0:0 gegen Italien: Herberger-Plan geht auf

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

31. Mai in Santiago de Chile - erstes WM-Gruppenspiel in Chile: Deutschland - Italien 0:0

Vor dem Spiel:

Am 19. Mai 1962 flog die Nationalmannschaft von Frankfurt erstmals zu einem WM-Turnier auf einem anderen Kontinent. Die weiteren Stationen: Zürich, Dakar, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Buenos Aires, Santiago. Fünfmal umsteigen binnen 17 Stunden für eine 14.000-Kilometer-Reise. Noch immer war Sepp Herberger Bundestrainer, für ihn war es schon die vierte WM.

Da konnte im Kader keiner mithalten. Hans Schäfer und Herbert Erhardt kamen auf drei Turniere. Schäfer war zwar 1959 zurückgetreten, gab aber Herbergers Drängen kurz vor der WM nach und wurde mit der Kapitänsbinde belohnt. Wie erst nach der WM herauskam, wollte der Bundestrainer sogar den 41-jährigen Fritz Walter reaktivieren, was kein gutes Zeichen war. Zwar hatte die Nationalmannschaft die Qualifikation ohne Punktverlust überstanden, aber im internationalen Vergleich hinkte sie hinterher - auch weil die Bundesliga immer noch nicht gegründet war, während der Rest der Welt schon lange Profiligen hatte. Herberger klagte: "Wir haben keine starke Mannschaft, wir sind Halbamateure." Einen Profi hatten sie doch, Horst Szymaniak spielte in Italien (Catania FC) und war der erste Legionär in einem WM-Aufgebot des DFB.

Es mangelte an Fixgrößen, für 15 Spieler war es die erste WM-Teilnahme. Uwe Seeler schilderte die Situation in seinen Memoiren so: "Die Stimmung war vom Start weg gedämpft. Herberger wusste genau um unsere Schwächen. Horst Szymaniak war mit dem Spielaufbau im Mittelfeld überfordert. Die Abwehr um den Fürther Herbert Erhardt, meinem Mannschaftskameraden Jürgen Werner, um Willi Giesemann, Hansi Sturm aus Köln und Karl-Heinz Schnellinger aus Düren (spielte damals aber schon für den 1. FC Köln, d. Red.) war gut, aber nicht sehr gut. Und im Sturm? Ich war bei diesem Turnier leider nur Durchschnitt." 

Uwe Seeler war immerhin gesetzt, ebenso wie Helmut Haller, Hans Schäfer und Albert Brülls. Doch wer sollte Rechtsaußen spielen? Der kicker rechnete in seiner letzten Ausgabe vor dem Spiel mit Schalkes Willi Koslowski, doch Kölns Hansi Sturm erhielt den Vorzug. Die eigentliche Sensation jedoch: Im Tor setzte Herberger spontan auf den Elan der Jugend und überraschte die Fachwelt mit einem Wechsel. Am Tag vor seinem 21. Geburtstag wurde der in der 2. Liga Süd spielende Wolfgang Fahrian (TSG Ulm) zur Nummer eins befördert, er löste Hans Tilkowski ab. Sein WM-Debüt am Geburtstag war erst sein zweites Länderspiel. Fahrian rückblickend: "Kurz davor galt ich noch als Dorffußballer, und plötzlich stand ich bei allen WM-Spielen im Tor."

Tilkowski verdaute das nur schwer, floh aus der Mannschaftssitzung und trat im Zimmer einen Stuhl gegen die Wand. Er behandelte Herberger fortan wie Luft, das Letzte, was er in Chile zu ihm sagte, war: "Ich spiele nie mehr für Deutschland." Dann verlangte er (vergebens) seinen Reisepass samt Rückflugticket. So herrschte schon vor dem ersten Spiel keine ungetrübte Stimmung im deutschen Quartier in einer Militärschule der Hauptstadt. Auch wenn Herbert Erhardt in seiner Sport Magazin-Kolumne noch auf heile Welt machte: "Alle äußeren Umstände sprechen für ein gutes Abschneiden."

Gegen die Italiener war die Bilanz verheerend (zwei Siege, ein Remis, acht Niederlagen), nun ging es erstmals um Punkte. Sie waren in jenen Tagen für ihren Catenaccio (Defensivfußball) gefürchtet - und für ihre Mätzchen. So bereitete Sepp Herberger Stopper Willi Schulz mit diesen Worten auf Omar Sivori, 1961 Europas Fußballer des Jahres, vor: "Wenn die Südländer freundlich werden, dann sind sie gefährlich." Auch sei mit Handkantenschlägen gegen Hals und Kehlkopf und Spuckattacken zu rechnen. Der kicker aber fragte trotzig: "Warum Italien fürchten?" Da auch Gastgeber Chile in der schweren Gruppe war, durfte sich keiner einen Ausrutscher leisten.

Das Fernsehen übertrug nicht live, ohne Satelliten war es technisch noch nicht möglich. Die Filme des für die WM zuständigen Südwestfunks wurden erst per Flugzeug gen Europa geschickt, erst zwei Tage nach dem Spiel wurde die Aufzeichnung gesendet. Da war das Ergebnis längst bekannt.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

31. Mai in Santiago de Chile - erstes WM-Gruppenspiel in Chile: Deutschland - Italien 0:0

Vor dem Spiel:

Am 19. Mai 1962 flog die Nationalmannschaft von Frankfurt erstmals zu einem WM-Turnier auf einem anderen Kontinent. Die weiteren Stationen: Zürich, Dakar, Rio de Janeiro, Sao Paulo, Buenos Aires, Santiago. Fünfmal umsteigen binnen 17 Stunden für eine 14.000-Kilometer-Reise. Noch immer war Sepp Herberger Bundestrainer, für ihn war es schon die vierte WM.

Da konnte im Kader keiner mithalten. Hans Schäfer und Herbert Erhardt kamen auf drei Turniere. Schäfer war zwar 1959 zurückgetreten, gab aber Herbergers Drängen kurz vor der WM nach und wurde mit der Kapitänsbinde belohnt. Wie erst nach der WM herauskam, wollte der Bundestrainer sogar den 41-jährigen Fritz Walter reaktivieren, was kein gutes Zeichen war. Zwar hatte die Nationalmannschaft die Qualifikation ohne Punktverlust überstanden, aber im internationalen Vergleich hinkte sie hinterher - auch weil die Bundesliga immer noch nicht gegründet war, während der Rest der Welt schon lange Profiligen hatte. Herberger klagte: "Wir haben keine starke Mannschaft, wir sind Halbamateure." Einen Profi hatten sie doch, Horst Szymaniak spielte in Italien (Catania FC) und war der erste Legionär in einem WM-Aufgebot des DFB.

Es mangelte an Fixgrößen, für 15 Spieler war es die erste WM-Teilnahme. Uwe Seeler schilderte die Situation in seinen Memoiren so: "Die Stimmung war vom Start weg gedämpft. Herberger wusste genau um unsere Schwächen. Horst Szymaniak war mit dem Spielaufbau im Mittelfeld überfordert. Die Abwehr um den Fürther Herbert Erhardt, meinem Mannschaftskameraden Jürgen Werner, um Willi Giesemann, Hansi Sturm aus Köln und Karl-Heinz Schnellinger aus Düren (spielte damals aber schon für den 1. FC Köln, d. Red.) war gut, aber nicht sehr gut. Und im Sturm? Ich war bei diesem Turnier leider nur Durchschnitt." 

Uwe Seeler war immerhin gesetzt, ebenso wie Helmut Haller, Hans Schäfer und Albert Brülls. Doch wer sollte Rechtsaußen spielen? Der kicker rechnete in seiner letzten Ausgabe vor dem Spiel mit Schalkes Willi Koslowski, doch Kölns Hansi Sturm erhielt den Vorzug. Die eigentliche Sensation jedoch: Im Tor setzte Herberger spontan auf den Elan der Jugend und überraschte die Fachwelt mit einem Wechsel. Am Tag vor seinem 21. Geburtstag wurde der in der 2. Liga Süd spielende Wolfgang Fahrian (TSG Ulm) zur Nummer eins befördert, er löste Hans Tilkowski ab. Sein WM-Debüt am Geburtstag war erst sein zweites Länderspiel. Fahrian rückblickend: "Kurz davor galt ich noch als Dorffußballer, und plötzlich stand ich bei allen WM-Spielen im Tor."

Tilkowski verdaute das nur schwer, floh aus der Mannschaftssitzung und trat im Zimmer einen Stuhl gegen die Wand. Er behandelte Herberger fortan wie Luft, das Letzte, was er in Chile zu ihm sagte, war: "Ich spiele nie mehr für Deutschland." Dann verlangte er (vergebens) seinen Reisepass samt Rückflugticket. So herrschte schon vor dem ersten Spiel keine ungetrübte Stimmung im deutschen Quartier in einer Militärschule der Hauptstadt. Auch wenn Herbert Erhardt in seiner Sport Magazin-Kolumne noch auf heile Welt machte: "Alle äußeren Umstände sprechen für ein gutes Abschneiden."

Gegen die Italiener war die Bilanz verheerend (zwei Siege, ein Remis, acht Niederlagen), nun ging es erstmals um Punkte. Sie waren in jenen Tagen für ihren Catenaccio (Defensivfußball) gefürchtet - und für ihre Mätzchen. So bereitete Sepp Herberger Stopper Willi Schulz mit diesen Worten auf Omar Sivori, 1961 Europas Fußballer des Jahres, vor: "Wenn die Südländer freundlich werden, dann sind sie gefährlich." Auch sei mit Handkantenschlägen gegen Hals und Kehlkopf und Spuckattacken zu rechnen. Der kicker aber fragte trotzig: "Warum Italien fürchten?" Da auch Gastgeber Chile in der schweren Gruppe war, durfte sich keiner einen Ausrutscher leisten.

Das Fernsehen übertrug nicht live, ohne Satelliten war es technisch noch nicht möglich. Die Filme des für die WM zuständigen Südwestfunks wurden erst per Flugzeug gen Europa geschickt, erst zwei Tage nach dem Spiel wurde die Aufzeichnung gesendet. Da war das Ergebnis längst bekannt.

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Herberger: "Ziel und Aufgabe: zu null"

Spielbericht:

Dass die Europäer im südamerikanischen Winter angekommen sind, merken sie gleich beim ersten Spiel. Das Wetter schlägt um. Weg ist die feuchte Schwüle, nur acht Grad zeigt das Thermometer, es regnet. Die Chilenen hält es nicht vom Stadionbesuch ab, immerhin 65.440 Zuschauer füllen offiziell das Nationalstadion zu 85 Prozent, auch wenn in der Presse nur von 40.000 die Rede ist. Anpfiff ist um 15 Uhr Ortszeit. Schon um 14.30 Uhr werden die Hymnen gespielt, ohne die Mannschaften. Das Publikum ist auf deutscher Seite, weil es gegen Italien ist - aufgrund einiger geschmackloser Artikel in der italienischen Presse über den WM-Gastgeber. Da helfen auch die Blumen nichts, die die Spieler ins Publikum werfen. Die deutschen Rundfunkanstalten übertragen geschlossen ab 19.55 Uhr, man ist Chile fünf Stunden voraus.

Beide Mannschaften spielen im defensiven 4-2-4-System. In jedem deutschen Mannschaftsteil ist ein Spieler des Deutschen Meisters 1. FC Köln, der die größte Fraktion im Kader stellt. In Herbergers Notizen zu diesem Spiel steht: "Ziel und Aufgabe: zu null!" Und so wird es das erwartet ereignisarme, aber hart umkämpfte Spiel, an dem nur Fachleute seine Freude haben.

Die erste Chance bietet sich dem Gladbacher Albert Brülls, der Torwart Lorenzo Buffon schon ausgespielt hat, aber Cesare Maldini rettet zur Ecke. In der zwölften Minute setzt Uwe Seeler einen Freistoß im zweiten Versuch an die Latte, zehn Minuten später hat er Pech mit einem Kopfball. Und Italien? Wolfgang Fahrian lässt einen Schuss von Gianni Rivera prallen, Omar Sivoris Nachschuss zischt vorbei. Altafini, der 1958 noch unter dem Namen Mazzola für Brasilien gespielt hat, findet in Erhardt seinen Meister und fällt durch einige harte Fouls auf, doch der schottische Referee belässt es bei Ermahnungen und ahndet auch ein Foul an Haller im Strafraum nicht. Was dazu führt, dass es nach der Pause noch mehr Fouls gibt.

Nur ein Haller-Volleyschuss nach Schäfers Flanke, ein etwas zu hoher Schäfer-Schuss und ein Kopfball des Kapitäns schaffen es auf deutscher Seite noch auf den Chancenzettel der Reporter. Fahrian wird noch einige Male von Altafini und Rivera beschäftigt und agiert "unerhört sicher" (kicker). Mehr lässt die Abwehr um den von Herberger ausdrücklich gelobten Schnellinger ("Er spielte großartig") nicht zu. Richtig gefährlich ist keine Mannschaft mehr an diesem Nachmittag, das torlose Remis nur folgerichtig. Gewinner sind die Abwehrreihen, bezeichnend für den weiteren Verlauf des Turniers.

Aufstellung: Fahrian – Nowak, Erhardt, Schnellinger – Schulz, Szymaniak – Haller, Schäfer – Sturm, Seeler, Brülls.

Zuschauer: 65.440 in Santiago de Chile.

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"Am Schluss waren alle 22 wieder Freunde"

Stimmen zum Spiel:

Sepp Herberger: "Es war unser schwerstes Länderspiel seit Jahren. Wir konnten es uns nicht leisten, mit einer anderen Abwehrtaktik zu spielen, sonst wäre es vielleicht böse ausgegangen. Ein bisschen Glück, und wir hätten 1:0 oder 2:0 gewonnen. Aber wir sind auch so zufrieden."

Helmut Haller: "Es war ein gnadenloser Kampf, die Härte wurde übertrieben. Von unserer Seite war es ein Spiel der verpassten Gelegenheiten."

Karl-Heinz Schnellinger: "Ein Erfolg der ganzen Mannschaft. Was die Italiener ins Spiel brachten, war nicht nur Härte. Das Theater, das sie aufführten, darf man nicht zu ernst nehmen. Sie sind halt nun mal so."

Horst Szymaniak: "Ich war von dieser Härte und auch von dieser Unfairness nicht überrascht. Die Italiener vertragen es einfach nicht, wenn sie hart markiert werden."

Herbert Erhardt: "Das 46. war mein schwerstes Länderspiel. Dieser Sturm war der gefährlichste, gegen den ich je gespielt habe. Beim Schlusspfiff reichten wir uns die Hände, alle 22 waren wieder Freunde. So sollte es immer sein."

Sir Stanley Rous (FIFA-Präsident): "Das war brillanter Fußball, aber es gab zu viele Fouls."

Karl Rappan (Trainer der Schweiz): "Deutschland gegen Italien war eine der rohesten Schlachten, die ich in meiner bewegten Laufbahn erlebt habe."

"Das heutige Spiel übertraf an spielerischer Rasse, am Reichtum seiner Einzelszenen, vor allem aber an taktischer Raffinesse eindeutig das Eröffnungsspiel vom Tage vorher." (kicker)

"Die angenehmste Überraschung dieser nervenaufreibenden 90 Minuten war unser Abwehr-Bollwerk. Geburtstagskind Fahrian unterlief nur ein Fehler." (Sport Magazin)

"Die deutsche Mannschaft fand nicht in ihr gewohntes Spiel. Sie wurde offensichtlich mit der taktischen Anweisung Herbergers nicht fertig, der den Kölner Hans Sturm als Rechtsaußen nominiert hatte, ihn aber zusammen mit Schnellinger als letzten deutschen Prellbock in der Abwehr stehen ließ... So blieb der praktisch nur aus vier Stürmern bestehende Angriff ohne jede Wirkung." (FAZ)

"Wir haben einen überaus harten Kampf auf schwerem Boden gesehen, einen der härtesten der letzten Jahre... Dem Schiedsrichter gelang es gerade noch, einen drohenden Skandal zu verhindern." (La Stampa/Turin)

"Es war eine harte Schlacht, aber es war auch eine verpasste Gelegenheit. Das 0:0, das wir am Vortage gerne in Kauf genommen hätten, war aber nach dem Spiel, so wie die Dinge liefen, eine Ungerechtigkeit." (Tuttosport/Turin)

"Wir glauben, dass die Deutschen einen großen Fehler begingen, indem sie Haller zurückzogen und so ihren besten Torschützen opferten." (Gazzetta dello Sport/Mailand)

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