Weltklassestürmer und Spitzenfunktionär: Rummenigge wird 60

In der Rangliste der größten Bayern-Torjäger steht nur Gerd Müller vor ihm. In zehn Jahren schoss Karl-Heinz Rummenigge, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, 162 Bundesligatore, 30 im Europapokal und 25 im DFB-Pokal. Trotz des jüngsten Torhungers eines Robert Lewandowski muss "Kalle" Rummenigge nicht befürchten, so schnell überholt zu werden.

In der Nationalmannschaft kam er bei 95 Einsätzen zu 45 Toren, das reicht noch zu Platz sechs. Es wird ihn gewiss nicht kränken, dass ihn eine andere Zahl zu einem der wichtigsten Männer der Vereinsgeschichte der Bayern macht: 11,4 Millionen Mark zahlte Inter Mailand 1984 an die Münchner, die dadurch auf einen Schlag entschuldet waren. Der damalige Rekordtransfer eines Deutschen war für alle Seiten ein Gewinn, denn Rummenigge reifte in Italien zum Weltmann und bei Inter schwärmen sie noch heute vom blonden Deutschen.

Seine bemerkenswerte Karriere als Aktiver beendete er 1989 in ruhigeren Gefilden, bei Servette Genf. Um bald darauf eine ebenso erfolgreiche Laufbahn als Fußballentscheider einzuschlagen. Für DFB.de porträtiert der Autor und Historiker Udo Muras den einstigen "Fußballer Europas" und heutigen Spitzenfunktionär.

"Klein-Kalle" in Lippstadt: "Junge, du wirst mal einer"

Der Aufstieg des Karl-Heinz Rummenigge ist eine erstaunliche Geschichte. Wie so manch anderer Großer des deutschen Fußballs, etwa Gerd Müller oder Miroslav Klose, spielte er in der Jugend nie in einer DFB-Auswahl. Schon in der Kindheit musste er sich um Akzeptanz bemühen. Sein älterer Bruder nahm ihn zwar auf Drängen der Mutter mit zum Straßenkick, damals im westfälischen Lippstadt, aber dann ließen sie ihn nur zusehen. Er war ja erst vier. Als er zu Weinen begann, handelten sie mit "Klein-Kalle" einen Deal aus. Erst den Hof kehren, dann mitspielen. Die Schaufel war größer als er und das, was er da wegfegen musste, stank zum Himmel – Hundedreck. Aber er tat es und sie ließen ihn Zähne knirschend mitspielen. "Mit Fünf dribbelte ich fast schon alle aus. Oft machte ein älterer Herr das Fenster auf, nickte und brummte: 'Junge, du wirst mal einer.'"

Und was für einer er wurde. Mit sieben fing er im Verein bei Borussia Lippstadt an, mit acht war er schon Stadtgespräch. Denn als seine E-Jugend das Vorspiel zum Derby zwischen Teutonia und Borussia austrug, da sahen 5000 Menschen zu und sie sahen sechs Rummenigge-Tore. Vor einem Tor spielte er fünf Spieler aus, dann noch den Torwart. Dann legte er den Ball auf die Linie. Sekundenlang tat er nichts und verharrte, so wie einst die Gladiatoren im Kolosseum, wenn sie einen Gegner besiegt hatten und auf das Zeichen des Konsuls warteten, so wartete der Achtjährige auf einen Wink des Publikums. "Erst als die Zuschauer immer lauter schrien, habe ich die Kugel reingeschoben." Erste Frechheiten eines Hochbegabten. Ein vergleichbares Tor schoss er später für Bayern bei einem Turnier in Aachen. Damals stoppte er den Ball auf der Linie, dann köpfte er ihn ein.

Mit neun wurde er von der E- gleich in die C-Jugend befördert und stellte doch alle Größeren in den Schatten. Man zählte 96 Saisontore von ihm, in einem Spiel waren es 15. Nun ging es auf große Reise, die Westfalen-Auswahl fuhr nach England und Kalle mit. Erstmals sah er etwas von der Welt - durch den Fußball. Er war 14, da jagte ihn schon die Bundesliga. Schalke 04 wollte ihn ins Internat aufnehmen, die Eltern opponierten. "Ich lass doch meinen Jungen nicht so schnell aus dem Haus", sagte die Mutter. Es waren übrigens drei Jungen. Der älteste, Wolfgang, brachte es zum Zweitliga-Spieler bei DJK Gütersloh an der Seite des heutigen Frankfurter Vorstands-Chef Heribert Bruchhagen. Der Jüngste, Michael, schaffte es zum gestandenen Bundesliga-Spieler bei Bayern und Dortmund und zu zwei Länderspielen. Der Mittlere aber brachte es am weitesten.

Bayern-Profi statt Bankkaufmann

Bevor er Lippstadt verließ, sorgte er zusammen mit einem Freund dafür, dass sie ihn dort gewiss nicht vergessen würden. Mittels Chemikalien ließen sie einen Tümpel in die Luft fliegen, der Knall war so laut, "dass sogar die schwerhörigsten Mütterchen von Lippstadt zusammenliefen", erinnerte er sich 1980 in seiner Biographie. Rummenigge machte die Mittlere Reife und wäre wohl ein Bankkaufmann geworden, eine entsprechende Lehre hatte er begonnen. Eineinhalb Jahre schon lernte er bei der Bank, als die Bayern in seine Welt traten. Sie hatten auch ohne Twitter und Internet von seinen 32 Toren in der Mannschaft gehört, ein gewisser Willi Reinke, ein Talentspäher von Ruf, gab den Tipp nach München.

Rummenigge wurde ganz blümerant, es war im Jahr nach der EM 1972 und der Europameister war quasi bei Bayern München zuhause. Beckenbauer, Maier, Müller, Schwarzenbeck, Breitner, Hoeneß - sie hatten den Pokal fast alleine gewonnen. Mehrmaliger Meister waren sie auch, München war auch damals Deutschlands Fußball-Hauptstadt. Sein Verstand sagte ihm, dass er dort nie zum Zuge käme und Peter Krohn, Manager des HSV, sagte es auch: "Bei uns ist die Chance größer als beim FC Bayern". Die Angebote stapelten sich in jenen Tagen, er würde vorankommen – das war klar. Aber wer geht schon nach Bielefeld, wenn die Bayern rufen? Sein Vater drängte ihn und schließlich machte sogar Max Merkel in der irrigen Annahme, er werde der nächste Bayern-Trainer, persönlich Druck und lud Rummenigge nach München ein. Im Grunde war es ein Missverständnis, das seine Karriere-Tore öffnete, denn den Wiener Merkel verhinderten die Bayern-Profis gleich mehrfach als Trainer. Merkel aber brachte Rummenigge zu Manager Robert Schwan und verhandelte in dessen Namen ein höheres Anfangsgehalt aus, denn "der Junge muss doch leben in München".

Zur endgültigen Einigung kam es am 6. Januar 1974 morgens um acht Uhr, als Rummenigge in einem Düsseldorfer Hotel den Vertrag unterschrieb. Das Anfangsgehalt betrug 8000 Mark, sehr viel für einen 18-Jährigen. Nun hatte er noch sechs Monate Zeit, nervös zu werden. Und er wurde immer nervöser, als er die WM 1974 verfolgte. Sechs Bayern gewannen das Finale gegen Holland, einer saß noch auf der Tribüne. Was sollte er da? Am Morgen des ersten Trainings wollte er gar nicht aus dem alten VW-Käfer aussteigen, den ein Freund fuhr. Das Training begann um 9.15 Uhr und sie standen schon um sieben an der Säbener Strasse. Bloß nicht zu spät kommen, nicht unangenehm auffallen. Da entdeckte ihn Trainer Udo Lattek, der Mann, der sich von Merkel nicht hatte verdrängen lassen. "Der war so nett und freundlich, dass die Angst und das Lampenfieber verflogen." Sie kamen wieder, als die Weltmeister aus dem Sonderurlaub zurückkehrten. Kalle siezte alle, bis Gerd Müller ihn anraunzte: "Des heißt du, verstehst?"

1975 und 1976: Zweimal Europacupsieger der Landesmeister

So nahm die Karriere beim Weltklub FC Bayern ihren Lauf. Schon im ersten Jahr wurde er Europapokalsieger, wenn er das Finale 1975 gegen Leeds United auch nur auf der Bank verfolgte und Beckenbauer ihn bei der Siegesfeier launig als "Bratwurst" bezeichnete. Er wollte das Talent kitzeln, so wie es zuvor schon Lattek tat, der ihm Spitznamen wie "Rummelfliege" oder "Rotbäckchen" andichtete. Die Lehrjahre beim FC Bayern waren gewiss hart für den Westfalen, aber sie stählten seinen Willen sich durchzusetzen. Beckenbauers "Bratwurst" animierte ihn, im Sommerurlaub 1975 quasi durchzutrainieren - zum Leidwesen seiner Martina, die seine erste richtige Liebe war und noch immer seine Frau ist. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie Kellnerin, er Gast. Kalle ließ nach einem tiefen Blick Martinas sein Glas fallen, sie kehrte die Scherben auf. Er floh peinlich berührt nach Hause und sie schickte eine Woche später die Schwester mit einem Brief vorbei, lud ihn darin zum Schulball ein. Er kam und sie kamen zusammen. Das war noch in Lippstadt.

In München eroberte er im sterbenden Meisterteam der Siebziger die Fan-Herzen. Im Gegensatz zu den satten Weltmeistern war Rummenigge hungrig, nach Toren und Titeln. Sein Plus: Er war einer der wenigen Stürmer, der an der Seite von Gerd Müller existieren konnte. Weil sie sich bestens ergänzten. Denn Rummenigges Stärke war das Dribbling, er kam über die Flügel, seine Tore fielen oft mit Anlauf. Meist mit rechts, aber auch mit links oder per Kopf. Mit 1,82 Metern war er eigentlich zu groß für einen klassischen Dribbler á la Libuda oder Littbarski, aber seine enge Ballführung und seine Dynamik wurden für jeden Abwehrspieler zur Herausforderung. Mancher will ihn heute in Julian Draxler wieder erkennen. "Einmal gegen Rummenigge spielen, und du überdenkst dir deine Berufswahl", gab einst Bochums Jupp Tenhagen zum Besten.

Mit dem kürzlich verstorbenen Dettmar Cramer, ab Januar 1975 sein zweiter Trainer, hatte er einen großen Förderer, der ihn auch in seiner Freizeit beanspruchte. Sondertraining, Förderung der Reaktionszeit durch Sehtests im Straßenverkehr und Vorträge beim privaten Mittagessen - Cramer formte Rummenigge zum Weltklasse-Stürmer. Nervös blieb er immer noch, vor dem Landesmeisterfinale 1976 gegen AS St. Etienne verordnete Cramer ihm zwei Cognac, weil Kalle so blass war. Rummenigge stand in der Startelf, Bayern gewann 1:0 durch ein Tor von FRanz "Bulle Roth.

1980: Europameister und "Spieler des Turniers"

Im Oktober 1976 war es so weit: In Cardiff kam Rummenigge gegen Wales zu seinem ersten Länderspiel. Der alte Mann am Fenster hatte Recht, aus Kalle wurde einer. Bei der verkorksten WM 1978 war er einer der wenigen Gewinner, drei Tore glückten ihm auf Anhieb. Danach kam Paul Breitner zu Bayern zurück, es begann die zweite große Ära in der Bundesliga, die mit dem Etikett "Breitnigge" versehen wurde. Spielmacher Breitner und Torjäger Rummenigge prägten die Mannschaft, führten sie zu zwei Meister-Titeln, 1980 und 1981, Rummenigges einzigen in seiner Karriere. Fast ein bisschen wenig für zehn Jahre Bayern.

1980 holte er auch seinen einzigen Titel mit dem DFB-Team, das in Italien Europameister wurde. Er selbst war mit seiner Performance zwar nicht sonderlich zufrieden, kam in vier Spielen nur zu einem Tor, aber die internationale Presse wählte ihn zum Spieler des Turniers. Am Jahresende die Krönung: Rummenigge wurde Europas Fußballer des Jahres - und verteidigte den Titel 1981.

1982 kam der erste DFB-Pokal dazu, das weit wichtigere Finale des Jahres aber verlor er - mit der Nationalmannschaft, die bei der WM in Spanien das Endspiel gegen Italien erreichte, aber verdient mit 1:3 verlor. Rummenigge schoss zwar im Turnier fünf Tore und blieb doch hinter seinen Möglichkeiten, weil er sich beim blamablen Auftakt gegen Algerien (1:2) ausgerechnet beim Tor verletzte. Der Respekt vor ihm blieb, und als er im legendären Halbfinale gegen Frankreich eingewechselt wurde, stöhnte Frankreichs Staats-Präsident Francois Mitterand auf: "Mon dieu, Rümmenisch!" Seine Sorge war berechtigt, trotz lädierten Oberschenkels stach der Joker und traf sowohl im Spiel als auch im anschließenden Elfmeterschießen.

1984: Wechsel zu Inter Mailand

Im März 1984 entschied er sich, ein Angebot von Inter Mailand anzunehmen. Ein Grund: "Ich will nicht so enden wie Gerd Müller." Der Bomber der Nation war 1979 unfein abserviert worden, hatte aber auch den idealen Zeitpunkt des Abgangs verpasst. Im Gegensatz zu Rummenigge, der 1984 als Pokalsieger und Torschützenkönig (wie 1980 und 1981) über den Brenner zog. "Für berühmte Deutsche wie Karl und Otto den Großen oder Goethe hat Italien schon immer eine magische Anziehungskraft gehabt. Nun also zieht ein weiterer Kaiser über die Alpen, um sich dort krönen zu lassen, unser Karl-Heinz Rummenigge." Sagte Bayern-Präsident Willi O. Hoffmann im Frühjahr 1984. In Verkennung der Tatsache, dass es im deutschen Fußball eigentlich nur einen Kaiser gab.

Aber in Italien musste er sich mindestens wie ein König fühlen in den ersten Wochen. Zum Amüsement seiner Kollegen sah man ihn im ersten Trainingslager in Tirol am Fenster stehen und beinahe mechanisch zwei italienische Wörter wiederholen: "Que disastro!" Er blickte auf 2500 Fans, die das Teamhotel belagert hatten, hauptsächlich seinetwegen. Einige verbrachten fünf Stunden im Baum, um ein Foto von ihm zu schießen, andere wollten gleich in sein Bett. Nach Inters Abreise vom Pacherhof zu Brixen wollten auffällig viele Gäste in Zimmer 48 nächtigen, "am besten bei ungewechselten Laken", wie der Hotelchef amüsiert vermeldete. Glück brachte er Inter nicht, in drei Jahren gab es keine Titel. Doch Kalles Bilanz stimmte, 24 Tore in 64 Spielen waren für italienische Verhältnisse phänomenal.

Tor im WM-Finale 1986 - und doch verloren

Als Italien-Legionär fuhr er 1986 zur WM nach Mexiko, wieder angeschlagen, wieder nicht so gut, wie er hätte sein können - und wieder zweiter Sieger. Im Finale gegen Argentinien erzielte er sein einziges Tor, danach erfüllte er den mitleidigen Wunsch der Bild-Zeitung: "Kalle, bitte mach Schluss!" In Genf wurde er noch 1989 Schweizer Torschützenkönig, dann begann die Karriere nach der Karriere. Auch sie ist außerordentlich gelungen.

Vom "Rotbäckchen" aus der westfälischen Provinz zu einem der mächtigsten Männer im Reich des runden Leders; von der "Bratwurst" zum Boss der Fußball AG des FC Bayern, dessen Vorstandsvorsitzender er seit 2002 ist. Und zum Vorsitzenden der Europäischen Klubvereinigung (ECA), als der er gerade wieder gewählt wurde und als deren Vertreter er künftig im Exekutivkomitee der Europäischen Fußball-Union UEFA sitzt. Mit Uli Hoeneß, mit dem er vier Jahre gemeinsam stürmte, machte Karl-Heinz Rummenigge den FC Bayern zum Weltklub mit einem Umsatz von über 500 Millionen Euro.

Vielsprachiger Vorsitzender der Europäischen Klubvereinigung

Bei den Treffen der europäischen Topklubs parliert er fast mühelos auf Englisch, Französisch und Italienisch. Eine steile Karriere, die ihm wenige zugetraut hatten. Es sei sein Glück, "immer unterschätzt" worden zu sein, sagte der Vater von fünf Kindern einst. Die Feier heute findet "traditionell im kleinen Kreis" statt. Er sei "kein Freund ganz großer Feierlichkeiten, weil nur auf Beerdigungen noch mehr gelogen wird - und das brauche ich nicht".

Bis 31. Dezember 2016 läuft sein Vertrag beim FC Bayern. Ob er dann das ewige Versprechen an seine Ehefrau Martina einlöst, "weniger zu machen"? Man wird sehen. Mancher würde ihn vermissen, vielleicht sogar Dortmunds Boss Hans-Joachim Watzke, mit dem er wegen der Transfers von Robert Lewandowski und Mario Götze nach München im Clinch lag. "Wer an der Spitze eines so bedeutenden Vereins steht, hat nicht so viel falsch gemacht", sagte Watzke über Rummenigge. Hat er wirklich nicht.

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In der Rangliste der größten Bayern-Torjäger steht nur Gerd Müller vor ihm. In zehn Jahren schoss Karl-Heinz Rummenigge, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, 162 Bundesligatore, 30 im Europapokal und 25 im DFB-Pokal. Trotz des jüngsten Torhungers eines Robert Lewandowski muss "Kalle" Rummenigge nicht befürchten, so schnell überholt zu werden.

In der Nationalmannschaft kam er bei 95 Einsätzen zu 45 Toren, das reicht noch zu Platz sechs. Es wird ihn gewiss nicht kränken, dass ihn eine andere Zahl zu einem der wichtigsten Männer der Vereinsgeschichte der Bayern macht: 11,4 Millionen Mark zahlte Inter Mailand 1984 an die Münchner, die dadurch auf einen Schlag entschuldet waren. Der damalige Rekordtransfer eines Deutschen war für alle Seiten ein Gewinn, denn Rummenigge reifte in Italien zum Weltmann und bei Inter schwärmen sie noch heute vom blonden Deutschen.

Seine bemerkenswerte Karriere als Aktiver beendete er 1989 in ruhigeren Gefilden, bei Servette Genf. Um bald darauf eine ebenso erfolgreiche Laufbahn als Fußballentscheider einzuschlagen. Für DFB.de porträtiert der Autor und Historiker Udo Muras den einstigen "Fußballer Europas" und heutigen Spitzenfunktionär.

"Klein-Kalle" in Lippstadt: "Junge, du wirst mal einer"

Der Aufstieg des Karl-Heinz Rummenigge ist eine erstaunliche Geschichte. Wie so manch anderer Großer des deutschen Fußballs, etwa Gerd Müller oder Miroslav Klose, spielte er in der Jugend nie in einer DFB-Auswahl. Schon in der Kindheit musste er sich um Akzeptanz bemühen. Sein älterer Bruder nahm ihn zwar auf Drängen der Mutter mit zum Straßenkick, damals im westfälischen Lippstadt, aber dann ließen sie ihn nur zusehen. Er war ja erst vier. Als er zu Weinen begann, handelten sie mit "Klein-Kalle" einen Deal aus. Erst den Hof kehren, dann mitspielen. Die Schaufel war größer als er und das, was er da wegfegen musste, stank zum Himmel – Hundedreck. Aber er tat es und sie ließen ihn Zähne knirschend mitspielen. "Mit Fünf dribbelte ich fast schon alle aus. Oft machte ein älterer Herr das Fenster auf, nickte und brummte: 'Junge, du wirst mal einer.'"

Und was für einer er wurde. Mit sieben fing er im Verein bei Borussia Lippstadt an, mit acht war er schon Stadtgespräch. Denn als seine E-Jugend das Vorspiel zum Derby zwischen Teutonia und Borussia austrug, da sahen 5000 Menschen zu und sie sahen sechs Rummenigge-Tore. Vor einem Tor spielte er fünf Spieler aus, dann noch den Torwart. Dann legte er den Ball auf die Linie. Sekundenlang tat er nichts und verharrte, so wie einst die Gladiatoren im Kolosseum, wenn sie einen Gegner besiegt hatten und auf das Zeichen des Konsuls warteten, so wartete der Achtjährige auf einen Wink des Publikums. "Erst als die Zuschauer immer lauter schrien, habe ich die Kugel reingeschoben." Erste Frechheiten eines Hochbegabten. Ein vergleichbares Tor schoss er später für Bayern bei einem Turnier in Aachen. Damals stoppte er den Ball auf der Linie, dann köpfte er ihn ein.

Mit neun wurde er von der E- gleich in die C-Jugend befördert und stellte doch alle Größeren in den Schatten. Man zählte 96 Saisontore von ihm, in einem Spiel waren es 15. Nun ging es auf große Reise, die Westfalen-Auswahl fuhr nach England und Kalle mit. Erstmals sah er etwas von der Welt - durch den Fußball. Er war 14, da jagte ihn schon die Bundesliga. Schalke 04 wollte ihn ins Internat aufnehmen, die Eltern opponierten. "Ich lass doch meinen Jungen nicht so schnell aus dem Haus", sagte die Mutter. Es waren übrigens drei Jungen. Der älteste, Wolfgang, brachte es zum Zweitliga-Spieler bei DJK Gütersloh an der Seite des heutigen Frankfurter Vorstands-Chef Heribert Bruchhagen. Der Jüngste, Michael, schaffte es zum gestandenen Bundesliga-Spieler bei Bayern und Dortmund und zu zwei Länderspielen. Der Mittlere aber brachte es am weitesten.

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Bayern-Profi statt Bankkaufmann

Bevor er Lippstadt verließ, sorgte er zusammen mit einem Freund dafür, dass sie ihn dort gewiss nicht vergessen würden. Mittels Chemikalien ließen sie einen Tümpel in die Luft fliegen, der Knall war so laut, "dass sogar die schwerhörigsten Mütterchen von Lippstadt zusammenliefen", erinnerte er sich 1980 in seiner Biographie. Rummenigge machte die Mittlere Reife und wäre wohl ein Bankkaufmann geworden, eine entsprechende Lehre hatte er begonnen. Eineinhalb Jahre schon lernte er bei der Bank, als die Bayern in seine Welt traten. Sie hatten auch ohne Twitter und Internet von seinen 32 Toren in der Mannschaft gehört, ein gewisser Willi Reinke, ein Talentspäher von Ruf, gab den Tipp nach München.

Rummenigge wurde ganz blümerant, es war im Jahr nach der EM 1972 und der Europameister war quasi bei Bayern München zuhause. Beckenbauer, Maier, Müller, Schwarzenbeck, Breitner, Hoeneß - sie hatten den Pokal fast alleine gewonnen. Mehrmaliger Meister waren sie auch, München war auch damals Deutschlands Fußball-Hauptstadt. Sein Verstand sagte ihm, dass er dort nie zum Zuge käme und Peter Krohn, Manager des HSV, sagte es auch: "Bei uns ist die Chance größer als beim FC Bayern". Die Angebote stapelten sich in jenen Tagen, er würde vorankommen – das war klar. Aber wer geht schon nach Bielefeld, wenn die Bayern rufen? Sein Vater drängte ihn und schließlich machte sogar Max Merkel in der irrigen Annahme, er werde der nächste Bayern-Trainer, persönlich Druck und lud Rummenigge nach München ein. Im Grunde war es ein Missverständnis, das seine Karriere-Tore öffnete, denn den Wiener Merkel verhinderten die Bayern-Profis gleich mehrfach als Trainer. Merkel aber brachte Rummenigge zu Manager Robert Schwan und verhandelte in dessen Namen ein höheres Anfangsgehalt aus, denn "der Junge muss doch leben in München".

Zur endgültigen Einigung kam es am 6. Januar 1974 morgens um acht Uhr, als Rummenigge in einem Düsseldorfer Hotel den Vertrag unterschrieb. Das Anfangsgehalt betrug 8000 Mark, sehr viel für einen 18-Jährigen. Nun hatte er noch sechs Monate Zeit, nervös zu werden. Und er wurde immer nervöser, als er die WM 1974 verfolgte. Sechs Bayern gewannen das Finale gegen Holland, einer saß noch auf der Tribüne. Was sollte er da? Am Morgen des ersten Trainings wollte er gar nicht aus dem alten VW-Käfer aussteigen, den ein Freund fuhr. Das Training begann um 9.15 Uhr und sie standen schon um sieben an der Säbener Strasse. Bloß nicht zu spät kommen, nicht unangenehm auffallen. Da entdeckte ihn Trainer Udo Lattek, der Mann, der sich von Merkel nicht hatte verdrängen lassen. "Der war so nett und freundlich, dass die Angst und das Lampenfieber verflogen." Sie kamen wieder, als die Weltmeister aus dem Sonderurlaub zurückkehrten. Kalle siezte alle, bis Gerd Müller ihn anraunzte: "Des heißt du, verstehst?"

1975 und 1976: Zweimal Europacupsieger der Landesmeister

So nahm die Karriere beim Weltklub FC Bayern ihren Lauf. Schon im ersten Jahr wurde er Europapokalsieger, wenn er das Finale 1975 gegen Leeds United auch nur auf der Bank verfolgte und Beckenbauer ihn bei der Siegesfeier launig als "Bratwurst" bezeichnete. Er wollte das Talent kitzeln, so wie es zuvor schon Lattek tat, der ihm Spitznamen wie "Rummelfliege" oder "Rotbäckchen" andichtete. Die Lehrjahre beim FC Bayern waren gewiss hart für den Westfalen, aber sie stählten seinen Willen sich durchzusetzen. Beckenbauers "Bratwurst" animierte ihn, im Sommerurlaub 1975 quasi durchzutrainieren - zum Leidwesen seiner Martina, die seine erste richtige Liebe war und noch immer seine Frau ist. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie Kellnerin, er Gast. Kalle ließ nach einem tiefen Blick Martinas sein Glas fallen, sie kehrte die Scherben auf. Er floh peinlich berührt nach Hause und sie schickte eine Woche später die Schwester mit einem Brief vorbei, lud ihn darin zum Schulball ein. Er kam und sie kamen zusammen. Das war noch in Lippstadt.

In München eroberte er im sterbenden Meisterteam der Siebziger die Fan-Herzen. Im Gegensatz zu den satten Weltmeistern war Rummenigge hungrig, nach Toren und Titeln. Sein Plus: Er war einer der wenigen Stürmer, der an der Seite von Gerd Müller existieren konnte. Weil sie sich bestens ergänzten. Denn Rummenigges Stärke war das Dribbling, er kam über die Flügel, seine Tore fielen oft mit Anlauf. Meist mit rechts, aber auch mit links oder per Kopf. Mit 1,82 Metern war er eigentlich zu groß für einen klassischen Dribbler á la Libuda oder Littbarski, aber seine enge Ballführung und seine Dynamik wurden für jeden Abwehrspieler zur Herausforderung. Mancher will ihn heute in Julian Draxler wieder erkennen. "Einmal gegen Rummenigge spielen, und du überdenkst dir deine Berufswahl", gab einst Bochums Jupp Tenhagen zum Besten.

Mit dem kürzlich verstorbenen Dettmar Cramer, ab Januar 1975 sein zweiter Trainer, hatte er einen großen Förderer, der ihn auch in seiner Freizeit beanspruchte. Sondertraining, Förderung der Reaktionszeit durch Sehtests im Straßenverkehr und Vorträge beim privaten Mittagessen - Cramer formte Rummenigge zum Weltklasse-Stürmer. Nervös blieb er immer noch, vor dem Landesmeisterfinale 1976 gegen AS St. Etienne verordnete Cramer ihm zwei Cognac, weil Kalle so blass war. Rummenigge stand in der Startelf, Bayern gewann 1:0 durch ein Tor von FRanz "Bulle Roth.

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1980: Europameister und "Spieler des Turniers"

Im Oktober 1976 war es so weit: In Cardiff kam Rummenigge gegen Wales zu seinem ersten Länderspiel. Der alte Mann am Fenster hatte Recht, aus Kalle wurde einer. Bei der verkorksten WM 1978 war er einer der wenigen Gewinner, drei Tore glückten ihm auf Anhieb. Danach kam Paul Breitner zu Bayern zurück, es begann die zweite große Ära in der Bundesliga, die mit dem Etikett "Breitnigge" versehen wurde. Spielmacher Breitner und Torjäger Rummenigge prägten die Mannschaft, führten sie zu zwei Meister-Titeln, 1980 und 1981, Rummenigges einzigen in seiner Karriere. Fast ein bisschen wenig für zehn Jahre Bayern.

1980 holte er auch seinen einzigen Titel mit dem DFB-Team, das in Italien Europameister wurde. Er selbst war mit seiner Performance zwar nicht sonderlich zufrieden, kam in vier Spielen nur zu einem Tor, aber die internationale Presse wählte ihn zum Spieler des Turniers. Am Jahresende die Krönung: Rummenigge wurde Europas Fußballer des Jahres - und verteidigte den Titel 1981.

1982 kam der erste DFB-Pokal dazu, das weit wichtigere Finale des Jahres aber verlor er - mit der Nationalmannschaft, die bei der WM in Spanien das Endspiel gegen Italien erreichte, aber verdient mit 1:3 verlor. Rummenigge schoss zwar im Turnier fünf Tore und blieb doch hinter seinen Möglichkeiten, weil er sich beim blamablen Auftakt gegen Algerien (1:2) ausgerechnet beim Tor verletzte. Der Respekt vor ihm blieb, und als er im legendären Halbfinale gegen Frankreich eingewechselt wurde, stöhnte Frankreichs Staats-Präsident Francois Mitterand auf: "Mon dieu, Rümmenisch!" Seine Sorge war berechtigt, trotz lädierten Oberschenkels stach der Joker und traf sowohl im Spiel als auch im anschließenden Elfmeterschießen.

1984: Wechsel zu Inter Mailand

Im März 1984 entschied er sich, ein Angebot von Inter Mailand anzunehmen. Ein Grund: "Ich will nicht so enden wie Gerd Müller." Der Bomber der Nation war 1979 unfein abserviert worden, hatte aber auch den idealen Zeitpunkt des Abgangs verpasst. Im Gegensatz zu Rummenigge, der 1984 als Pokalsieger und Torschützenkönig (wie 1980 und 1981) über den Brenner zog. "Für berühmte Deutsche wie Karl und Otto den Großen oder Goethe hat Italien schon immer eine magische Anziehungskraft gehabt. Nun also zieht ein weiterer Kaiser über die Alpen, um sich dort krönen zu lassen, unser Karl-Heinz Rummenigge." Sagte Bayern-Präsident Willi O. Hoffmann im Frühjahr 1984. In Verkennung der Tatsache, dass es im deutschen Fußball eigentlich nur einen Kaiser gab.

Aber in Italien musste er sich mindestens wie ein König fühlen in den ersten Wochen. Zum Amüsement seiner Kollegen sah man ihn im ersten Trainingslager in Tirol am Fenster stehen und beinahe mechanisch zwei italienische Wörter wiederholen: "Que disastro!" Er blickte auf 2500 Fans, die das Teamhotel belagert hatten, hauptsächlich seinetwegen. Einige verbrachten fünf Stunden im Baum, um ein Foto von ihm zu schießen, andere wollten gleich in sein Bett. Nach Inters Abreise vom Pacherhof zu Brixen wollten auffällig viele Gäste in Zimmer 48 nächtigen, "am besten bei ungewechselten Laken", wie der Hotelchef amüsiert vermeldete. Glück brachte er Inter nicht, in drei Jahren gab es keine Titel. Doch Kalles Bilanz stimmte, 24 Tore in 64 Spielen waren für italienische Verhältnisse phänomenal.

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Tor im WM-Finale 1986 - und doch verloren

Als Italien-Legionär fuhr er 1986 zur WM nach Mexiko, wieder angeschlagen, wieder nicht so gut, wie er hätte sein können - und wieder zweiter Sieger. Im Finale gegen Argentinien erzielte er sein einziges Tor, danach erfüllte er den mitleidigen Wunsch der Bild-Zeitung: "Kalle, bitte mach Schluss!" In Genf wurde er noch 1989 Schweizer Torschützenkönig, dann begann die Karriere nach der Karriere. Auch sie ist außerordentlich gelungen.

Vom "Rotbäckchen" aus der westfälischen Provinz zu einem der mächtigsten Männer im Reich des runden Leders; von der "Bratwurst" zum Boss der Fußball AG des FC Bayern, dessen Vorstandsvorsitzender er seit 2002 ist. Und zum Vorsitzenden der Europäischen Klubvereinigung (ECA), als der er gerade wieder gewählt wurde und als deren Vertreter er künftig im Exekutivkomitee der Europäischen Fußball-Union UEFA sitzt. Mit Uli Hoeneß, mit dem er vier Jahre gemeinsam stürmte, machte Karl-Heinz Rummenigge den FC Bayern zum Weltklub mit einem Umsatz von über 500 Millionen Euro.

Vielsprachiger Vorsitzender der Europäischen Klubvereinigung

Bei den Treffen der europäischen Topklubs parliert er fast mühelos auf Englisch, Französisch und Italienisch. Eine steile Karriere, die ihm wenige zugetraut hatten. Es sei sein Glück, "immer unterschätzt" worden zu sein, sagte der Vater von fünf Kindern einst. Die Feier heute findet "traditionell im kleinen Kreis" statt. Er sei "kein Freund ganz großer Feierlichkeiten, weil nur auf Beerdigungen noch mehr gelogen wird - und das brauche ich nicht".

Bis 31. Dezember 2016 läuft sein Vertrag beim FC Bayern. Ob er dann das ewige Versprechen an seine Ehefrau Martina einlöst, "weniger zu machen"? Man wird sehen. Mancher würde ihn vermissen, vielleicht sogar Dortmunds Boss Hans-Joachim Watzke, mit dem er wegen der Transfers von Robert Lewandowski und Mario Götze nach München im Clinch lag. "Wer an der Spitze eines so bedeutenden Vereins steht, hat nicht so viel falsch gemacht", sagte Watzke über Rummenigge. Hat er wirklich nicht.