Schöns Abschied: Vom Nebel verschleiert

In unregelmäßiger Reihenfolge erinnert DFB.de an große Ereignisse im deutschen Fußball, an Meilensteine und Zäsuren, an große und kleine Helden und auch an tragische Momente. Heute vor 40 Jahren nahm Welt- und Europameistertrainer Helmut Schön Abschied - unter besonderen Umständen. DFB.de stöbert im Nebel der Geschichte.

Von vornherein war klar, dass Länderspiel Nummer 436 ein ganz besonderes werden würde - unabhängig vom Ausgang. Denn in Frankfurt sollte am 15. November 1978, also vor genau 40 Jahren, im Rahmen der Begegnung zwischen Deutschland und Ungarn der bereits abgetretene Bundestrainer Helmut Schön feierlich verabschiedet werden. Eigens für diesen Zweck wurde die Partie praktisch vor seiner Haustür angesetzt, er lebte in Wiesbaden. Denn Schön hatte sich nach 14 überaus erfolgreichen Jahren einen würdigen Abschied verdient, und der ließ sich bei der WM in Argentinien natürlich schlecht einplanen, geschweige denn organisieren.

Nach der "Schmach von Cordoba", dem 2:3 gegen Österreich in der Zwischenrunde, sah man sich beim DFB nur bestätigt: So durfte "der Mann mit der Mütze" seinen Hut nicht nehmen. Und so richteten sie ihm ein kleines Fest aus, das sich dann aber auch nicht an den Ablaufplan hielt. Jedenfalls nicht so ganz. Denn erstmals in der DFB-Geschichte musste ein Länderspiel abgebrochen werden.

"Ich gehe mit einem weinenden und einem lachenden Auge"

Doch der Reihe nach. An jenem Mittwoch drehte sich die Vorberichterstattung zum Ungarn-Gastspiel zu gleichen Teilen um das Ereignis und den Mann, dem es gewidmet war. Artikel erschienen zum neuen Leben des Helmut Schön ohne den Fußball, und es kam zutage, dass er sich an der Wiesbadener Staatsoper ein Jahresabo besorgt hatte, zusammen mit Frau Anneliese, "aber nur auf den Dienstag, denn der Mittwoch und das Wochenende gehören weiterhin dem Fußball."

Ganz loslassen wollte, konnte er also nicht, nur war der Zwang, sich über Entwicklungen von Spielern und Taktiken zu informieren, auf seinen Nachfolger Jupp Derwall übergegangen. Schön, der in den wenigen Wochen nach der WM bereits seine Biographie "Fußball" - bis heute eines der lesenswertesten Fußballbücher - fertiggestellt hatte, sagte dann, was viele in solchen Momenten sagen: "Ich gehe mit einem weinenden und einem lachenden Auge."

Fünf-Gänge-Menü und Mütze aus Marzipan

Am Mittag vor dem Spiel gab es im Forsthaus Gravenbruch einen Empfang mit Fünf-Gänge-Menü, für Schön persönlich eine Schiebermütze aus Marzipan auf der Torte. Viele Weggefährten waren gekommen, allen voran die Ehrenspielführer Fritz Walter und Uwe Seeler, aber auch einige seiner Weltmeister von 1974. Alle konnten nicht da sein, Sepp Maier und Rainer Bonhof mussten am Abend ja noch spielen, und "Kaiser" Franz Beckenbauer war in den USA.

Gerd Müller wurde vermisst, vielleicht weil sein FC Bayern München in einer Krise steckte. DFB-Präsident Hermann Neuberger hielt eine Ansprache und betonte noch mal, der Welt- und Europameistertrainer habe "einen besseren Abschied verdient gehabt als mit dem vorzeitigen Ausscheiden bei der WM in Argentinien".

"Ich wünsche mir viele schöne Tore"

Der Abend im Waldstadion sollte ihn noch etwas entschädigen, das war der allgemeine Wunsch. Schön selbst schrieb in einem Gastbeitrag in der Bild-Zeitung: "Zu meinem Abschied wünsche ich mir viele schöne Tore." Das ZDF übertrug die Partie live, der für 20.15 Uhr vorgesehene Anpfiff verzögerte sich um sechs Minuten, denn auch im Stadion wurde Helmut Schön noch mal geehrt.

Fernsehreporter Rudi Michel hielt, quasi als Vertreter der deutschen Sportöffentlichkeit, eine Laudatio auf Schön und betonte, "der deutsche Fußball hat Ihnen unendlich viel zu verdanken". Neuberger überreichte Schön eine Replik des WM-Pokals, den Deutschland 1974 gewonnen hatte, und Schön reckte ihn seinem Publikum noch einmal zu. "Ich hoffe, ihr wart mit dem Kerl zufrieden", schloss er seine Dankesrede und setzte sich neben seine Anneliese in Reihe 1, Platz elf, auf der Haupttribüne. Es war angerichtet, nun fehlten nur noch die Tore.

Fischer trifft per Flugkopfball, Tor wird annulliert

Dass die Zuschauer in der ersten Halbzeit keine sahen, lag an den Deutschen. Chancen gab es genug, Karl-Heinz Rummenigge, Bernard Dietz und Klaus Fischer vergaben die größten. Und als Fischer dann doch per Flugkopfball traf, annullierte der Franzose Robert Wurtz das Tor wegen Abseits. Eine sehr umstrittene Entscheidung des Schiedsrichters, die man zur Feier des Tages auch mal hätte anders treffen können. Fischer stand jedenfalls nicht im Abseits, Wurtz aber wollte noch zwei andere Deutsche gesehen haben, auf die das zugetroffen haben soll.

Mit 0:0 ging es in die Kabinen, und keiner ahnte, was da kommen würde. Am Spieltag stand zwar schon zu lesen: "Trübe Aussichten für heute Abend. Die Wetterwarte Offenbach meldet: diesig und ein wenig neblig." Das aber war glatt untertrieben. In der Pause hatte sich dichter Nebel über das Spielfeld gesenkt. Wurtz pfiff trotzdem noch mal an, aber das war keine gute Idee. Man konnte schon nicht mehr von einem Tor zum anderen sehen.

Fußball nach Gehör

Ungarns Trainer Lajos Baróti gab seinem Spieler György Tatar den Auftrag, vom Anstoßkreis sofort aufs deutsche Tor zu schießen, "der Maier sieht ja doch nichts". Klappte nicht so ganz, Maier spottete hinterher: "Ich habe Radar-Augen." Die hätten sich auch die Zuschauer gewünscht. War der Ball auf der Seite der Haupttribüne, sah die Gegentribüne nichts und umgekehrt. Den Akteuren ging es kaum besser, Verteidiger Rolf Rüssmann gestand: "Alle haben gehorcht, von wo der Ball ranrauscht, und da sind wir dann alle hingerannt." 

Fußball nach Gehör, das war unerhört. Von den Rängen wurde "Aufhören" skandiert, und die ersten Zuschauer brachen auf. Schön sagte verständnislos: "Warum geht ihr denn? Da fällt doch gleich ein Tor!" Damit sollte der Star des Abends irren. Nach 60 Minuten unterbrach Wurtz die Partie, zunächst für 15 Minuten. Die Rasenheizung und das Flutlicht wurden abgestellt, um möglichst wenig Wärme zu produzieren, der den Nebel angezogen hatte. Doch der ließ sich nicht überlisten und Wurtz brach endgültig ab. Und wieder musste Schön sagen: "Ich hätte mir einen sportlich schöneren Abschied vorgestellt. Aber da ist nun nichts zu machen."

Dann nahm er seine Mütze und ging nach Haus. Und mit ihm und den 45.000 anderen verschwand plötzlich auch der Nebel wieder.

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In unregelmäßiger Reihenfolge erinnert DFB.de an große Ereignisse im deutschen Fußball, an Meilensteine und Zäsuren, an große und kleine Helden und auch an tragische Momente. Heute vor 40 Jahren nahm Welt- und Europameistertrainer Helmut Schön Abschied - unter besonderen Umständen. DFB.de stöbert im Nebel der Geschichte.

Von vornherein war klar, dass Länderspiel Nummer 436 ein ganz besonderes werden würde - unabhängig vom Ausgang. Denn in Frankfurt sollte am 15. November 1978, also vor genau 40 Jahren, im Rahmen der Begegnung zwischen Deutschland und Ungarn der bereits abgetretene Bundestrainer Helmut Schön feierlich verabschiedet werden. Eigens für diesen Zweck wurde die Partie praktisch vor seiner Haustür angesetzt, er lebte in Wiesbaden. Denn Schön hatte sich nach 14 überaus erfolgreichen Jahren einen würdigen Abschied verdient, und der ließ sich bei der WM in Argentinien natürlich schlecht einplanen, geschweige denn organisieren.

Nach der "Schmach von Cordoba", dem 2:3 gegen Österreich in der Zwischenrunde, sah man sich beim DFB nur bestätigt: So durfte "der Mann mit der Mütze" seinen Hut nicht nehmen. Und so richteten sie ihm ein kleines Fest aus, das sich dann aber auch nicht an den Ablaufplan hielt. Jedenfalls nicht so ganz. Denn erstmals in der DFB-Geschichte musste ein Länderspiel abgebrochen werden.

"Ich gehe mit einem weinenden und einem lachenden Auge"

Doch der Reihe nach. An jenem Mittwoch drehte sich die Vorberichterstattung zum Ungarn-Gastspiel zu gleichen Teilen um das Ereignis und den Mann, dem es gewidmet war. Artikel erschienen zum neuen Leben des Helmut Schön ohne den Fußball, und es kam zutage, dass er sich an der Wiesbadener Staatsoper ein Jahresabo besorgt hatte, zusammen mit Frau Anneliese, "aber nur auf den Dienstag, denn der Mittwoch und das Wochenende gehören weiterhin dem Fußball."

Ganz loslassen wollte, konnte er also nicht, nur war der Zwang, sich über Entwicklungen von Spielern und Taktiken zu informieren, auf seinen Nachfolger Jupp Derwall übergegangen. Schön, der in den wenigen Wochen nach der WM bereits seine Biographie "Fußball" - bis heute eines der lesenswertesten Fußballbücher - fertiggestellt hatte, sagte dann, was viele in solchen Momenten sagen: "Ich gehe mit einem weinenden und einem lachenden Auge."

Fünf-Gänge-Menü und Mütze aus Marzipan

Am Mittag vor dem Spiel gab es im Forsthaus Gravenbruch einen Empfang mit Fünf-Gänge-Menü, für Schön persönlich eine Schiebermütze aus Marzipan auf der Torte. Viele Weggefährten waren gekommen, allen voran die Ehrenspielführer Fritz Walter und Uwe Seeler, aber auch einige seiner Weltmeister von 1974. Alle konnten nicht da sein, Sepp Maier und Rainer Bonhof mussten am Abend ja noch spielen, und "Kaiser" Franz Beckenbauer war in den USA.

Gerd Müller wurde vermisst, vielleicht weil sein FC Bayern München in einer Krise steckte. DFB-Präsident Hermann Neuberger hielt eine Ansprache und betonte noch mal, der Welt- und Europameistertrainer habe "einen besseren Abschied verdient gehabt als mit dem vorzeitigen Ausscheiden bei der WM in Argentinien".

"Ich wünsche mir viele schöne Tore"

Der Abend im Waldstadion sollte ihn noch etwas entschädigen, das war der allgemeine Wunsch. Schön selbst schrieb in einem Gastbeitrag in der Bild-Zeitung: "Zu meinem Abschied wünsche ich mir viele schöne Tore." Das ZDF übertrug die Partie live, der für 20.15 Uhr vorgesehene Anpfiff verzögerte sich um sechs Minuten, denn auch im Stadion wurde Helmut Schön noch mal geehrt.

Fernsehreporter Rudi Michel hielt, quasi als Vertreter der deutschen Sportöffentlichkeit, eine Laudatio auf Schön und betonte, "der deutsche Fußball hat Ihnen unendlich viel zu verdanken". Neuberger überreichte Schön eine Replik des WM-Pokals, den Deutschland 1974 gewonnen hatte, und Schön reckte ihn seinem Publikum noch einmal zu. "Ich hoffe, ihr wart mit dem Kerl zufrieden", schloss er seine Dankesrede und setzte sich neben seine Anneliese in Reihe 1, Platz elf, auf der Haupttribüne. Es war angerichtet, nun fehlten nur noch die Tore.

Fischer trifft per Flugkopfball, Tor wird annulliert

Dass die Zuschauer in der ersten Halbzeit keine sahen, lag an den Deutschen. Chancen gab es genug, Karl-Heinz Rummenigge, Bernard Dietz und Klaus Fischer vergaben die größten. Und als Fischer dann doch per Flugkopfball traf, annullierte der Franzose Robert Wurtz das Tor wegen Abseits. Eine sehr umstrittene Entscheidung des Schiedsrichters, die man zur Feier des Tages auch mal hätte anders treffen können. Fischer stand jedenfalls nicht im Abseits, Wurtz aber wollte noch zwei andere Deutsche gesehen haben, auf die das zugetroffen haben soll.

Mit 0:0 ging es in die Kabinen, und keiner ahnte, was da kommen würde. Am Spieltag stand zwar schon zu lesen: "Trübe Aussichten für heute Abend. Die Wetterwarte Offenbach meldet: diesig und ein wenig neblig." Das aber war glatt untertrieben. In der Pause hatte sich dichter Nebel über das Spielfeld gesenkt. Wurtz pfiff trotzdem noch mal an, aber das war keine gute Idee. Man konnte schon nicht mehr von einem Tor zum anderen sehen.

Fußball nach Gehör

Ungarns Trainer Lajos Baróti gab seinem Spieler György Tatar den Auftrag, vom Anstoßkreis sofort aufs deutsche Tor zu schießen, "der Maier sieht ja doch nichts". Klappte nicht so ganz, Maier spottete hinterher: "Ich habe Radar-Augen." Die hätten sich auch die Zuschauer gewünscht. War der Ball auf der Seite der Haupttribüne, sah die Gegentribüne nichts und umgekehrt. Den Akteuren ging es kaum besser, Verteidiger Rolf Rüssmann gestand: "Alle haben gehorcht, von wo der Ball ranrauscht, und da sind wir dann alle hingerannt." 

Fußball nach Gehör, das war unerhört. Von den Rängen wurde "Aufhören" skandiert, und die ersten Zuschauer brachen auf. Schön sagte verständnislos: "Warum geht ihr denn? Da fällt doch gleich ein Tor!" Damit sollte der Star des Abends irren. Nach 60 Minuten unterbrach Wurtz die Partie, zunächst für 15 Minuten. Die Rasenheizung und das Flutlicht wurden abgestellt, um möglichst wenig Wärme zu produzieren, der den Nebel angezogen hatte. Doch der ließ sich nicht überlisten und Wurtz brach endgültig ab. Und wieder musste Schön sagen: "Ich hätte mir einen sportlich schöneren Abschied vorgestellt. Aber da ist nun nichts zu machen."

Dann nahm er seine Mütze und ging nach Haus. Und mit ihm und den 45.000 anderen verschwand plötzlich auch der Nebel wieder.

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