"Macht den Mund auf! Wehrt euch!"

Am heutigen 27. Januar 2021 jährt sich zum 76. Mal der Tag, an dem die Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit wurden. Auch die Fußballfamilie erinnert jedes Jahr anlässlich des "Erinnerungstages im deutschen Fußball" daran, dass Menschen aus ihren Reihen von den Nationalsozialist*innen verfolgt und ermordet wurden. Wir haben mit Eberhard Schulz von der Initiative ​"!Nie wieder" und Fan Club-Betreuer Andreas Erbel über Rassismus und Diskriminierung im Fußball gesprochen.

DFB.de: Herr Schulz, Sie sind Mitbegründer und Sprecher der Initiative ​!Nie wieder. In diesem Jahr gehen Sie in Ihre 17. Kampagne. Wie ist der Erinnerungstag im deutschen Fußball entstanden?

Eberhard Schulz: Anfang 2004 fiel mir im Sportteil der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Riccardo Pacifici auf, der am 27. Januar - dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - einen Aktions-Spieltag im italienischen Fußball unter dem Motto "Lasst uns nicht vergessen" ins Leben rief. Das war für mich Inspiration genug, um das Modell auch in Deutschland umzusetzen. Wo denn sonst als im Land der Täter? Ein Jahr später – 60 Jahre nach Kriegsende - gab es in Deutschland den ersten Erinnerungstag im deutschen Fußball.

DFB.de: Herr Erbel, Sie sind Betreuer im Fan Club Nationalmannschaft für die Mitglieder im Raum München und haben Herrn Schulz zum ersten Mal in Frankfurt bei einem Betreuertreffen kennengelernt, zu dem er als Gastredner eingeladen war. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?

Andreas Erbel: Ich finde es beeindruckend, wie begeisternd und mit wie viel Leidenschaft Eberhard sich für die Erinnerungskultur in Deutschland einsetzt. Aber gleichzeitig bin ich fast ein bisschen froh, dass er die Idee nur kopiert hat. Das macht ihn bei all seinem Engagement etwas menschlicher. (lacht)

Schulz: Und ich bin unglaublich froh, dass der Ursprung aus Italien kommt. Das symbolisiert den europäischen Gedanken bei der Aktion. !Nie wieder ist ein europäisches Projekt.

Erbel: Die kleinen Gruppen, die den Fußball als ihre Bühne missbrauchen, um ihre rechte Gesinnung nach außen zu kehren, sind leider häufig sehr laut. Deshalb finde ich an !Nie wieder und speziell an dir Eberhard so gut, dass ihr da engagiert seid und verdeutlicht, dass die anderen auch aufstehen müssen, Farbe bekennen und klar sagen, dass soetwas nirgendwo auf der Welt etwas zu suchen hat. Speziell nicht in Deutschland und schon gar nicht in unseren Fußballstadien.

DFB.de: Herr Schulz, warum haben Sie den Kontakt zu den Betreuern im Fan Club Nationalmannschaft gesucht?

Schulz: Der Anlass waren die Geschehnisse 2014 bei der EM-Qualifikation gegen Polen in Warschau und 2017 beim WM-Qualifikationsspiel gegen die Tschechische Republik in Prag.

DFB.de: Was ist dort vorgefallen?

Schulz: In Polen war ich dabei, als eine Gruppe aus dem deutschen Block die sanitären Anlagen komplett demoliert hat. In Prag gab es aggressive, antisemitische Attacken in Form von Worten und dem Hitlergruß. In beiden Fällen habe ich mich gefragt, warum es gegen solche Leute keinen Widerstand gibt.

Erbel: Zu den Geschehnissen in Prag muss man allerdings hinzufügen, dass es keine Zuschauer aus dem deutschen Block und somit auch keine Mitglieder des Fan Club Nationalmannschaft waren. Der Vorfall ereignete sich direkt neben dem Gästebereich. Es wirkte dann leider so, dass es aus der deutschen Kurve kam.

DFB.de: Wie waren die Reaktionen im deutschen Block?

Erbel: Es gab vereinzelt Pfiffe. Die Situation war beschämend und unangenehm.

Schulz: Ich denke, dieses Schamgefühl ist eine normale Reaktion, wenn man so etwas erlebt. Aber dann muss sich eine Form von Widerstand entwickeln.

DFB.de: Wie könnte soetwas aussehen?

Schulz: Wir müssen das Bewusstsein schaffen, dass Leute ihre Stimme erheben. In Form von Sprechchören und zustimmendem Klatschen zum Beispiel.

Erbel: Ich glaube, man muss da realistisch sein und kleine Schritte machen. Diese Leute strahlen ein derart großes Aggressionspotenzial aus, dass da natürlich auch Angst mitspielt, selbst eine gelangt zu bekommen. In Prag ist das vereinzelt auch leider vorgekommen. Das ist falscher Heldenmut.

DFB.de: Bei Länderspielen können sich Fans anonym oder personalisiert per SMS, WhatsApp oder telefonisch an das Fan-Telefon unter +49 151 16788 111 wenden, um Diskriminierungsvorfälle zu melden. Auch jeder DFB-Landesverband hat eine Anti-Diskriminierungsstelle eingerichtet.

Schulz: Das sind sehr gute Instrumente, wenn man in dieser emotional aufgeladenen Situation klar genug im Kopf ist, um daran zu denken.

Erbel: Bei den Vielfahrern kennt die Nummer vielleicht jeder Dritte. Fans, die nur gelegentlich bei Länderspielen sind, ist sie wahrscheinlich noch unbekannter. Da besteht auf jeden Fall noch Nachholbedarf. Je mehr Leute davon wissen, desto besser ist es.

DFB.de: So erging es wahrscheinlich auch Sportjournalist und Basketball-Experte André Voigt, der sich beim Serbien-Länderspiel im März 2019 in Wolfsburg emotional über rassistische Äußerungen auf den Rängen und das fehlende Eingreifen der übrigen Zuschauer*innen beschwerte.

Schulz: Das ist genau dieser Punkt, der uns von !Nie wieder und mir ganz wichtig ist: Manchmal muss man auch als Einzelner den Mund aufmachen. Man muss kein Märtyrer sein, aber grundsätzlich ist es wichtig, das Wort zu ergreifen. Wenn solche Situationen entstehen, sagt was! Zeigt Rückgrad! Das gilt in der U-Bahn natürlich genauso wie im Stadion. Zivilcourage ist ein bitter nötiges demokratisches Grundverhalten. Wehrt euch, wenn Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Erbel: Da bin ich bei Dir, Eberhard, aber da muss jeder situativ selbst entscheiden. Bevor es mir selbst an den Kragen geht, habe ich nicht den Mut, dahinzugehen und sie zurechtzuweisen. Umso wichtiger ist es, zu demonstrieren, dass die Mehrheit anderer Meinung ist.

DFB.de: Wie nur ein gutes halbes Jahr später beim Argentinien-Spiel in Dortmund, als ein Zuschauer die Schweigeminute für den antisemitischen Amoklauf in Halle mit dem Gesang der deutschen Nationalhymne störte. Nach wenigen Sekunden brüllte ein Fan lautstark: "Halt die Fresse!"  - was mit Applaus des Publikums belohnt wurde.

Erbel: Das ist genau das richtige Beispiel. Da sieht man auch, dass es funktionieren kann. Wir müssen wissen, dass 99 Prozent genauso denken. Deshalb halte ich Eberhards Arbeit auch für so wichtig.

Schulz: Das sind die grundsätzlichen Positionen, die wir vertreten müssen. Sonst funktioniert Gesellschaft nicht. Da stehen wir alle in der Verantwortung. Der Fußball ist da ein großartiges Lernfeld, um diese politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Werte zu vermitteln.

DFB.de: Zum Thema Prävention von Rassismus und einer würdigen Gedenkkultur haben Sie sich beide seit dem Betreuertreffen mehrfach wiedergesehen.

Erbel: Genau. Und mit der Unterstützung von !Nie wieder konnte ich daraufhin meinen zugeordneten Mitglieder*innen im vergangenen Sommer eine Führung durch die KZ-Gedenkstätte Dachau anbieten. Unter dem Aspekt Fußball und Sport wurden wir zweieinhalb Stunden durch das Gelände geführt.

DFB.de: Wie waren die Reaktionen?

Erbel: Alle waren sehr ergriffen. Corona-bedingt konnten nur 15 Leute dabei sein. Das Angebot war innerhalb weniger Tage ausgebucht. Die Nachfrage ist nach wie vor groß. Wenn es die Pandemie zulässt, versuchen wir während der Europameisterschaft mit unseren Heimspielen in München das Angebot zu erneuern.

Schulz: Das stimmt mich positiv. Ich bin sehr glücklich und froh, dass sich unser Kennenlernen so gut entwickelt hat und wir von !Nie wieder mit dem Fan Club Nationalmannschaft weiterhin in einem so guten und regen Austausch bleiben.

[jh]

Am heutigen 27. Januar 2021 jährt sich zum 76. Mal der Tag, an dem die Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit wurden. Auch die Fußballfamilie erinnert jedes Jahr anlässlich des "Erinnerungstages im deutschen Fußball" daran, dass Menschen aus ihren Reihen von den Nationalsozialist*innen verfolgt und ermordet wurden. Wir haben mit Eberhard Schulz von der Initiative ​"!Nie wieder" und Fan Club-Betreuer Andreas Erbel über Rassismus und Diskriminierung im Fußball gesprochen.

DFB.de: Herr Schulz, Sie sind Mitbegründer und Sprecher der Initiative ​!Nie wieder. In diesem Jahr gehen Sie in Ihre 17. Kampagne. Wie ist der Erinnerungstag im deutschen Fußball entstanden?

Eberhard Schulz: Anfang 2004 fiel mir im Sportteil der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Riccardo Pacifici auf, der am 27. Januar - dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - einen Aktions-Spieltag im italienischen Fußball unter dem Motto "Lasst uns nicht vergessen" ins Leben rief. Das war für mich Inspiration genug, um das Modell auch in Deutschland umzusetzen. Wo denn sonst als im Land der Täter? Ein Jahr später – 60 Jahre nach Kriegsende - gab es in Deutschland den ersten Erinnerungstag im deutschen Fußball.

DFB.de: Herr Erbel, Sie sind Betreuer im Fan Club Nationalmannschaft für die Mitglieder im Raum München und haben Herrn Schulz zum ersten Mal in Frankfurt bei einem Betreuertreffen kennengelernt, zu dem er als Gastredner eingeladen war. Was war Ihr erster Eindruck von ihm?

Andreas Erbel: Ich finde es beeindruckend, wie begeisternd und mit wie viel Leidenschaft Eberhard sich für die Erinnerungskultur in Deutschland einsetzt. Aber gleichzeitig bin ich fast ein bisschen froh, dass er die Idee nur kopiert hat. Das macht ihn bei all seinem Engagement etwas menschlicher. (lacht)

Schulz: Und ich bin unglaublich froh, dass der Ursprung aus Italien kommt. Das symbolisiert den europäischen Gedanken bei der Aktion. !Nie wieder ist ein europäisches Projekt.

Erbel: Die kleinen Gruppen, die den Fußball als ihre Bühne missbrauchen, um ihre rechte Gesinnung nach außen zu kehren, sind leider häufig sehr laut. Deshalb finde ich an !Nie wieder und speziell an dir Eberhard so gut, dass ihr da engagiert seid und verdeutlicht, dass die anderen auch aufstehen müssen, Farbe bekennen und klar sagen, dass soetwas nirgendwo auf der Welt etwas zu suchen hat. Speziell nicht in Deutschland und schon gar nicht in unseren Fußballstadien.

DFB.de: Herr Schulz, warum haben Sie den Kontakt zu den Betreuern im Fan Club Nationalmannschaft gesucht?

Schulz: Der Anlass waren die Geschehnisse 2014 bei der EM-Qualifikation gegen Polen in Warschau und 2017 beim WM-Qualifikationsspiel gegen die Tschechische Republik in Prag.

DFB.de: Was ist dort vorgefallen?

Schulz: In Polen war ich dabei, als eine Gruppe aus dem deutschen Block die sanitären Anlagen komplett demoliert hat. In Prag gab es aggressive, antisemitische Attacken in Form von Worten und dem Hitlergruß. In beiden Fällen habe ich mich gefragt, warum es gegen solche Leute keinen Widerstand gibt.

Erbel: Zu den Geschehnissen in Prag muss man allerdings hinzufügen, dass es keine Zuschauer aus dem deutschen Block und somit auch keine Mitglieder des Fan Club Nationalmannschaft waren. Der Vorfall ereignete sich direkt neben dem Gästebereich. Es wirkte dann leider so, dass es aus der deutschen Kurve kam.

DFB.de: Wie waren die Reaktionen im deutschen Block?

Erbel: Es gab vereinzelt Pfiffe. Die Situation war beschämend und unangenehm.

Schulz: Ich denke, dieses Schamgefühl ist eine normale Reaktion, wenn man so etwas erlebt. Aber dann muss sich eine Form von Widerstand entwickeln.

DFB.de: Wie könnte soetwas aussehen?

Schulz: Wir müssen das Bewusstsein schaffen, dass Leute ihre Stimme erheben. In Form von Sprechchören und zustimmendem Klatschen zum Beispiel.

Erbel: Ich glaube, man muss da realistisch sein und kleine Schritte machen. Diese Leute strahlen ein derart großes Aggressionspotenzial aus, dass da natürlich auch Angst mitspielt, selbst eine gelangt zu bekommen. In Prag ist das vereinzelt auch leider vorgekommen. Das ist falscher Heldenmut.

DFB.de: Bei Länderspielen können sich Fans anonym oder personalisiert per SMS, WhatsApp oder telefonisch an das Fan-Telefon unter +49 151 16788 111 wenden, um Diskriminierungsvorfälle zu melden. Auch jeder DFB-Landesverband hat eine Anti-Diskriminierungsstelle eingerichtet.

Schulz: Das sind sehr gute Instrumente, wenn man in dieser emotional aufgeladenen Situation klar genug im Kopf ist, um daran zu denken.

Erbel: Bei den Vielfahrern kennt die Nummer vielleicht jeder Dritte. Fans, die nur gelegentlich bei Länderspielen sind, ist sie wahrscheinlich noch unbekannter. Da besteht auf jeden Fall noch Nachholbedarf. Je mehr Leute davon wissen, desto besser ist es.

DFB.de: So erging es wahrscheinlich auch Sportjournalist und Basketball-Experte André Voigt, der sich beim Serbien-Länderspiel im März 2019 in Wolfsburg emotional über rassistische Äußerungen auf den Rängen und das fehlende Eingreifen der übrigen Zuschauer*innen beschwerte.

Schulz: Das ist genau dieser Punkt, der uns von !Nie wieder und mir ganz wichtig ist: Manchmal muss man auch als Einzelner den Mund aufmachen. Man muss kein Märtyrer sein, aber grundsätzlich ist es wichtig, das Wort zu ergreifen. Wenn solche Situationen entstehen, sagt was! Zeigt Rückgrad! Das gilt in der U-Bahn natürlich genauso wie im Stadion. Zivilcourage ist ein bitter nötiges demokratisches Grundverhalten. Wehrt euch, wenn Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Erbel: Da bin ich bei Dir, Eberhard, aber da muss jeder situativ selbst entscheiden. Bevor es mir selbst an den Kragen geht, habe ich nicht den Mut, dahinzugehen und sie zurechtzuweisen. Umso wichtiger ist es, zu demonstrieren, dass die Mehrheit anderer Meinung ist.

DFB.de: Wie nur ein gutes halbes Jahr später beim Argentinien-Spiel in Dortmund, als ein Zuschauer die Schweigeminute für den antisemitischen Amoklauf in Halle mit dem Gesang der deutschen Nationalhymne störte. Nach wenigen Sekunden brüllte ein Fan lautstark: "Halt die Fresse!"  - was mit Applaus des Publikums belohnt wurde.

Erbel: Das ist genau das richtige Beispiel. Da sieht man auch, dass es funktionieren kann. Wir müssen wissen, dass 99 Prozent genauso denken. Deshalb halte ich Eberhards Arbeit auch für so wichtig.

Schulz: Das sind die grundsätzlichen Positionen, die wir vertreten müssen. Sonst funktioniert Gesellschaft nicht. Da stehen wir alle in der Verantwortung. Der Fußball ist da ein großartiges Lernfeld, um diese politischen, gesellschaftlichen und menschlichen Werte zu vermitteln.

DFB.de: Zum Thema Prävention von Rassismus und einer würdigen Gedenkkultur haben Sie sich beide seit dem Betreuertreffen mehrfach wiedergesehen.

Erbel: Genau. Und mit der Unterstützung von !Nie wieder konnte ich daraufhin meinen zugeordneten Mitglieder*innen im vergangenen Sommer eine Führung durch die KZ-Gedenkstätte Dachau anbieten. Unter dem Aspekt Fußball und Sport wurden wir zweieinhalb Stunden durch das Gelände geführt.

DFB.de: Wie waren die Reaktionen?

Erbel: Alle waren sehr ergriffen. Corona-bedingt konnten nur 15 Leute dabei sein. Das Angebot war innerhalb weniger Tage ausgebucht. Die Nachfrage ist nach wie vor groß. Wenn es die Pandemie zulässt, versuchen wir während der Europameisterschaft mit unseren Heimspielen in München das Angebot zu erneuern.

Schulz: Das stimmt mich positiv. Ich bin sehr glücklich und froh, dass sich unser Kennenlernen so gut entwickelt hat und wir von !Nie wieder mit dem Fan Club Nationalmannschaft weiterhin in einem so guten und regen Austausch bleiben.

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