Julia Hirsch: "Es ist und bleibt wichtig, immer wieder zu erinnern"

Mit dem Julius Hirsch Preis erinnert der Deutsche Fußball-Bund (DFB) alljährlich an den deutsch-jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch, der den Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Seine Urenkelin Julia Hirsch ist bei der Preisverleihung Teil der Jury. Im DFB.de-Interview spricht die 27 Jahre alte Diplomjuristin anlässlich des heutigen "Erinnerungstages im deutschen Fußball" über ihren Urgroßvater und den nach ihm benannten Preis. Außerdem erklärt sie, warum Erinnern weiterhin wichtig ist.

DFB.de: Frau Hirsch, heute am Erinnerungstag wird bundesweit den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Ihr Urgroßvater Julius Hirsch war eines dieser Opfer. Wie begehen Sie den heutigen Tag?

Julia Hirsch: Ein besonderes Ritual gibt es bei uns nicht. Mir fällt am Erinnerungstag immer wieder auf, wie wichtig Erinnerung ist. Man sollte sich an diesem Tag bewusst machen, dass wir in einer vergleichsweise guten Zeit leben. Sowohl meine eigene Generation als auch die Generation meiner Eltern haben keinen Krieg miterleben müssen. Genauso macht der Erinnerungstag aber deutlich, dass weiterhin viel zu tun ist. Man hört immer häufiger, dass man es jetzt doch mal gut sein lassen solle mit dem Erinnern. Das sehe ich ganz anders. Es ist und bleibt wichtig, immer wieder zu erinnern.

DFB.de: Bekannt ist heute vor allem der Fußballer Julius Hirsch, er war Deutscher Meister und Nationalspieler. Wie war der Mensch Julius Hirsch? Was wissen Sie aus den Erzählungen Ihrer Familie?

Hirsch: Er hatte viele gute Eigenschaften. Er war tüchtig, strebsam und stolz darauf, Deutscher zu sein - er hatte auch im Ersten Weltkrieg gedient. Außerdem war er ein großer Familienmensch, hat seine Kinder sehr geliebt und war ein liebevoller Vater. Das zeigt auch die Tatsache, dass er sich scheiden ließ. Nicht etwa aus persönlichen Motiven, sondern um die Familie zu schützen.

DFB.de: Der 27. Januar 1945 war der Tag, an dem das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau, wohin auch Julius Hirsch im März 1943 deportiert worden war, durch die Rote Armee befreit wurde. Haben Sie die heutige Gedenkstätte im polnischen Oświęcim mal besucht?

Hirsch: Nein, allerdings bin ich in zwei anderen ehemaligen Konzentrationslagern gewesen: in Dachau und in Terezín, dem damaligen Theresienstadt, wo zeitweise auch mein Großvater und meine Großtante untergebracht waren. Glücklicherweise wurden sie befreit. Dieser Besuch ist mir sehr eindrücklich im Gedächtnis geblieben. Auch, weil ich den jüdischen Namen "Hirsch" dort sehr häufig gelesen habe. Das zu ertragen, fällt einem, wenn man einen persönlichen Bezug hat, umso schwerer. Das würde mir in Oświęcim vermutlich genauso gehen.

DFB.de: Die Zeit des Nationalsozialismus liegt nun 77 Jahre zurück. Menschen, die aus dieser Zeit berichten können, gibt es immer weniger. Wie kann es gelingen, dass die Erinnerung an Schicksale wie das Ihres Urgroßvaters aufrechterhalten wird? Und wie wichtig ist das?

Hirsch: Ich sehe das als sehr wichtig an. Das kann vor allem durch mediale Aufbereitung gelingen. Und die gibt es ja bereits: Zeitzeugengespräche werden digitalisiert, persönliche Geschichten werden beispielsweise auf Instagram nacherzählt. Da wird schon sehr viel Gutes gemacht und ich denke, dass das der richtige Weg ist: neue Kanäle finden und dort niederschwellige Angebote schaffen, um die jungen, nachkommenden Generationen zu erreichen und sie immer wieder auf dieses Thema aufmerksam zu machen.

DFB.de: Der Julius Hirsch Preis ist auch ein Projekt, das die Erinnerung aufrechterhält. Sie sind – gemeinsam mit Ihrem Onkel Andreas Hirsch – Teil der Jury. Eine besondere Form für Sie, das Familienerbe weiterzutragen?

Hirsch: Den Begriff "Familienerbe" würde ich nicht verwenden. Der DFB hätte sich genauso gut für die Geschichte von Gottfried Fuchs, wie Julius Hirsch ehemaliger deutscher Nationalspieler jüdischer Herkunft, entscheiden können, als es darum ging, diesen Preis zu schaffen. Ich sehe es eher als Zufall an, dass ich in diese Familie hineingeboren wurde. Entscheidend ist, was man daraus macht. Schon als Kind war ich bei den Preisverleihungen dabei, in den vergangenen Jahren habe ich mich nun dazu entschlossen, den Preis aktiv mitzugestalten und ehrenamtlich als Jurymitglied tätig zu werden. Ich empfinde diese Aufgabe als Chance, um Dinge weiterzuentwickeln – auch wenn sie mit einem Zufall verbunden ist.

DFB.de: Dennoch haben Sie sicherlich eine andere Perspektive als die anderen Jurymitglieder. Worauf achten Sie? Welche Projekte liegen Ihnen am Herzen?

Hirsch: Natürlich ist es wichtig, dass der Fokus weiterhin auf Projekten, die sich gegen Antisemitismus stark machen, liegt. Mir ist es aber genauso wichtig, ein umfassendes Engagement, das sich mit unterschiedlichen Formen von Diskriminierungen auseinandersetzt, zu würdigen – seien es Rassismus oder Homophobie. Zuletzt haben wir mit DISCOVER FOOTBALL und HAWAR.help e.V. zwei großartige Projekte im Bereich Frauen- und Mädchenfußball ausgezeichnet. So eine Arbeit zu ehren, liegt mir persönlich am Herzen.

DFB.de: Warum kann der Fußball im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung Antreiber und Vorbild sein?

Hirsch: Der Fußball begeistert und bewegt die Massen. Und das durch alle Gesellschaftsschichten hindurch: Die Bänkerin geht gern ins Stadion, genauso wie der Bäckereifachverkäufer – durch den Fußball treffen sie sich. Dazu die besondere Fankultur, die es in kaum einer anderen Sportart gibt. Dass dieser Sport so eine verbindende Kraft hat, ist wunderschön. Fußballer sind dadurch große Vorbilder. Als Manuel Neuer bei der EM im vergangenen Jahr bei jedem Spiel die Kapitänsbinde in Regenbogenfarben getragen hat, hat er ein starkes Zeichen gegen Diskriminierung gesetzt, das überall zu sehen war.

DFB.de: Bei der Verleihung des Julius Hirsch Preises 2021 sagten Sie: "Die größte Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland kommt von rechts." Was genau bereitet Ihnen Sorge?

Hirsch: Einerseits belegen das statistische Zahlen. Andererseits ist es auch daran erkennbar, wie sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU in den vergangenen sieben bis acht Jahren die Parteienströmungen entwickelt haben. In vielen europäischen Ländern sind rechte Parteien hinzugekommen, die unter dem Deckmantel des Bürgertums versuchen, Menschen für sich zu gewinnen – und es hat offensichtlich funktioniert. Auch im Zuge von Corona macht es sich bemerkbar: Es ist wichtig, Maßnahmen zu kritisieren und dagegen demonstrieren zu können, aber vielen Leuten scheint es egal zu sein, dass sie das neben Neonazis und Rechtspopulisten tun und deren Haltung damit tolerieren.

DFB.de: Wie kann dieser Entwicklung entgegengewirkt werden? Und welche Rolle kann der Fußball dabei spielen?

Hirsch: Der Fußball sollte mit gutem Beispiel vorangehen und gleichzeitig versuchen, immer wieder auf Problemfelder aufmerksam zu machen. Ein entscheidender Beitrag kann durch Wissen und Wissensvermittlung geleistet werden. Mit Projekten in Schulen oder eben den Projekten, die wir mit dem Julius Hirsch Preis auszeichnen: Vereine oder Fanprojekte, die sich engagieren und große Arbeit im Kleinen leisten. Dieses Ehrenamt, auch abseits des Fußballs, zeichnet uns in Deutschland aus. Und das Wichtigste ist, im Gespräch zu bleiben. Auch mit Leuten, die vielleicht nicht der gleichen Meinung sind.

[ke]

Mit dem Julius Hirsch Preis erinnert der Deutsche Fußball-Bund (DFB) alljährlich an den deutsch-jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch, der den Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Seine Urenkelin Julia Hirsch ist bei der Preisverleihung Teil der Jury. Im DFB.de-Interview spricht die 27 Jahre alte Diplomjuristin anlässlich des heutigen "Erinnerungstages im deutschen Fußball" über ihren Urgroßvater und den nach ihm benannten Preis. Außerdem erklärt sie, warum Erinnern weiterhin wichtig ist.

DFB.de: Frau Hirsch, heute am Erinnerungstag wird bundesweit den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Ihr Urgroßvater Julius Hirsch war eines dieser Opfer. Wie begehen Sie den heutigen Tag?

Julia Hirsch: Ein besonderes Ritual gibt es bei uns nicht. Mir fällt am Erinnerungstag immer wieder auf, wie wichtig Erinnerung ist. Man sollte sich an diesem Tag bewusst machen, dass wir in einer vergleichsweise guten Zeit leben. Sowohl meine eigene Generation als auch die Generation meiner Eltern haben keinen Krieg miterleben müssen. Genauso macht der Erinnerungstag aber deutlich, dass weiterhin viel zu tun ist. Man hört immer häufiger, dass man es jetzt doch mal gut sein lassen solle mit dem Erinnern. Das sehe ich ganz anders. Es ist und bleibt wichtig, immer wieder zu erinnern.

DFB.de: Bekannt ist heute vor allem der Fußballer Julius Hirsch, er war Deutscher Meister und Nationalspieler. Wie war der Mensch Julius Hirsch? Was wissen Sie aus den Erzählungen Ihrer Familie?

Hirsch: Er hatte viele gute Eigenschaften. Er war tüchtig, strebsam und stolz darauf, Deutscher zu sein - er hatte auch im Ersten Weltkrieg gedient. Außerdem war er ein großer Familienmensch, hat seine Kinder sehr geliebt und war ein liebevoller Vater. Das zeigt auch die Tatsache, dass er sich scheiden ließ. Nicht etwa aus persönlichen Motiven, sondern um die Familie zu schützen.

DFB.de: Der 27. Januar 1945 war der Tag, an dem das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau, wohin auch Julius Hirsch im März 1943 deportiert worden war, durch die Rote Armee befreit wurde. Haben Sie die heutige Gedenkstätte im polnischen Oświęcim mal besucht?

Hirsch: Nein, allerdings bin ich in zwei anderen ehemaligen Konzentrationslagern gewesen: in Dachau und in Terezín, dem damaligen Theresienstadt, wo zeitweise auch mein Großvater und meine Großtante untergebracht waren. Glücklicherweise wurden sie befreit. Dieser Besuch ist mir sehr eindrücklich im Gedächtnis geblieben. Auch, weil ich den jüdischen Namen "Hirsch" dort sehr häufig gelesen habe. Das zu ertragen, fällt einem, wenn man einen persönlichen Bezug hat, umso schwerer. Das würde mir in Oświęcim vermutlich genauso gehen.

DFB.de: Die Zeit des Nationalsozialismus liegt nun 77 Jahre zurück. Menschen, die aus dieser Zeit berichten können, gibt es immer weniger. Wie kann es gelingen, dass die Erinnerung an Schicksale wie das Ihres Urgroßvaters aufrechterhalten wird? Und wie wichtig ist das?

Hirsch: Ich sehe das als sehr wichtig an. Das kann vor allem durch mediale Aufbereitung gelingen. Und die gibt es ja bereits: Zeitzeugengespräche werden digitalisiert, persönliche Geschichten werden beispielsweise auf Instagram nacherzählt. Da wird schon sehr viel Gutes gemacht und ich denke, dass das der richtige Weg ist: neue Kanäle finden und dort niederschwellige Angebote schaffen, um die jungen, nachkommenden Generationen zu erreichen und sie immer wieder auf dieses Thema aufmerksam zu machen.

DFB.de: Der Julius Hirsch Preis ist auch ein Projekt, das die Erinnerung aufrechterhält. Sie sind – gemeinsam mit Ihrem Onkel Andreas Hirsch – Teil der Jury. Eine besondere Form für Sie, das Familienerbe weiterzutragen?

Hirsch: Den Begriff "Familienerbe" würde ich nicht verwenden. Der DFB hätte sich genauso gut für die Geschichte von Gottfried Fuchs, wie Julius Hirsch ehemaliger deutscher Nationalspieler jüdischer Herkunft, entscheiden können, als es darum ging, diesen Preis zu schaffen. Ich sehe es eher als Zufall an, dass ich in diese Familie hineingeboren wurde. Entscheidend ist, was man daraus macht. Schon als Kind war ich bei den Preisverleihungen dabei, in den vergangenen Jahren habe ich mich nun dazu entschlossen, den Preis aktiv mitzugestalten und ehrenamtlich als Jurymitglied tätig zu werden. Ich empfinde diese Aufgabe als Chance, um Dinge weiterzuentwickeln – auch wenn sie mit einem Zufall verbunden ist.

DFB.de: Dennoch haben Sie sicherlich eine andere Perspektive als die anderen Jurymitglieder. Worauf achten Sie? Welche Projekte liegen Ihnen am Herzen?

Hirsch: Natürlich ist es wichtig, dass der Fokus weiterhin auf Projekten, die sich gegen Antisemitismus stark machen, liegt. Mir ist es aber genauso wichtig, ein umfassendes Engagement, das sich mit unterschiedlichen Formen von Diskriminierungen auseinandersetzt, zu würdigen – seien es Rassismus oder Homophobie. Zuletzt haben wir mit DISCOVER FOOTBALL und HAWAR.help e.V. zwei großartige Projekte im Bereich Frauen- und Mädchenfußball ausgezeichnet. So eine Arbeit zu ehren, liegt mir persönlich am Herzen.

DFB.de: Warum kann der Fußball im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung Antreiber und Vorbild sein?

Hirsch: Der Fußball begeistert und bewegt die Massen. Und das durch alle Gesellschaftsschichten hindurch: Die Bänkerin geht gern ins Stadion, genauso wie der Bäckereifachverkäufer – durch den Fußball treffen sie sich. Dazu die besondere Fankultur, die es in kaum einer anderen Sportart gibt. Dass dieser Sport so eine verbindende Kraft hat, ist wunderschön. Fußballer sind dadurch große Vorbilder. Als Manuel Neuer bei der EM im vergangenen Jahr bei jedem Spiel die Kapitänsbinde in Regenbogenfarben getragen hat, hat er ein starkes Zeichen gegen Diskriminierung gesetzt, das überall zu sehen war.

DFB.de: Bei der Verleihung des Julius Hirsch Preises 2021 sagten Sie: "Die größte Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland kommt von rechts." Was genau bereitet Ihnen Sorge?

Hirsch: Einerseits belegen das statistische Zahlen. Andererseits ist es auch daran erkennbar, wie sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU in den vergangenen sieben bis acht Jahren die Parteienströmungen entwickelt haben. In vielen europäischen Ländern sind rechte Parteien hinzugekommen, die unter dem Deckmantel des Bürgertums versuchen, Menschen für sich zu gewinnen – und es hat offensichtlich funktioniert. Auch im Zuge von Corona macht es sich bemerkbar: Es ist wichtig, Maßnahmen zu kritisieren und dagegen demonstrieren zu können, aber vielen Leuten scheint es egal zu sein, dass sie das neben Neonazis und Rechtspopulisten tun und deren Haltung damit tolerieren.

DFB.de: Wie kann dieser Entwicklung entgegengewirkt werden? Und welche Rolle kann der Fußball dabei spielen?

Hirsch: Der Fußball sollte mit gutem Beispiel vorangehen und gleichzeitig versuchen, immer wieder auf Problemfelder aufmerksam zu machen. Ein entscheidender Beitrag kann durch Wissen und Wissensvermittlung geleistet werden. Mit Projekten in Schulen oder eben den Projekten, die wir mit dem Julius Hirsch Preis auszeichnen: Vereine oder Fanprojekte, die sich engagieren und große Arbeit im Kleinen leisten. Dieses Ehrenamt, auch abseits des Fußballs, zeichnet uns in Deutschland aus. Und das Wichtigste ist, im Gespräch zu bleiben. Auch mit Leuten, die vielleicht nicht der gleichen Meinung sind.

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