleff bekam einen Tipp, er möge sich bereithalten. Helmut Schön sagten die Betreuer nichts, der Bundestrainer hatte Sorgen genug und schon wieder mal seine Magenschmerzen.

Denn auf der Ausfall-Liste standen die verletzten Stammkräfte Berti Vogts, Wolfgang Overath und Wolfgang Weber sowie die Schalker Skandal-Sünder Klaus Fichtel und "Stan" Libuda. Auch die Braunschweiger Ergänzungs-spieler Max Lorenz und Lothar Ulsaß sowie Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger mussten passen und so nahm Bundestrainer Helmut Schön zwei gänzlich unerfahrene Spieler mit nach London: Gladbachs Rainer Bonhof und Duisburgs Michael Bella "drohte" ausgerechnet in Wembley ihr Länderspiel-Debüt. So weit kam es zwar nicht, aber Risiko ging Schön dennoch: er setzte auf die Jugend aus dem Stall des FC Bayern. Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Hoeneß bestritt erst sein zweites Länderspiel, Breitner sein viertes, Stopper Schwarzenbeck gab zum neunten Mal den "Putzer des Kaisers".

Quintett an Weltmeistern

Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister von 1966: Gordon Banks, Bobby Moore, Alan Ball, Martin Peters und der gefürchtete Geoff Hurst, der gegen Horst-Dieter Höttges im Finale drei Tore erzielt hatte. Höttges war auch wieder dabei, er und Linksaußen Siggi Held von Regionalligist Kickers Offenbach schraubten den Altersschnitt noch etwas in die Höhe. Dennoch waren die Deutschen (25 Jahre im Schnitt) fast vier Jahre jünger. Da passte das Trikot ganz gut zu ihrer jugendlichen Frische: die Deutschen trugen Grün an diesem regnerischen April-Samstag, was anschließend als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machten sie eines ihrer besten Länderspiele überhaupt.

Das Spiel: Es bekommt die Kulisse, die es verdient. 96.000 Zuschauer haben ein Ticket ergattert, darunter 12.000 Deutsche. In der Heimat sitzen 22 Millionen vor den Bildschirmen und ärgern sich zunächst mal über eine Tonstörung, die während der Nationalhymnen und der ersten fünf Minuten herrscht. So bleibt den Zuschauern ein Kommentar von Werner Schneider zu den turbulenten Szenen vor dem deutschen Tor erspart. Ausgerechnet Beckenbauer hat mit einem Fehlpass eine unbeschreibliche Szene eingeleitet, fast 30 Sekunden herrscht Gefahr vor Sepp Maiers Tor. Auch der zweite Star des Abends, Günter Netzer, hat einen Fehlstart. Der erste Ball springt ihm weg. In beiden Fällen ist es kein schlechtes Omen, wie sich zeigen wird. Der Ball läuft fortan wie am Schnürchen. Es wird ein Abend für Künstler. Günter Netzer erinnert sich: "Die Bedingungen an diesem Abend waren perfekt. Dieser einzigartige Rasen, wie ein Billardtisch. Leichter Nieselregen, und dazu die unglaubliche Atmosphäre dieses Stadions."

Hoeneß erzielt die Führung

In der 14. Minute feuert der Frankfurter Jürgen Grabowski aus 20 Metern drauf, es gibt Ecke. Deren drei in Folge erhalten danach die Engländer, die zumindest diese Disziplin gewinnen werden (14:4). Doch das Spiel machen die Deutschen. Libero Beckenbauer stößt immer wieder nach vorne, prüft Banks mit einem Aufsetzer (20.). ZDF-Kommentator Schneider sagt schon nach einer Viertelstunde: "Die deutsche Mannschaft ist bisher sehr gut, muss ich sagen, sie spielt mit." Das schien mehr zu sein, als allgemein erwartet worden ist. Auch Englands Trainer Sir Alf Ramsey staunt: "Ich war überrascht, dass die Deutschen uns sofort angriffen." 

Es kommt noch besser: nach einem Missverständnis in der englischen Abwehr setzt Siggi Held Uli Hoeneß ein und der zieht mit rechts aus zehn Metern ab. Leicht abgefälscht fliegt der Ball ins linke Eck aus Sicht des Schützen (26.). Im zweiten Länderspiel das zweite Tor – da kündigt sich eine große Karriere an. Reporter Schneider wird immer euphorischer: "Die deutsche Mannschaft spielt ganz hervorragend. Das Mittelfeld gehört der deutschen Mannschaft." Dort wirbeln zwei von fünf im Aufgebot stehende Spieler von Meister Mönchengladbach, Netzer und sein "Wasserträger“ Herbert Wimmer. Der Dritte im Bunde ist Hoeneß. Unterstützt werden sie von Beckenbauer, dessen Wechselspiel mit Netzer zwar nicht abgesprochen ist mit Schön, sondern der Intuition zweier Genies des Weltfußballs entspringt.

Moderne trifft Vergangenheit

Man wird es "Ramba-Zamba“-Fußball nennen, nach einer Schlagzeile der Boulevard-Zeitung. Weil Sepp Maier einen Hurst-Kopfball aus kürzester Distanz parieren kann (30.), geht es mit 1:0 für Deutschland in die Kabinen. Wembley ist vom Donner gerührt, es herrscht Stille wie in einer Kathedrale. Nur die Deutschen machen sich bemerkbar und "haben den Engländern Gesangsunterricht gegeben", wie Schneider amüsiert meldet, als das ZDF wieder auf Sendung ist. In der 53. Minute sind die Deutschen empört. Schiedsrichter Robert Helies aus Frankreich ignoriert ein Foul von Hunter an Gerd Müller, das hätte Elfmeter geben müssen. England macht nun Druck, tauscht Geoff Hurst gegen Marsh aus und hat Pech: Hughes’ abgefälschter Schuss landet auf der Latte (62.), weshalb Kicker-Reporter Wolfgang Rothenburger seinen Lesern anvertraut: "Mein Pulsschlag setzt für eine Sekunde aus." England hat nun mehr Ballbesitz, aber das Spiel der Briten ist zu einfallslos. Sportwissenschaftler werden 2010 ermitteln, dass die Pässe der Deutschen eine Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde haben, die englischen nur 1,64. Moderne trifft Vergangenheit.

Dennoch: Sepp Maier wird in der zweiten Hälfte häufiger geprüft als Gordon Banks, aber wenn Günter Netzer mit Riesenschritten durchs Mittelfeld marschiert, ist mehr Gefahr im Verzug als wenn die englischen Verteidiger stupide ihre Flanken vors Tor schlagen. Der bekannte Sportautor Ulfert Schröder schrieb: "Wenn Fußball etwas mit Intelligenz zu tun hat – und das möchte man doch wohl voraussetzen – dann war nach diesem Spiel festzustellen, dass die Engländer in der letzten Zeit viel weniger gelernt hatten als die Deutschen. In kaum einem Bundesligaspiel hat dieser Netzer so viel Spielraum, wie er es im Wembley-Stadion hatte." Das war Alf Ramseys Kardinalfehler.

Netzer schwingt den Taktstock

"Netzer schwang den Taktstock und alle tanzten nach seiner Melodie, auch Franz Beckenbauer an diesem Tag", schrieb der Sportjournalist Ludger Schulze in seinem Buch "Die Mannschaft“. Auch Kommentator Schneider lobt: "Netzer spielt heute ein großes Spiel.“ Das Faszinierende an dieser Partie ist auch in der Rückschau nach 40 Jahren das Tempo. Wie in einem typischen englischen Ligaspiel geht es unentwegt rauf und runter, es gibt keine Unterbrechungen und keine Ruhephasen. Niemand tritt auf den Ball, um zu signalisieren: macht mal langsam. Es gibt in 90 Minuten nur eine einzige Abseitsposition, keine Mannschaft kommt auf den Gedanken, das Publikum mit dem taktischen Mittel einer Abseitsfalle zu verärgern.

Es regiert die pure Lust am Spiel. Und so fallen noch drei Tore in der letzten Viertelstunde. Zunächst gleicht England durch Francis Lee aus, weil Sepp Maier einen Schuss von Colin Bell aus kurzer Distanz nicht festhalten kann. Doch für Maier gelten wegen seiner schmerzhaften Verletzung – immer wieder greift er sich an den Ellenbogen – mildernde Umstände. 1:1 also nach 77 Minuten und Kommentator Schneider sagt der Heimat: "Wenn man gerecht ist, muss man sagen: es ist sicherlich nicht unverdient.“ Die Deutschen wollen aber einen höheren Lohn für ihren Glanzauftritt, die Engländer können gar nicht anders als auf Sieg zu spielen und so geht die wilde Hatz weiter. Gerd Müller schickt Linksaußen Siggi Held steil, der große Bobby Moore kann ihn nur mit einem Foul bremsen. Auf der Strafraumlinie, die bekanntlich zum Strafraum gehört – also Elfmeter (84.). Gerd Müller ist der festgelegte Schütze, aber der Bomber der Nation bekommt weiche Knie und signalisiert Netzer: "Mach Du!"

"Aus der Tiefe des Raumes"

Netzer schießt in Gladbach auch stets die Elfmeter und da ihm alles gelungen ist an diesem Tag, an dem ihn die Fans in Sprechchören feiern, traut er sich den Schuss zu. Gordon Banks ahnt seine Ecke, aber zum Glück für Netzer ist der Schuss scharf genug. Vom Innenpfosten prallt der Ball ins Netz – 2:1 für die Deutschen. Wenn je der Spruch vom Glück des Tüchtigen seine Berechtigung gehabt hat, dann in diesem Moment. Man wird hinterher vom besten der 37 Netzer-Länderspiele sprechen. Schulze findet, mit dem Elfmeter habe Netzer "seine triumphale Leistung gekrönt, die sicherlich zu den besten gehört hat, die je ein deutscher Nationalspieler geboten hat.“ Der FAZ-Korrespondent Karl-Heinz Bohrer setzte sich mit seiner Formulierung vom "aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßenden Netzer" selbst ein Denkmal. Hier noch einmal zum Nachlesen der Wortlaut: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley.“

38 Jahre später liefern Wissenschaftler der Kölner Sporthochschule weitere Belege von Netzers Extraklasse an jenem Tag. Im Auftrag einer Zeitschrift sezieren sie das Spiel und stellen fest: Netzer hat 99 Ballkontakte, davon 88 Offensivaktionen und 64 angekommene Pässe – jeweils Bestwerte aller 23 eingesetzten Spieler. Die Werte von Gerd Müller sind in jenen Tagen nur in Ordnung, wenn er ein Tor schießt. Er hebt es sich bis zur 89. Minute auf, als er sich nach Hoeneß-Pass um seine Gegenspieler dreht und flach einschießt. "Müller – ein typisches Müller-Tor. Drehen und schießen, das ist eins", huldigt Werner Schneider Müllers Handlungsschnelligkeit. Nun ist es Fakt: der erste deutsche Sieg in Wembley ist nicht mehr zu verhindern. Auf und neben dem Platz bestimmen die Deutschen die Szenerie. Deutsches Liedgut („So ein Tag, so wunderschön wie heute“) dringt in die Wohnstuben. Als es vorbei ist, sind die Künstler überwältigt von ihrem eigenen Werk. "Unfassbar“ stammelt Netzer unentwegt, DFB-Präsident Hermann Neuberger fühlte sich "wie im Traum“. Im Rückspiel von Berlin (0:0) reichte eine weniger traumhafte Leistung zum Erreichen der Endrunde, aus der Deutschland als Sieger hervorging.

Der Perfektion nahe

Nachspiel: Die Spielkunst, die die Elf an jenem 29. April 1972 entfaltete, wurde hymnisch gefeiert. Bundestrainer Schön selbst war wohl der Erste, der den Superlativ aussprach, es sei "die beste Leistung einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt" gewesen. Fifa-Präsident Stanley Rous wählte noch im Stadion einen Vergleich zu Ungarns Wunderteam, das 1953 als erstes die Wembley-Festung gestürmt hatte. Man sprach damals von einem Jahrhundertspiel (3:6). Nun mussten die Maßstäbe offenbar neu gesetzt werden. Frankreichs Fachblatt L’Equipe“ schwärmte prompt vom "Traumfußball aus dem Jahr 2000". Der Netzer-Biograph und Feuilletonist Helmut Böttiger schrieb noch in den Neunzigern, also zwei Weltmeister-Titel später: "Es war der glänzendste Sieg einer deutschen Nationalmannschaft. Nichts von den 'Panzern', von den 'Nibelungen', wie es sonst nach deutschen Erfolgen in der internationalen Presse zu lesen war, nichts von Kampf und Kondition: "Die Welt rieb sich die Augen und erkannte bei den Deutschen die Möglichkeit der Kunst, der Eleganz, der Phantasie.“ 2011 erhielt der Sieg von Wembley auch in der Rangliste der Sport Bild das Etikett "Größtes deutsches Länderspiel.“ – von über 850 mittlerweile.

Trifft das zu? Da es niemanden geben kann, der alle Spiele seit 1908 gesehen hat, ist eine objektive Bewertung ohnehin unmöglich. Die Aktiven selbst wehren sich oft gegen solche Vergleiche. Netzer sagte stets: "Ich liebe diese Generationen übergreifenden Quervergleiche nicht. Wir haben zu unserer Zeit das höchste Tempo gespielt, das unsere Zeit erlaubt hat. Heute wird mit dem höchsten Tempo gespielt, das die Gegenwart zulässt. Es ist daher nicht statthaft, einst und jetzt eins zu eins zu vergleichen." Aber er sagte auch: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe."

Geburtsstunde der "Jahrhundertelf"

Doch waren dies nicht noch andere deutsche Mannschaften? Gerade jetzt in der Löw-Ära erlebten wir häufig glanzvolle Auftritte. War deren Dominanz nicht noch größer? Beispielsweise bei der WM 2010 gegen Argentinien (4:0) oder 2006 gegen die Schweden (2:0) oder in dutzenden Spielen, die als Superlativ nur deshalb nicht in Frage kommen, weil der Gegner nicht groß, nicht namhaft genug, erschien? Und was ist mit dem unglaublichen 7:1 von Belo Horizonte, ein Sieg im WM-Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien? Zählt es nicht so viel, weil es an Spannung mangelte und der Gegner einen rabenschwarzen Tag erwischte? In Wembley mussten die Deutschen bis zuletzt zittern, nach Ecken (14:4) und Torschüssen (25:13) gewannen die Engländer.

Aus heutiger Sicht darf man annehmen, dass die Freude über "den Sieg, den es nur einmal gibt" (Kicker) trotz der ungünstigen Ausgangslage in manche allzu euphorische Bewertung mit eingeflossen ist. Der Kicker kommentierte auch in Bezug auf den 1971 ausgelösten Bundesliga-Skandal: "Wir haben im deutschen Fußball in den letzten Monaten nicht oft Anlass zur Freude gehabt. Dieses Spiel jedoch hat Spaß gemacht. Und weil der Sieg nach den schlechten Vorzeichen so überzeugend errungen wurde, können wir uns so recht daran erfreuen." 

Schließlich war das Undenkbare geschehen; nach 64 Jahren gab es den ersten Sieg in England, das noch immer als ganz große Fußballmacht galt. Unwidersprochen durfte Werner Schneider seinen Kommentar mit den Worten "Es ist eine Sensation des Weltfußballs" beenden. Dass der in diesem Moment eine Wachablösung erlebte, ahnte noch niemand. Doch während der englische Fußball in eine Krise schlitterte und die kommenden vier Turniere verpasste, begannen in Deutschland die Goldenen Siebziger. Netzer wusste: "Der Sieg von Wembley hat diese Mannschaft geprägt". Zwei Monate später wurden sie Europameister und bis auf Siggi Held 1974 auch Weltmeister im eigenen Land. Selbst wenn Wembley `72 vielleicht doch nicht das beste Spiel einer DFB-Auswahl war, so wurde an diesem Abend die mythische "Jahrhundertelf" geboren.

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Heute vor 48 Jahren erlebte der deutsche Fußball einen historischen Moment. Erstmals siegte die Nationalmannschaft in England, das seine Heimspiele gewöhnlich im Londoner Wembley-Stadion austrug. Das 3:1 im Viertelfinalhinspiel der Europameisterschaft erhoben Experten zum besten Länderspiel der DFB-Historie. Für DFB.de blickt der Historiker Udo Muras zurück.

Vorspiel: Als am 12. Januar 1972 in Zürich die Viertelfinalspiele ausgelost wurden und Deutschland auf England traf, war der Aufschrei groß: "Schlimmer ging’s nicht, England!“, titelte der Kicker entsetzt. Denn im Mutterland des Fußballs hatte die Nationalmannschaft noch nicht gewonnen. Überhaupt hatten die Engländer in ihrer Historie erst vier Heimspiele verloren, alles eher unbedeutende Testspiele. Das mythische Londoner Wembley-Stadion, in dem sie 1966 Weltmeister wurden, galt bis in jene Tage als schier uneinnehmbar.

Es war also das Los, das keiner wollte. Dass die Deutschen vor einem sehr bedeutenden Spiel standen, musste man niemandem erklären; allein schon wegen der Rivalität, die durch die beiden zurückliegenden WM-Endrunden entstanden war. Revanche wollten beide – Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970. Doch im DFB-Lager wuchs der Pessimismus in den Monaten nach der Auslosung bis zum Anpfiff am 29. April 1972 geradezu täglich. Personal- und Formprobleme bei den "Blockmächten“ aus München und Mönchengladbach drückten die Stimmung. Der Kicker titelte über seinen Vorschaubericht beinahe flehentlich: "Lasst die Angst zu Hause!" 

Mit Sorgen gen England

Bezeichnend ist der von ihm selbst oft bestätigte Satz von Regisseur Günter Netzer, der in der Kabine zu Franz Beckenbauer sagte: "Du, wenn wir heute keine fünf Tore kriegen, haben wir ein gutes Resultat erzielt.“ Beckenbauers lapidarer Konter auf gut Bayerisch: "Ja mei!“ Nach 13 Spielen binnen 36 Tagen gingen die Münchner auf dem Zahnfleisch, Torjäger Gerd Müller sprach von "verbrauchten Kraftreserven" und die Zahlen sprachen Bände: angesichts deftiger Packungen (1:5 im Pokal in Köln, 0:3 in Duisburg, 0:2 in Glasgow) war die Stimmung der dominanten Bayern-Fraktion, sie stellten sechs Spieler, am Boden. Zu allem Übel hatte sich Torwart Sepp Maier beim Europacup-Aus in Glasgow verletzt. Er wachte am Spieltag mit dickem Ellenbogen auf und musste in Wembley mit Schaumverband auflaufen, was die Ärzte geheim hielten. Nur Ersatzkeeper Wolfgang Kleff bekam einen Tipp, er möge sich bereithalten. Helmut Schön sagten die Betreuer nichts, der Bundestrainer hatte Sorgen genug und schon wieder mal seine Magenschmerzen.

Denn auf der Ausfall-Liste standen die verletzten Stammkräfte Berti Vogts, Wolfgang Overath und Wolfgang Weber sowie die Schalker Skandal-Sünder Klaus Fichtel und "Stan" Libuda. Auch die Braunschweiger Ergänzungs-spieler Max Lorenz und Lothar Ulsaß sowie Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger mussten passen und so nahm Bundestrainer Helmut Schön zwei gänzlich unerfahrene Spieler mit nach London: Gladbachs Rainer Bonhof und Duisburgs Michael Bella "drohte" ausgerechnet in Wembley ihr Länderspiel-Debüt. So weit kam es zwar nicht, aber Risiko ging Schön dennoch: er setzte auf die Jugend aus dem Stall des FC Bayern. Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Hoeneß bestritt erst sein zweites Länderspiel, Breitner sein viertes, Stopper Schwarzenbeck gab zum neunten Mal den "Putzer des Kaisers".

Quintett an Weltmeistern

Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister von 1966: Gordon Banks, Bobby Moore, Alan Ball, Martin Peters und der gefürchtete Geoff Hurst, der gegen Horst-Dieter Höttges im Finale drei Tore erzielt hatte. Höttges war auch wieder dabei, er und Linksaußen Siggi Held von Regionalligist Kickers Offenbach schraubten den Altersschnitt noch etwas in die Höhe. Dennoch waren die Deutschen (25 Jahre im Schnitt) fast vier Jahre jünger. Da passte das Trikot ganz gut zu ihrer jugendlichen Frische: die Deutschen trugen Grün an diesem regnerischen April-Samstag, was anschließend als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machten sie eines ihrer besten Länderspiele überhaupt.

Das Spiel: Es bekommt die Kulisse, die es verdient. 96.000 Zuschauer haben ein Ticket ergattert, darunter 12.000 Deutsche. In der Heimat sitzen 22 Millionen vor den Bildschirmen und ärgern sich zunächst mal über eine Tonstörung, die während der Nationalhymnen und der ersten fünf Minuten herrscht. So bleibt den Zuschauern ein Kommentar von Werner Schneider zu den turbulenten Szenen vor dem deutschen Tor erspart. Ausgerechnet Beckenbauer hat mit einem Fehlpass eine unbeschreibliche Szene eingeleitet, fast 30 Sekunden herrscht Gefahr vor Sepp Maiers Tor. Auch der zweite Star des Abends, Günter Netzer, hat einen Fehlstart. Der erste Ball springt ihm weg. In beiden Fällen ist es kein schlechtes Omen, wie sich zeigen wird. Der Ball läuft fortan wie am Schnürchen. Es wird ein Abend für Künstler. Günter Netzer erinnert sich: "Die Bedingungen an diesem Abend waren perfekt. Dieser einzigartige Rasen, wie ein Billardtisch. Leichter Nieselregen, und dazu die unglaubliche Atmosphäre dieses Stadions."

Hoeneß erzielt die Führung

In der 14. Minute feuert der Frankfurter Jürgen Grabowski aus 20 Metern drauf, es gibt Ecke. Deren drei in Folge erhalten danach die Engländer, die zumindest diese Disziplin gewinnen werden (14:4). Doch das Spiel machen die Deutschen. Libero Beckenbauer stößt immer wieder nach vorne, prüft Banks mit einem Aufsetzer (20.). ZDF-Kommentator Schneider sagt schon nach einer Viertelstunde: "Die deutsche Mannschaft ist bisher sehr gut, muss ich sagen, sie spielt mit." Das schien mehr zu sein, als allgemein erwartet worden ist. Auch Englands Trainer Sir Alf Ramsey staunt: "Ich war überrascht, dass die Deutschen uns sofort angriffen." 

Es kommt noch besser: nach einem Missverständnis in der englischen Abwehr setzt Siggi Held Uli Hoeneß ein und der zieht mit rechts aus zehn Metern ab. Leicht abgefälscht fliegt der Ball ins linke Eck aus Sicht des Schützen (26.). Im zweiten Länderspiel das zweite Tor – da kündigt sich eine große Karriere an. Reporter Schneider wird immer euphorischer: "Die deutsche Mannschaft spielt ganz hervorragend. Das Mittelfeld gehört der deutschen Mannschaft." Dort wirbeln zwei von fünf im Aufgebot stehende Spieler von Meister Mönchengladbach, Netzer und sein "Wasserträger“ Herbert Wimmer. Der Dritte im Bunde ist Hoeneß. Unterstützt werden sie von Beckenbauer, dessen Wechselspiel mit Netzer zwar nicht abgesprochen ist mit Schön, sondern der Intuition zweier Genies des Weltfußballs entspringt.

Moderne trifft Vergangenheit

Man wird es "Ramba-Zamba“-Fußball nennen, nach einer Schlagzeile der Boulevard-Zeitung. Weil Sepp Maier einen Hurst-Kopfball aus kürzester Distanz parieren kann (30.), geht es mit 1:0 für Deutschland in die Kabinen. Wembley ist vom Donner gerührt, es herrscht Stille wie in einer Kathedrale. Nur die Deutschen machen sich bemerkbar und "haben den Engländern Gesangsunterricht gegeben", wie Schneider amüsiert meldet, als das ZDF wieder auf Sendung ist. In der 53. Minute sind die Deutschen empört. Schiedsrichter Robert Helies aus Frankreich ignoriert ein Foul von Hunter an Gerd Müller, das hätte Elfmeter geben müssen. England macht nun Druck, tauscht Geoff Hurst gegen Marsh aus und hat Pech: Hughes’ abgefälschter Schuss landet auf der Latte (62.), weshalb Kicker-Reporter Wolfgang Rothenburger seinen Lesern anvertraut: "Mein Pulsschlag setzt für eine Sekunde aus." England hat nun mehr Ballbesitz, aber das Spiel der Briten ist zu einfallslos. Sportwissenschaftler werden 2010 ermitteln, dass die Pässe der Deutschen eine Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde haben, die englischen nur 1,64. Moderne trifft Vergangenheit.

Dennoch: Sepp Maier wird in der zweiten Hälfte häufiger geprüft als Gordon Banks, aber wenn Günter Netzer mit Riesenschritten durchs Mittelfeld marschiert, ist mehr Gefahr im Verzug als wenn die englischen Verteidiger stupide ihre Flanken vors Tor schlagen. Der bekannte Sportautor Ulfert Schröder schrieb: "Wenn Fußball etwas mit Intelligenz zu tun hat – und das möchte man doch wohl voraussetzen – dann war nach diesem Spiel festzustellen, dass die Engländer in der letzten Zeit viel weniger gelernt hatten als die Deutschen. In kaum einem Bundesligaspiel hat dieser Netzer so viel Spielraum, wie er es im Wembley-Stadion hatte." Das war Alf Ramseys Kardinalfehler.

Netzer schwingt den Taktstock

"Netzer schwang den Taktstock und alle tanzten nach seiner Melodie, auch Franz Beckenbauer an diesem Tag", schrieb der Sportjournalist Ludger Schulze in seinem Buch "Die Mannschaft“. Auch Kommentator Schneider lobt: "Netzer spielt heute ein großes Spiel.“ Das Faszinierende an dieser Partie ist auch in der Rückschau nach 40 Jahren das Tempo. Wie in einem typischen englischen Ligaspiel geht es unentwegt rauf und runter, es gibt keine Unterbrechungen und keine Ruhephasen. Niemand tritt auf den Ball, um zu signalisieren: macht mal langsam. Es gibt in 90 Minuten nur eine einzige Abseitsposition, keine Mannschaft kommt auf den Gedanken, das Publikum mit dem taktischen Mittel einer Abseitsfalle zu verärgern.

Es regiert die pure Lust am Spiel. Und so fallen noch drei Tore in der letzten Viertelstunde. Zunächst gleicht England durch Francis Lee aus, weil Sepp Maier einen Schuss von Colin Bell aus kurzer Distanz nicht festhalten kann. Doch für Maier gelten wegen seiner schmerzhaften Verletzung – immer wieder greift er sich an den Ellenbogen – mildernde Umstände. 1:1 also nach 77 Minuten und Kommentator Schneider sagt der Heimat: "Wenn man gerecht ist, muss man sagen: es ist sicherlich nicht unverdient.“ Die Deutschen wollen aber einen höheren Lohn für ihren Glanzauftritt, die Engländer können gar nicht anders als auf Sieg zu spielen und so geht die wilde Hatz weiter. Gerd Müller schickt Linksaußen Siggi Held steil, der große Bobby Moore kann ihn nur mit einem Foul bremsen. Auf der Strafraumlinie, die bekanntlich zum Strafraum gehört – also Elfmeter (84.). Gerd Müller ist der festgelegte Schütze, aber der Bomber der Nation bekommt weiche Knie und signalisiert Netzer: "Mach Du!"

"Aus der Tiefe des Raumes"

Netzer schießt in Gladbach auch stets die Elfmeter und da ihm alles gelungen ist an diesem Tag, an dem ihn die Fans in Sprechchören feiern, traut er sich den Schuss zu. Gordon Banks ahnt seine Ecke, aber zum Glück für Netzer ist der Schuss scharf genug. Vom Innenpfosten prallt der Ball ins Netz – 2:1 für die Deutschen. Wenn je der Spruch vom Glück des Tüchtigen seine Berechtigung gehabt hat, dann in diesem Moment. Man wird hinterher vom besten der 37 Netzer-Länderspiele sprechen. Schulze findet, mit dem Elfmeter habe Netzer "seine triumphale Leistung gekrönt, die sicherlich zu den besten gehört hat, die je ein deutscher Nationalspieler geboten hat.“ Der FAZ-Korrespondent Karl-Heinz Bohrer setzte sich mit seiner Formulierung vom "aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßenden Netzer" selbst ein Denkmal. Hier noch einmal zum Nachlesen der Wortlaut: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley.“

38 Jahre später liefern Wissenschaftler der Kölner Sporthochschule weitere Belege von Netzers Extraklasse an jenem Tag. Im Auftrag einer Zeitschrift sezieren sie das Spiel und stellen fest: Netzer hat 99 Ballkontakte, davon 88 Offensivaktionen und 64 angekommene Pässe – jeweils Bestwerte aller 23 eingesetzten Spieler. Die Werte von Gerd Müller sind in jenen Tagen nur in Ordnung, wenn er ein Tor schießt. Er hebt es sich bis zur 89. Minute auf, als er sich nach Hoeneß-Pass um seine Gegenspieler dreht und flach einschießt. "Müller – ein typisches Müller-Tor. Drehen und schießen, das ist eins", huldigt Werner Schneider Müllers Handlungsschnelligkeit. Nun ist es Fakt: der erste deutsche Sieg in Wembley ist nicht mehr zu verhindern. Auf und neben dem Platz bestimmen die Deutschen die Szenerie. Deutsches Liedgut („So ein Tag, so wunderschön wie heute“) dringt in die Wohnstuben. Als es vorbei ist, sind die Künstler überwältigt von ihrem eigenen Werk. "Unfassbar“ stammelt Netzer unentwegt, DFB-Präsident Hermann Neuberger fühlte sich "wie im Traum“. Im Rückspiel von Berlin (0:0) reichte eine weniger traumhafte Leistung zum Erreichen der Endrunde, aus der Deutschland als Sieger hervorging.

Der Perfektion nahe

Nachspiel: Die Spielkunst, die die Elf an jenem 29. April 1972 entfaltete, wurde hymnisch gefeiert. Bundestrainer Schön selbst war wohl der Erste, der den Superlativ aussprach, es sei "die beste Leistung einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt" gewesen. Fifa-Präsident Stanley Rous wählte noch im Stadion einen Vergleich zu Ungarns Wunderteam, das 1953 als erstes die Wembley-Festung gestürmt hatte. Man sprach damals von einem Jahrhundertspiel (3:6). Nun mussten die Maßstäbe offenbar neu gesetzt werden. Frankreichs Fachblatt L’Equipe“ schwärmte prompt vom "Traumfußball aus dem Jahr 2000". Der Netzer-Biograph und Feuilletonist Helmut Böttiger schrieb noch in den Neunzigern, also zwei Weltmeister-Titel später: "Es war der glänzendste Sieg einer deutschen Nationalmannschaft. Nichts von den 'Panzern', von den 'Nibelungen', wie es sonst nach deutschen Erfolgen in der internationalen Presse zu lesen war, nichts von Kampf und Kondition: "Die Welt rieb sich die Augen und erkannte bei den Deutschen die Möglichkeit der Kunst, der Eleganz, der Phantasie.“ 2011 erhielt der Sieg von Wembley auch in der Rangliste der Sport Bild das Etikett "Größtes deutsches Länderspiel.“ – von über 850 mittlerweile.

Trifft das zu? Da es niemanden geben kann, der alle Spiele seit 1908 gesehen hat, ist eine objektive Bewertung ohnehin unmöglich. Die Aktiven selbst wehren sich oft gegen solche Vergleiche. Netzer sagte stets: "Ich liebe diese Generationen übergreifenden Quervergleiche nicht. Wir haben zu unserer Zeit das höchste Tempo gespielt, das unsere Zeit erlaubt hat. Heute wird mit dem höchsten Tempo gespielt, das die Gegenwart zulässt. Es ist daher nicht statthaft, einst und jetzt eins zu eins zu vergleichen." Aber er sagte auch: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe."

Geburtsstunde der "Jahrhundertelf"

Doch waren dies nicht noch andere deutsche Mannschaften? Gerade jetzt in der Löw-Ära erlebten wir häufig glanzvolle Auftritte. War deren Dominanz nicht noch größer? Beispielsweise bei der WM 2010 gegen Argentinien (4:0) oder 2006 gegen die Schweden (2:0) oder in dutzenden Spielen, die als Superlativ nur deshalb nicht in Frage kommen, weil der Gegner nicht groß, nicht namhaft genug, erschien? Und was ist mit dem unglaublichen 7:1 von Belo Horizonte, ein Sieg im WM-Halbfinale gegen Gastgeber Brasilien? Zählt es nicht so viel, weil es an Spannung mangelte und der Gegner einen rabenschwarzen Tag erwischte? In Wembley mussten die Deutschen bis zuletzt zittern, nach Ecken (14:4) und Torschüssen (25:13) gewannen die Engländer.

Aus heutiger Sicht darf man annehmen, dass die Freude über "den Sieg, den es nur einmal gibt" (Kicker) trotz der ungünstigen Ausgangslage in manche allzu euphorische Bewertung mit eingeflossen ist. Der Kicker kommentierte auch in Bezug auf den 1971 ausgelösten Bundesliga-Skandal: "Wir haben im deutschen Fußball in den letzten Monaten nicht oft Anlass zur Freude gehabt. Dieses Spiel jedoch hat Spaß gemacht. Und weil der Sieg nach den schlechten Vorzeichen so überzeugend errungen wurde, können wir uns so recht daran erfreuen." 

Schließlich war das Undenkbare geschehen; nach 64 Jahren gab es den ersten Sieg in England, das noch immer als ganz große Fußballmacht galt. Unwidersprochen durfte Werner Schneider seinen Kommentar mit den Worten "Es ist eine Sensation des Weltfußballs" beenden. Dass der in diesem Moment eine Wachablösung erlebte, ahnte noch niemand. Doch während der englische Fußball in eine Krise schlitterte und die kommenden vier Turniere verpasste, begannen in Deutschland die Goldenen Siebziger. Netzer wusste: "Der Sieg von Wembley hat diese Mannschaft geprägt". Zwei Monate später wurden sie Europameister und bis auf Siggi Held 1974 auch Weltmeister im eigenen Land. Selbst wenn Wembley `72 vielleicht doch nicht das beste Spiel einer DFB-Auswahl war, so wurde an diesem Abend die mythische "Jahrhundertelf" geboren.

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