1938: Erster Platzverweis der deutschen WM-Geschichte

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

4. Juni in Paris - Achtelfinale: Deutschland – Schweiz 1:1 n.V.

Vor dem Spiel:

Zehn Wochen vor der WM wurde der seit November 1936 amtierende Reichstrainer Sepp Herberger gezwungen, die besten Spieler Österreichs zu integrieren. Nach dem "Anschluss" des Nachbarlands an Hitler-Deutschland am 12. März 1938 verlangte die Sportführung eine Aufstellung pro Spiel im Verhältnis von 6:5. Damit wurde die legendäre Breslau-Elf (zehn Siege in Folge) gesprengt und die Vereinbarkeit zweier unvereinbarer Spielsysteme in kürzester Zeit angeordnet. Das "WM-System" traf auf die technisch anspruchsvollere Wiener Schule. Kern der Systemdebatten war die Rolle des Mittelläufers, die die Wiener weit offensiver und dominanter auslegten als die Deutschen, die nach englischer Art in ihm einen Stopper sahen. Bei ihnen machten die Läufer und Halbstürmer das Spiel. So wollte es schon Otto Nerz und so übernahm es auch Herberger.

Der seit Mai 1938 endlich Alleinverantwortliche (nach dem Rücktritt von Otto Nerz, dem "Referent der Nationalmannschaft") zog die Besten beider Mannschaften, die zu einer werden sollten, Anfang Mai für drei Wochen in der Sportschule Wedau in Duisburg zusammen. Sie bestand aus 13 Deutschen und neun ausnahmslos für Wiener Klubs spielenden Österreichern. Und sie fand nicht zusammen. Weniger menschlich als fachlich. "Herr Herberger, das WM-System werde ich nie begreifen", sagte der Wiener Verteidiger Willi Schmaus in einer Spielersitzung. Noch ein Problem ergab sich: die Wiener waren allesamt Profis gewesen, was in Deutschland verboten war. Mit dem Anschluss durften sie kein Geld mehr mit Fußball verdienen und erhielten pseudomäßige Anstellungen bei der Stadt Wien, im Rathaus, bei der Feuerwehr oder Straßenbahn. Natürlich nicht annähernd so gut bezahlt – und so plagten sie während der WM-Tage ernste Zukunftssorgen.

In Duisburg traten Spannungen offen zutage. Szepan donnerte den Ball in der Turnhalle dicht über die Köpfe der auf einer Bank sitzenden Wiener, nachdem deren Techniker "Peppi" Stroh die Deutschen mit einer Jongliereinlage provoziert hatte. Auch um das Mittagessen gab es Debatten, was den Deutschen schmeckte, schmeckte den Wienern nicht. "So wäre es wohl besser gewesen, eine rein deutsche oder eine reine Wiener Elf zu stellen", schrieb Rechtsaußen Ernst Lehner in seinen Memoiren.

Bezeichnend: Der Wiener Hans Mock machte sein erstes Länderspiel für Deutschland ausgerechnet bei einer WM – und war doch gleich Kapitän. Die NS-Presse bemühte sich um Zweckoptimismus: "Wir haben Vertrauen zu der Mannschaft, zu dem unbeugsamen Siegeswillen, ihrer spielerischen Kunst. Mag nun Jakob oder Raftl im Tor stehen, Janes mit Streitle oder Schmaus zusammenarbeiten, mögen sich die Schweinfurter (d.h. Kupfer und Kitzinger) mit Mock oder die Wiener mit Goldbrunner verbünden, mag man dem jungen Stroh oder dem erfahrenen Szepan die Leitung des Sturmspiels anvertrauen, Lehner oder Hahnemann am rechten Flügel stürmen... Sie werden sich verstehen, sie werden kämpfen!", schrieb das Reichssportblatt eine Woche vor dem Spiel.

Aber auch der Redakteur gestand: "Leider lassen sich zwei Fußball-Mannschaften nicht addieren wie zwei Zahlenkolonnen." Als Herberger sie im Training gegeneinander spielen ließ, gewannen die Deutschen 9:1 und Herberger sah sich bestätigt über die Wiener: "Die können nicht kämpfen."

Aus finanziellen Gründen bezog die deutsche Mannschaft kein festes Quartier in Frankreich, sondern reiste mit dem Zug aus Duisburg am Vortag des Spiels an. Am Abend ging es in Paris noch ins Theater. Wobei Herberger vor der ersten Partie nur 15 Spieler mitnahm, der Rest blieb in der Sportschule Wedau. Abgesehen von Hans Jakob, der Torwart der Breslau-Elf musste einen schlimmen Schicksalsschlag verkraften: seine vierjährige Tochter starb an einer tückischen Krankheit und Jakob reiste sofort ab. In Duisburg verblieben ferner die "Breslauer" Goldbrunner, Münzenberg und Siffling sowie die Wiener Stroh (erkrankt), Skoumal und Wagner.

Die Fachpresse war irritiert, die Fußball Woche kritisierte: "Es sei uns erlaubt auszusprechen, daß uns für diese Maßnahme das Verständnis fehlt."

Die Schweiz hatte beeindruckende Ergebnisse im Vorfeld der WM eingefahren, schlug im Mai erstmals England (2:1) und hatte selbst gegen Weltmeister Italien (2:2) und die Deutschen im Februar (1:1 in Köln) nicht verloren. So stand im Züricher Sport zu lesen: "Heute ist die Stimmung nicht wie vor Köln, daß wir fragen, werden wir wohl wieder einmal ein Goal gegen die Deutschen erzielen oder fragen, wie ‚ehrenvoll‘ werden wir unterliegen? Heute ist die Stimmung fest auf Sieg gegen Deutschland eingestellt." Selbst das Reichssportblatt gab zu: "Heute erklärt die Fußballfachwelt eher die Schweizer zum Favoriten." Zwei Tage vor Turnierstart erlaubt die FIFA die Teilnahme des eingebürgerten gebürtigen Russen Eugen Walascek.

Spielbericht:

Herberger verkündet die Aufstellung nach dem Mittagessen. Es formiert sich an diesem Samstag zwangsläufig eine Elf, die noch nie miteinander gespielt hat. Prominentestes Opfer der Zwangsaufnahme von fünf Wienern ist Schalkes Kapitän Fritz Szepan. 27.000 Zuschauer füllen den Prinzen-Park bei Gluthitze restlos, für die Anhänger beider Teams ist der Weg nicht allzu weit. Es ist das erste Achtelfinale und somit das Eröffnungsspiel der WM 1938. Wegen Hitlers unverhohlener Expansionspolitik schlägt den Deutschen und ihren rund 2000 Anhängern starke Abneigung entgegen, die schon am Bahnhof zu unschönen Szenen führt. Im Stadion geht es weiter.

Lehner erinnert sich: "Zu der sommerlichen Hitze kam die politische Erhitzung der Gemüter, die sich schon zu Beginn durch grelle Fingerpfiffe Luft machte. Kein Zweifel, das Publikum hatten wir zum größten Teil gegen uns." Tomaten, Eier und sogar Flaschen werden beim Einlaufen auf die deutsche Elf geworfen. Bei der Hymne (dem Horst-Wessel-Lied) gibt es ein wüstes Pfeifkonzert. Und von Anfang an dominieren die "Hopp Schwyz"-Rufe im weiten Rund. Was den guten deutschen Start nicht verhindern kann. Schnelle Kombinationen bringen die Schweizer Abwehr ins Schwitzen und nach 26 Minuten fällt das erste Tor.

Es ist, als wäre es am Reißbrett entworfen worden: der Deutsche Gellesch (Schalke) bedient den Österreicher Hahnemann (Admira Wien), der zu Landsmann Johann Pesser (Rapid Wien) und der zum deutschen Mittelstürmer Josef Gauchel (TuS Neuendorf) – Schuss und Tor. Mehrmals wird das 2:0 vergeben, was sich rächt. Der von Kitzinger zuvor hart attackierte André Abegglen nutzt freistehend per Kopf die Ausgleichschance (43.), nachdem Rudolf Raftl unter einer Flanke hindurch segelt. Der Pausenstand schmeichelt den Schweizern, die in der zweiten Hälfte plötzlich aufkommen und mehr vom Spiel haben. Aber sie haben auch Glück, als Hahnemann nach einem Foul im Strafraum der Elfmeter versagt wird, Schiedsrichter Langenus gibt Freistoß von der 16-Meter-Linie (61.).

Tore fallen nicht mehr, Treffer gibt es in der ersten Verlängerung der deutschen WM-Historie umso mehr – der anderen Art. Die Partie wird zunehmend härter, der belgische Referee lässt viel durchgehen. Albin Kitzinger verletzt sich am Knöchel, bleibt minutenlang draußen und wird dann als humpelnder Statist auf Rechtsaußen abgestellt, Lehner rückt auf Halbrechts und verdrängt Gellesch auf Kitzingers Läuferposten. Die Hitze, die Umstellungen und das feindselige Klima – und dann auch noch der erste Platzverweis der DFB-Historie bei einer WM für den Wiener Johann Pesser, der sich bei Minelli für eine Serie von Fouls mit einem Tritt ans Schienbein revanchiert (113.): Deutschland sehnt den Abpfiff herbei. Lehner schreibt: "…so daß wir nur einen Wunsch hatten, gleichgültig wie, für diesen Tag zu Ende zu kommen." (Aus: Mit dem Lederball quer durch Europa) Pesser wird beim Verlassen des Platzes mit Obst, Gemüse und Steinen beworfen. Lehners Kapitelüberschrift in seinen Memoiren trägt nicht zuletzt deshalb die Überschrift: "Die Hölle vom Prinzenpark."

Aufstellung: Raftl – Janes, Schmaus – Kupfer, Mock, Kitzinger – Gellesch, Hahnemann – Lehner, Gauchel, Pesser.

Tore: 1:0 Gauchel (28.), 1:1 A. Abegglen (43.).

Zuschauer: 27.000

Platzverweis: Pesser (113.).

Stimmen zum Spiel:

"Es war ein Schlachten, kein ritterlicher Sportkampf mehr. Es ist nicht zweifelhaft, daß die Schweizer diesen Ton in das Spiel hineintrugen und Meister des versteckten Fouls waren…" (Hamburger Anzeiger)

"Kupfer und Kitzinger überragten. Die Verletzung des letzteren hat vielleicht Deutschland um die letzte Chance gebracht, den Sieg an sich zu reißen." (Fußball)

"Wir sind noch mit einem blauen Auge davongekommen, und es würde uns nicht schmerzen, wenn nicht die Hinausstellung von Pesser passiert wäre, so aber sind die Erkenntnisse, die wir in Paris gewinnen mußten, bitter gewürzt…Die Wiener Trumpfkarte sticht nicht bedingungslos…Unser Sturm hat im ganzen Jahr 1938 noch kein befriedigendes Spiel zusammengebracht, das von Paris gegen die Schweiz aber war eins seiner schwächsten und drucklosesten seit langem!" (Fußball Woche)

"Es war eine außerordentlich harte Belastungsprobe, die das Wort vom völkerverbindenden Sport als hohle Phrase erscheinen und die das in sportlichen Konkurrenzen schlummernden Gefahrenmoment plastisch hervortreten zu lassen geeignet ist." (Neue Züricher Zeitung)

"Eine schlecht gelötete Elf, die deutsche." (France Soir)

Albin Kitzinger (1961): "Die Atmosphäre war alles andere als freundlich. Schon vor der Hinausstellung von Pesser glich der Prinzenpark einem Hexenkessel. Pesser wurde auf dem Weg in die Kabinen mit faulem Obst, Tomaten und Eiern beworfen."

[um]

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

4. Juni in Paris - Achtelfinale: Deutschland – Schweiz 1:1 n.V.

Vor dem Spiel:

Zehn Wochen vor der WM wurde der seit November 1936 amtierende Reichstrainer Sepp Herberger gezwungen, die besten Spieler Österreichs zu integrieren. Nach dem "Anschluss" des Nachbarlands an Hitler-Deutschland am 12. März 1938 verlangte die Sportführung eine Aufstellung pro Spiel im Verhältnis von 6:5. Damit wurde die legendäre Breslau-Elf (zehn Siege in Folge) gesprengt und die Vereinbarkeit zweier unvereinbarer Spielsysteme in kürzester Zeit angeordnet. Das "WM-System" traf auf die technisch anspruchsvollere Wiener Schule. Kern der Systemdebatten war die Rolle des Mittelläufers, die die Wiener weit offensiver und dominanter auslegten als die Deutschen, die nach englischer Art in ihm einen Stopper sahen. Bei ihnen machten die Läufer und Halbstürmer das Spiel. So wollte es schon Otto Nerz und so übernahm es auch Herberger.

Der seit Mai 1938 endlich Alleinverantwortliche (nach dem Rücktritt von Otto Nerz, dem "Referent der Nationalmannschaft") zog die Besten beider Mannschaften, die zu einer werden sollten, Anfang Mai für drei Wochen in der Sportschule Wedau in Duisburg zusammen. Sie bestand aus 13 Deutschen und neun ausnahmslos für Wiener Klubs spielenden Österreichern. Und sie fand nicht zusammen. Weniger menschlich als fachlich. "Herr Herberger, das WM-System werde ich nie begreifen", sagte der Wiener Verteidiger Willi Schmaus in einer Spielersitzung. Noch ein Problem ergab sich: die Wiener waren allesamt Profis gewesen, was in Deutschland verboten war. Mit dem Anschluss durften sie kein Geld mehr mit Fußball verdienen und erhielten pseudomäßige Anstellungen bei der Stadt Wien, im Rathaus, bei der Feuerwehr oder Straßenbahn. Natürlich nicht annähernd so gut bezahlt – und so plagten sie während der WM-Tage ernste Zukunftssorgen.

In Duisburg traten Spannungen offen zutage. Szepan donnerte den Ball in der Turnhalle dicht über die Köpfe der auf einer Bank sitzenden Wiener, nachdem deren Techniker "Peppi" Stroh die Deutschen mit einer Jongliereinlage provoziert hatte. Auch um das Mittagessen gab es Debatten, was den Deutschen schmeckte, schmeckte den Wienern nicht. "So wäre es wohl besser gewesen, eine rein deutsche oder eine reine Wiener Elf zu stellen", schrieb Rechtsaußen Ernst Lehner in seinen Memoiren.

Bezeichnend: Der Wiener Hans Mock machte sein erstes Länderspiel für Deutschland ausgerechnet bei einer WM – und war doch gleich Kapitän. Die NS-Presse bemühte sich um Zweckoptimismus: "Wir haben Vertrauen zu der Mannschaft, zu dem unbeugsamen Siegeswillen, ihrer spielerischen Kunst. Mag nun Jakob oder Raftl im Tor stehen, Janes mit Streitle oder Schmaus zusammenarbeiten, mögen sich die Schweinfurter (d.h. Kupfer und Kitzinger) mit Mock oder die Wiener mit Goldbrunner verbünden, mag man dem jungen Stroh oder dem erfahrenen Szepan die Leitung des Sturmspiels anvertrauen, Lehner oder Hahnemann am rechten Flügel stürmen... Sie werden sich verstehen, sie werden kämpfen!", schrieb das Reichssportblatt eine Woche vor dem Spiel.

Aber auch der Redakteur gestand: "Leider lassen sich zwei Fußball-Mannschaften nicht addieren wie zwei Zahlenkolonnen." Als Herberger sie im Training gegeneinander spielen ließ, gewannen die Deutschen 9:1 und Herberger sah sich bestätigt über die Wiener: "Die können nicht kämpfen."

Aus finanziellen Gründen bezog die deutsche Mannschaft kein festes Quartier in Frankreich, sondern reiste mit dem Zug aus Duisburg am Vortag des Spiels an. Am Abend ging es in Paris noch ins Theater. Wobei Herberger vor der ersten Partie nur 15 Spieler mitnahm, der Rest blieb in der Sportschule Wedau. Abgesehen von Hans Jakob, der Torwart der Breslau-Elf musste einen schlimmen Schicksalsschlag verkraften: seine vierjährige Tochter starb an einer tückischen Krankheit und Jakob reiste sofort ab. In Duisburg verblieben ferner die "Breslauer" Goldbrunner, Münzenberg und Siffling sowie die Wiener Stroh (erkrankt), Skoumal und Wagner.

Die Fachpresse war irritiert, die Fußball Woche kritisierte: "Es sei uns erlaubt auszusprechen, daß uns für diese Maßnahme das Verständnis fehlt."

Die Schweiz hatte beeindruckende Ergebnisse im Vorfeld der WM eingefahren, schlug im Mai erstmals England (2:1) und hatte selbst gegen Weltmeister Italien (2:2) und die Deutschen im Februar (1:1 in Köln) nicht verloren. So stand im Züricher Sport zu lesen: "Heute ist die Stimmung nicht wie vor Köln, daß wir fragen, werden wir wohl wieder einmal ein Goal gegen die Deutschen erzielen oder fragen, wie ‚ehrenvoll‘ werden wir unterliegen? Heute ist die Stimmung fest auf Sieg gegen Deutschland eingestellt." Selbst das Reichssportblatt gab zu: "Heute erklärt die Fußballfachwelt eher die Schweizer zum Favoriten." Zwei Tage vor Turnierstart erlaubt die FIFA die Teilnahme des eingebürgerten gebürtigen Russen Eugen Walascek.

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Spielbericht:

Herberger verkündet die Aufstellung nach dem Mittagessen. Es formiert sich an diesem Samstag zwangsläufig eine Elf, die noch nie miteinander gespielt hat. Prominentestes Opfer der Zwangsaufnahme von fünf Wienern ist Schalkes Kapitän Fritz Szepan. 27.000 Zuschauer füllen den Prinzen-Park bei Gluthitze restlos, für die Anhänger beider Teams ist der Weg nicht allzu weit. Es ist das erste Achtelfinale und somit das Eröffnungsspiel der WM 1938. Wegen Hitlers unverhohlener Expansionspolitik schlägt den Deutschen und ihren rund 2000 Anhängern starke Abneigung entgegen, die schon am Bahnhof zu unschönen Szenen führt. Im Stadion geht es weiter.

Lehner erinnert sich: "Zu der sommerlichen Hitze kam die politische Erhitzung der Gemüter, die sich schon zu Beginn durch grelle Fingerpfiffe Luft machte. Kein Zweifel, das Publikum hatten wir zum größten Teil gegen uns." Tomaten, Eier und sogar Flaschen werden beim Einlaufen auf die deutsche Elf geworfen. Bei der Hymne (dem Horst-Wessel-Lied) gibt es ein wüstes Pfeifkonzert. Und von Anfang an dominieren die "Hopp Schwyz"-Rufe im weiten Rund. Was den guten deutschen Start nicht verhindern kann. Schnelle Kombinationen bringen die Schweizer Abwehr ins Schwitzen und nach 26 Minuten fällt das erste Tor.

Es ist, als wäre es am Reißbrett entworfen worden: der Deutsche Gellesch (Schalke) bedient den Österreicher Hahnemann (Admira Wien), der zu Landsmann Johann Pesser (Rapid Wien) und der zum deutschen Mittelstürmer Josef Gauchel (TuS Neuendorf) – Schuss und Tor. Mehrmals wird das 2:0 vergeben, was sich rächt. Der von Kitzinger zuvor hart attackierte André Abegglen nutzt freistehend per Kopf die Ausgleichschance (43.), nachdem Rudolf Raftl unter einer Flanke hindurch segelt. Der Pausenstand schmeichelt den Schweizern, die in der zweiten Hälfte plötzlich aufkommen und mehr vom Spiel haben. Aber sie haben auch Glück, als Hahnemann nach einem Foul im Strafraum der Elfmeter versagt wird, Schiedsrichter Langenus gibt Freistoß von der 16-Meter-Linie (61.).

Tore fallen nicht mehr, Treffer gibt es in der ersten Verlängerung der deutschen WM-Historie umso mehr – der anderen Art. Die Partie wird zunehmend härter, der belgische Referee lässt viel durchgehen. Albin Kitzinger verletzt sich am Knöchel, bleibt minutenlang draußen und wird dann als humpelnder Statist auf Rechtsaußen abgestellt, Lehner rückt auf Halbrechts und verdrängt Gellesch auf Kitzingers Läuferposten. Die Hitze, die Umstellungen und das feindselige Klima – und dann auch noch der erste Platzverweis der DFB-Historie bei einer WM für den Wiener Johann Pesser, der sich bei Minelli für eine Serie von Fouls mit einem Tritt ans Schienbein revanchiert (113.): Deutschland sehnt den Abpfiff herbei. Lehner schreibt: "…so daß wir nur einen Wunsch hatten, gleichgültig wie, für diesen Tag zu Ende zu kommen." (Aus: Mit dem Lederball quer durch Europa) Pesser wird beim Verlassen des Platzes mit Obst, Gemüse und Steinen beworfen. Lehners Kapitelüberschrift in seinen Memoiren trägt nicht zuletzt deshalb die Überschrift: "Die Hölle vom Prinzenpark."

Aufstellung: Raftl – Janes, Schmaus – Kupfer, Mock, Kitzinger – Gellesch, Hahnemann – Lehner, Gauchel, Pesser.

Tore: 1:0 Gauchel (28.), 1:1 A. Abegglen (43.).

Zuschauer: 27.000

Platzverweis: Pesser (113.).

Stimmen zum Spiel:

"Es war ein Schlachten, kein ritterlicher Sportkampf mehr. Es ist nicht zweifelhaft, daß die Schweizer diesen Ton in das Spiel hineintrugen und Meister des versteckten Fouls waren…" (Hamburger Anzeiger)

"Kupfer und Kitzinger überragten. Die Verletzung des letzteren hat vielleicht Deutschland um die letzte Chance gebracht, den Sieg an sich zu reißen." (Fußball)

"Wir sind noch mit einem blauen Auge davongekommen, und es würde uns nicht schmerzen, wenn nicht die Hinausstellung von Pesser passiert wäre, so aber sind die Erkenntnisse, die wir in Paris gewinnen mußten, bitter gewürzt…Die Wiener Trumpfkarte sticht nicht bedingungslos…Unser Sturm hat im ganzen Jahr 1938 noch kein befriedigendes Spiel zusammengebracht, das von Paris gegen die Schweiz aber war eins seiner schwächsten und drucklosesten seit langem!" (Fußball Woche)

"Es war eine außerordentlich harte Belastungsprobe, die das Wort vom völkerverbindenden Sport als hohle Phrase erscheinen und die das in sportlichen Konkurrenzen schlummernden Gefahrenmoment plastisch hervortreten zu lassen geeignet ist." (Neue Züricher Zeitung)

"Eine schlecht gelötete Elf, die deutsche." (France Soir)

Albin Kitzinger (1961): "Die Atmosphäre war alles andere als freundlich. Schon vor der Hinausstellung von Pesser glich der Prinzenpark einem Hexenkessel. Pesser wurde auf dem Weg in die Kabinen mit faulem Obst, Tomaten und Eiern beworfen."

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