Meyer: "Irgendjemand hat immer irgendwas"

Mehr als zwei Jahrzehnte lang war Prof. Dr. Tim Meyer Arzt der deutschen Nationalmannschaft. Nach seinem Rücktritt nach der WM in Katar spricht der Wissenschaftler, der nun als Chefmediziner der EURO 2024 firmiert, mit DFB.de über seine Erlebnisse im DFB-Team, die Zusammenarbeit mit verschiedenen Bundestrainern, medizinische Herausforderungen und Freundschaften, die er geschlossen hat.

DFB.de: Ihre Zeit bei der Nationalmannschaft begann mit Bedenken, Herr Meyer. Als die Anfrage vom DFB kam, haben Sie nicht sofort zugesagt, sie sind erstmal in sich gegangen. Was ließ Sie zögern?

Prof. Dr. Tim Meyer: Ich wurde damals von Bernd Pfaff gefragt, dem DFB-Direktor Nationalmannschaften. Gezögert habe ich, weil mit der Übernahme des Postens als Nationalmannschaftsarzt ein Schritt in die Öffentlichkeit verbunden ist. Mir war damals klar, dass dieser Schritt grundsätzlich lebensverändernd sein könnte. So war es dann ja auch. Da halte ich es für legitim, zumindest kurz mal zurückzutreten und sich bewusst zu machen, auf was man sich einlässt.

DFB.de: Ihren ersten Einsatz im Kreis der A-Mannschaft hatten Sie am 15. August 2001. Wie prägend waren diese ersten 90 Minuten – erinnern Sie sich noch an Aufstellung, Gegner, Spiel und Ergebnis?

Prof. Dr. Meyer: Es war in Ungarn gegen Ungarn, wir haben 5:2 gewonnen. Die Frage ist für mich ein Heimspiel. Wenn ich von meinem Schreibtisch aufblicke, sehe ich einen handgeschriebenen Zettel, der gerahmt an der Wand hängt. Auf ihm festgehalten sind die Namen der deutschen Aufstellung. Michael Skibbe hatte den Zettel damals in den Papierkorb geworfen, ich habe ihn als Andenken wieder rausgefischt.

DFB.de: Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie zum ersten Mal als Mediziner bei der Nationalmannschaft gefordert waren und welches das erste Medikament war, das Sie verabreichten?

Prof. Dr. Meyer: Es gibt kein Länderspiel, bei dem keine medizinischen Aufgaben zu erledigen sind. Daher ist ganz klar, dass dies schon im Rahmen des Spiels in Ungarn gewesen ist. Irgendjemand hat immer irgendwas. Aber welches Medikament meine Premiere in diesem Kreis war – das weiß ich nicht mehr.

DFB.de: Sie selber haben eine Vita als Fußballer, auch wenn Sie es nicht in die Nationalmannschaft geschafft haben. Wie wichtig waren Ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Ball für die Akzeptanz bei Spielern und Trainern?

Prof. Dr. Meyer: Wenn Spieler sehen, dass jemand neu dabei ist und ihnen den Ball vom Rand auch mal in die Arme chippen kann, dann schadet das zumindest nicht. Es ist auch kein Nachteil, wenn man sich in Gesprächen halbwegs fundiert und jedenfalls nicht grundsätzlich blödsinnig über den Fußball äußert. Ein gewisses Verständnis für das Spiel ist für den Arzt der Nationalmannschaft sehr förderlich. Auch in der Kommunikation mit dem Trainer, etwa wenn es um die Spielfähigkeit eines Spielers geht. Ich habe es so erlebt, dass die Trainer zu schätzen wussten, wenn man die Bedeutung des Spielers für das eigene Spiel kannte. Das hat dann nichts an der medizinischen Beurteilung geändert, aber doch daran, mit welcher Sensibilität das Gespräch mit dem Trainer geführt wird.

DFB.de: Als Sie die Entscheidung kommunizierten, vom Posten des Nationalmannschaftsarztes zurückzutreten, begründeten Sie dies unter anderem damit, dass es für Sie keine Herausforderung mehr ist, am Spielfeldrand zu stehen und jungen Männern Wasserflaschen zuzuschmeißen. Wird diese Beschreibung der Rolle gerecht, die Sie als Arzt der Nationalmannschaft innehatten?

Prof. Dr. Meyer: Nein, das ist natürlich nicht Kern der Aufgabe. Diese Beschreibung steht für mich bildhaft dafür, dass sich mit sich verändernden Spielergenerationen, aber auch mit meinem Alter, das Verhältnis zu den Spielern etwas geändert hat. Man muss das gar nicht werten, aber es ist doch anders, als es noch vor ein paar Jahren gewesen ist. Ein Teil davon ist natürlichen Prozessen geschuldet, der Durchschnitts-Nationalspieler ist immer ähnlich alt, ich dagegen werde und wurde immer älter. Das führt natürlicherweise zu einer gewissen Distanz. Vereinfacht gesagt: Früher haben die Spieler ins Arztzimmer hereingeschaut, wenn es etwas zu besprechen gab, heute schreiben manche eher eine Whatsapp, wenn sie im Nachbarzimmer sind. Das ist einfach so, ich will es überhaupt nicht verteufeln, für die teaminterne Kommunikation kann das sehr hilfreich sein, aber gut finden muss ich es auch nicht.

DFB.de: Wie haben sich die Nationalspieler als Patienten im Lauf der Zeit gewandelt?

Prof. Dr. Meyer: Was man sagen kann, ist, dass die Spieler heute medizinische Begleitung von erheblich jüngerem Alter an gewohnt sind. In den Nachwuchsleistungszentren werden sie mittlerweile erheblich intensiver betreut, in aller Regel wissen sie dadurch auch besser über ihren Körper, ihre Gesundheit und sportgerechten Lebenswandel Bescheid.

DFB.de: Welche Konsequenzen hatte dies: Hat es Ihre Arbeit erleichtert oder erschwert?

Prof. Dr. Meyer: Die Spieler sind heute verständnisvoller und geben weniger Widerworte. Wobei ich schlecht einschätzen kann, ob mein über die Jahre gewachsenes Standing dabei nicht auch eine Rolle spielt. Wenn ein Spieler neu zur Mannschaft kommt und weiß, dass der Arzt schon bei etlichen Turnieren dabei war, dann – so habe ich es empfunden – bekommt man als Arzt einen Vertrauensvorschuss.

DFB.de: Ohne die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen – gab es in den zwei Jahrzehnten problematische Erkrankungen, besondere Fälle, mit denen Sie konfrontiert waren?

Prof. Dr. Meyer: Wenn, dann waren es am ehesten allergische Reaktionen. Das klingt nicht dramatisch, tatsächlich aber ist es so, dass allergische Reaktionen durchaus auch lebensgefährlich sein können. Es ist dann wichtig, ruhig zu bleiben, die richtige Entscheidung zu treffen, Ruhe auszustrahlen und damit den Patienten zu beruhigen. Solche Situationen gab es nicht oft, aber sie gab es.

DFB.de: Und ansonsten? Wann war der Nationalmannschaftsarzt Tim Meyer als Mediziner noch gefordert?

Prof. Dr. Meyer: Bei der Nationalmannschaft hat man es mit jungen, überdurchschnittlich fitten, gesunden jungen Männern zu tun. Wenn wir mal den Betreuerstab ausklammern. (lacht) In aller Regel behandeln wir also aus Sicht der Krankenhausmedizin "Problemchen", die die Spieler nicht umbringen, aber beeinträchtigen. In dieser Konstellation ist es manchmal wichtiger, die Nebenwirkungen der verwendeten Medikamente gut zu kennen, als die Wirkungen.

DFB.de: Warum?

Prof. Dr. Meyer: Weil es bei eher leichten Erkrankungen umso dramatischer wäre, wenn man mit der Behandlung ein echtes Problem erst verursacht. Ein anderer herausfordernder Aspekt ist das Handeln im real existierenden Umfeld des Fußballs. Hautblasen klingen zunächst völlig harmlos – aber wenn man als Fußballer eine Blase am Fuß hat, kann das ein echtes Problem darstellen. Dann ist die Behandlung prinzipiell nicht allzu herausfordernd, aber man muss schnell Beschwerdefreiheit herstellen. Außerdem kann es durchaus schwierig zu beurteilen sein, welche Belastung zu welchem Zeitpunkt möglich und sinnvoll ist.

DFB.de: Sie waren Mannschaftsarzt, daneben waren Sie inoffizieller Tischtennis-Champion im Kreis der Nationalmannschaft. Welche Spieler haben Sie am meisten gefordert, bei wem war es knapp?

Prof. Dr. Meyer: Es gibt einige, die richtig gut waren. Es erstaunt ja nicht, dass die Spieler grundsätzlich ganz patent sind im Umgang auch mit dem leichteren Ball. Ich war dennoch überrascht, wie stark einige waren. Tischtennis ist eine komplexe Sportart, und ein paar Spieler hatten das richtig drauf. Mario Götze und Marco Reus kann man da nennen, auch Miro Klose. Was sie an der Platte gezeigt haben, das war schon stark für Sportler, die nicht aus dem Tischtennis stammen. So richtig knapp war es aber nie...

DFB.de: Sie haben mit den Bundestrainern Rudi Völler bzw. Michael Skibbe, Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Hansi Flick gearbeitet. Wie groß waren die Unterschiede in der Zusammenarbeit?

Prof. Dr. Meyer: Mit Jogi habe ich länger zusammengearbeitet als mit allen anderen zusammen, insofern ist mein Eindruck aus dieser Zeit wesentlich ausgeprägter. Jogi hatte eine ruhige Hand, er hat delegiert, er hat vertraut. Unter allen Gesichtspunkten war es eine Freude, an seiner Seite sportmedizinisch tätig zu sein. So wie es war, so wünscht man es sich. Auch unter Hansi war es wirklich sehr gut, wobei ich mit ihm mehr die lange Zeit verbinde, in der ich ihn als Co-Trainer erlebt habe. Und da war er für mich ein wahnsinnig empathischer, feinfühliger Mensch, einer, der gute Antennen hatte und der sah, wenn mal eine Hand auf eine Schulter gelegt werden musste.

DFB.de: Und die Anfänge, wie war es bei Rudi Völler und Jürgen Klinsmann?

Prof. Dr. Meyer: Bei Michael Skibbe und Rudi Völler war es total einfach. Vor allem menschlich. Es ging für mich damals auch darum, in diesem Kreis anzukommen. Und ich weiß noch, wie ich mich mitunter gewundert habe, wie einfach das geht. Ist das wirklich die Nationalmannschaft – diese Frage habe ich mir damals mehr als einmal gestellt, weil meine Erwartung war, dass man sich seinen Platz dort mehr erkämpfen muss, dass es schwieriger ist, dort zu starten.

DFB.de: Fehlt noch Jürgen Klinsmann.

Prof. Dr. Meyer: Mit ihm war es anders, ich meine das aber gar nicht negativ. Unbestritten: Jürgen Klinsmann hat Prozesse angestoßen, die dem deutschen Fußball als Ganzes sehr gutgetan haben. Und er hat es mit Vehemenz gemacht. Wie gesagt: An vielen Stellen war das bereichernd, es hat im Miteinander aber auch Konflikte ausgelöst, die man dann aushalten musste. In ein bestehendes Expertenteam hat er in großer Anzahl neue Experten eingebracht – dass dabei Reibung und Kompetenzüberlappungen entstehen, liegt ja auf der Hand. Es war dann sehr hilfreich, dass zu den von Klinsmann geholten Experten ein Charakter wie Shad Forsythe gehörte. Ein Brückenbauer, einer, der harmonisch agiert und ein Gespür dafür hatte, dass die Konstellation für einige der Etablierten problematisch war. Auch die große Erfahrung im "alten" Betreuerstab war wertvoll, sie hat bewirkt, dass einige verstanden hatten, dass es nun darum geht, sich auch mal zurückzunehmen.

DFB.de: In zwei Jahrzehnten kommen viele Erlebnisse zusammen, an welche Augenblicke im Kreis der Nationalmannschaft erinnern Sie sich besonders gerne?

Prof. Dr. Meyer: Es sind wahnsinnig viele, wenn ich jetzt Erlebnisse nenne, fallen mir hinterher fünf andere ein, die ich genauso hätte nennen müssen. Die Reisen waren für mich immer besonders eindrucksvoll, auch die außerhalb der Turniere. Spontan habe ich das Bild vor Augen, als wir auf der Asienreise mit der Mannschaft auf dem Dach des Banyan Tree Hotels in Bangkok gesessen haben. Oder als ich mit Hans-Dieter Hermann 2013 in einer Sportsbar in Miami war. Wir waren die einzigen beiden, die das NBA-Finale geschaut haben. Alle anderen Gäste hatten sich nur für Ultimate Fighting interessiert. Uns hat das sehr verblüfft – immerhin standen die Miami Heat damals im NBA-Finale.

DFB.de: Aus sportlicher Sicht war die WM 2014 das Highlight.

Prof. Dr. Meyer: Ganz klar, ja.

DFB.de: Als wesentlicher Baustein des Erfolgs wird auch das Teamquartier, das Campo Bahia, genannt. Im Jahr vor der WM hatten Sie das Land Brasilien auf einer privaten Reise mit Ihrer Frau kennengelernt. Die Erfahrungen, die Sie dabei gemacht haben, haben Sie weitergegeben. Würden Sie protestieren bei der Behauptung, dass Sie bei der Entscheidung für dieses Teamquartier eine Rolle gespielt haben?

Prof. Dr. Meyer: Nicht mit Nachdruck. Ich sage es mit Vorsicht, aber ich glaube schon, dass ich diese Entscheidung mit beeinflusst habe. Oliver Bierhoff hat sich von unseren Erfahrungen berichten lassen, und ich vermute, dass unsere Berichte für ihn Relevanz hatten. Anfänglich war mein Favorit eher São Paulo, aber durch die Erfahrungen auf der Reise hat sich meine Meinung gewandelt, sodass ich am Ende zum Campo Bahia geraten habe. Ich will mich aber hier nicht mit fremden Federn schmücken. Den Mut, das dann auch durchzuziehen, den hat Oliver aufgebracht. Er hat damals aus den richtigen Beweggründen eine richtige Entscheidung getroffen. Er ist damit trotzdem Risiko gegangen. Wenn das schiefgegangen wäre – Oliver wäre zerrissen worden.

DFB.de: Sie hatten viele tolle Erlebnisse, haben viel gesehen. Stimmt es, dass Sie die vielen Eindrücke alle im Kopf gespeichert haben und kein Freund des Fotografierens sind?

Prof. Dr. Meyer: Ich weiß nicht, ob ich sie alle im Kopf gespeichert habe. Aber es stimmt, dass ich so gut wie keine Fotos mache. Umgekehrt ist es richtiger: Wenn ein Bild oder ein Eindruck so wichtig ist, dass er erhaltenswert ist, dann behalte ich ihn im Kopf. Darunter leidet dann indirekt meine Frau, wenn ich zurückkehre und nichts zeigen kann. Zum Glück fahren mit der Nationalmannschaft auch immer viele Fotografen – Profis und Amateure unter den Betreuern.

DFB.de: Wenn Sie nun an Ihre mehr als zwei Jahrzehnte bei der Nationalmannschaft denken, welches Bild haben Sie im Kopf?

Prof. Dr. Meyer: Es ist eine Kollage. Brasilien, der Abpfiff in Rio de Janeiro im Maracana, ist selbstverständlich dabei. Dann die Empfänge am Brandenburger Tor in Berlin. Ich sehe auch viele der berühmten Stadien und dort die Katakomben. Der Anschlag von Paris gehört dazu, die Zeit der Ungewissheit im Stade de France. Und dann natürlich viele Gesichter von vielen tollen Menschen, die rund um die Mannschaft arbeiten. Es sind viele gute Verbindungen entstanden und auch einige echte Freundschaften. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass diese Freundschaften Bestand haben werden, auch wenn ich nun nicht mehr als Arzt der deutschen Nationalmannschaft arbeite.

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang war Prof. Dr. Tim Meyer Arzt der deutschen Nationalmannschaft. Nach seinem Rücktritt nach der WM in Katar spricht der Wissenschaftler, der nun als Chefmediziner der EURO 2024 firmiert, mit DFB.de über seine Erlebnisse im DFB-Team, die Zusammenarbeit mit verschiedenen Bundestrainern, medizinische Herausforderungen und Freundschaften, die er geschlossen hat.

DFB.de: Ihre Zeit bei der Nationalmannschaft begann mit Bedenken, Herr Meyer. Als die Anfrage vom DFB kam, haben Sie nicht sofort zugesagt, sie sind erstmal in sich gegangen. Was ließ Sie zögern?

Prof. Dr. Tim Meyer: Ich wurde damals von Bernd Pfaff gefragt, dem DFB-Direktor Nationalmannschaften. Gezögert habe ich, weil mit der Übernahme des Postens als Nationalmannschaftsarzt ein Schritt in die Öffentlichkeit verbunden ist. Mir war damals klar, dass dieser Schritt grundsätzlich lebensverändernd sein könnte. So war es dann ja auch. Da halte ich es für legitim, zumindest kurz mal zurückzutreten und sich bewusst zu machen, auf was man sich einlässt.

DFB.de: Ihren ersten Einsatz im Kreis der A-Mannschaft hatten Sie am 15. August 2001. Wie prägend waren diese ersten 90 Minuten – erinnern Sie sich noch an Aufstellung, Gegner, Spiel und Ergebnis?

Prof. Dr. Meyer: Es war in Ungarn gegen Ungarn, wir haben 5:2 gewonnen. Die Frage ist für mich ein Heimspiel. Wenn ich von meinem Schreibtisch aufblicke, sehe ich einen handgeschriebenen Zettel, der gerahmt an der Wand hängt. Auf ihm festgehalten sind die Namen der deutschen Aufstellung. Michael Skibbe hatte den Zettel damals in den Papierkorb geworfen, ich habe ihn als Andenken wieder rausgefischt.

DFB.de: Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie zum ersten Mal als Mediziner bei der Nationalmannschaft gefordert waren und welches das erste Medikament war, das Sie verabreichten?

Prof. Dr. Meyer: Es gibt kein Länderspiel, bei dem keine medizinischen Aufgaben zu erledigen sind. Daher ist ganz klar, dass dies schon im Rahmen des Spiels in Ungarn gewesen ist. Irgendjemand hat immer irgendwas. Aber welches Medikament meine Premiere in diesem Kreis war – das weiß ich nicht mehr.

DFB.de: Sie selber haben eine Vita als Fußballer, auch wenn Sie es nicht in die Nationalmannschaft geschafft haben. Wie wichtig waren Ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Ball für die Akzeptanz bei Spielern und Trainern?

Prof. Dr. Meyer: Wenn Spieler sehen, dass jemand neu dabei ist und ihnen den Ball vom Rand auch mal in die Arme chippen kann, dann schadet das zumindest nicht. Es ist auch kein Nachteil, wenn man sich in Gesprächen halbwegs fundiert und jedenfalls nicht grundsätzlich blödsinnig über den Fußball äußert. Ein gewisses Verständnis für das Spiel ist für den Arzt der Nationalmannschaft sehr förderlich. Auch in der Kommunikation mit dem Trainer, etwa wenn es um die Spielfähigkeit eines Spielers geht. Ich habe es so erlebt, dass die Trainer zu schätzen wussten, wenn man die Bedeutung des Spielers für das eigene Spiel kannte. Das hat dann nichts an der medizinischen Beurteilung geändert, aber doch daran, mit welcher Sensibilität das Gespräch mit dem Trainer geführt wird.

DFB.de: Als Sie die Entscheidung kommunizierten, vom Posten des Nationalmannschaftsarztes zurückzutreten, begründeten Sie dies unter anderem damit, dass es für Sie keine Herausforderung mehr ist, am Spielfeldrand zu stehen und jungen Männern Wasserflaschen zuzuschmeißen. Wird diese Beschreibung der Rolle gerecht, die Sie als Arzt der Nationalmannschaft innehatten?

Prof. Dr. Meyer: Nein, das ist natürlich nicht Kern der Aufgabe. Diese Beschreibung steht für mich bildhaft dafür, dass sich mit sich verändernden Spielergenerationen, aber auch mit meinem Alter, das Verhältnis zu den Spielern etwas geändert hat. Man muss das gar nicht werten, aber es ist doch anders, als es noch vor ein paar Jahren gewesen ist. Ein Teil davon ist natürlichen Prozessen geschuldet, der Durchschnitts-Nationalspieler ist immer ähnlich alt, ich dagegen werde und wurde immer älter. Das führt natürlicherweise zu einer gewissen Distanz. Vereinfacht gesagt: Früher haben die Spieler ins Arztzimmer hereingeschaut, wenn es etwas zu besprechen gab, heute schreiben manche eher eine Whatsapp, wenn sie im Nachbarzimmer sind. Das ist einfach so, ich will es überhaupt nicht verteufeln, für die teaminterne Kommunikation kann das sehr hilfreich sein, aber gut finden muss ich es auch nicht.

DFB.de: Wie haben sich die Nationalspieler als Patienten im Lauf der Zeit gewandelt?

Prof. Dr. Meyer: Was man sagen kann, ist, dass die Spieler heute medizinische Begleitung von erheblich jüngerem Alter an gewohnt sind. In den Nachwuchsleistungszentren werden sie mittlerweile erheblich intensiver betreut, in aller Regel wissen sie dadurch auch besser über ihren Körper, ihre Gesundheit und sportgerechten Lebenswandel Bescheid.

DFB.de: Welche Konsequenzen hatte dies: Hat es Ihre Arbeit erleichtert oder erschwert?

Prof. Dr. Meyer: Die Spieler sind heute verständnisvoller und geben weniger Widerworte. Wobei ich schlecht einschätzen kann, ob mein über die Jahre gewachsenes Standing dabei nicht auch eine Rolle spielt. Wenn ein Spieler neu zur Mannschaft kommt und weiß, dass der Arzt schon bei etlichen Turnieren dabei war, dann – so habe ich es empfunden – bekommt man als Arzt einen Vertrauensvorschuss.

DFB.de: Ohne die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen – gab es in den zwei Jahrzehnten problematische Erkrankungen, besondere Fälle, mit denen Sie konfrontiert waren?

Prof. Dr. Meyer: Wenn, dann waren es am ehesten allergische Reaktionen. Das klingt nicht dramatisch, tatsächlich aber ist es so, dass allergische Reaktionen durchaus auch lebensgefährlich sein können. Es ist dann wichtig, ruhig zu bleiben, die richtige Entscheidung zu treffen, Ruhe auszustrahlen und damit den Patienten zu beruhigen. Solche Situationen gab es nicht oft, aber sie gab es.

DFB.de: Und ansonsten? Wann war der Nationalmannschaftsarzt Tim Meyer als Mediziner noch gefordert?

Prof. Dr. Meyer: Bei der Nationalmannschaft hat man es mit jungen, überdurchschnittlich fitten, gesunden jungen Männern zu tun. Wenn wir mal den Betreuerstab ausklammern. (lacht) In aller Regel behandeln wir also aus Sicht der Krankenhausmedizin "Problemchen", die die Spieler nicht umbringen, aber beeinträchtigen. In dieser Konstellation ist es manchmal wichtiger, die Nebenwirkungen der verwendeten Medikamente gut zu kennen, als die Wirkungen.

DFB.de: Warum?

Prof. Dr. Meyer: Weil es bei eher leichten Erkrankungen umso dramatischer wäre, wenn man mit der Behandlung ein echtes Problem erst verursacht. Ein anderer herausfordernder Aspekt ist das Handeln im real existierenden Umfeld des Fußballs. Hautblasen klingen zunächst völlig harmlos – aber wenn man als Fußballer eine Blase am Fuß hat, kann das ein echtes Problem darstellen. Dann ist die Behandlung prinzipiell nicht allzu herausfordernd, aber man muss schnell Beschwerdefreiheit herstellen. Außerdem kann es durchaus schwierig zu beurteilen sein, welche Belastung zu welchem Zeitpunkt möglich und sinnvoll ist.

DFB.de: Sie waren Mannschaftsarzt, daneben waren Sie inoffizieller Tischtennis-Champion im Kreis der Nationalmannschaft. Welche Spieler haben Sie am meisten gefordert, bei wem war es knapp?

Prof. Dr. Meyer: Es gibt einige, die richtig gut waren. Es erstaunt ja nicht, dass die Spieler grundsätzlich ganz patent sind im Umgang auch mit dem leichteren Ball. Ich war dennoch überrascht, wie stark einige waren. Tischtennis ist eine komplexe Sportart, und ein paar Spieler hatten das richtig drauf. Mario Götze und Marco Reus kann man da nennen, auch Miro Klose. Was sie an der Platte gezeigt haben, das war schon stark für Sportler, die nicht aus dem Tischtennis stammen. So richtig knapp war es aber nie...

DFB.de: Sie haben mit den Bundestrainern Rudi Völler bzw. Michael Skibbe, Jürgen Klinsmann, Joachim Löw und Hansi Flick gearbeitet. Wie groß waren die Unterschiede in der Zusammenarbeit?

Prof. Dr. Meyer: Mit Jogi habe ich länger zusammengearbeitet als mit allen anderen zusammen, insofern ist mein Eindruck aus dieser Zeit wesentlich ausgeprägter. Jogi hatte eine ruhige Hand, er hat delegiert, er hat vertraut. Unter allen Gesichtspunkten war es eine Freude, an seiner Seite sportmedizinisch tätig zu sein. So wie es war, so wünscht man es sich. Auch unter Hansi war es wirklich sehr gut, wobei ich mit ihm mehr die lange Zeit verbinde, in der ich ihn als Co-Trainer erlebt habe. Und da war er für mich ein wahnsinnig empathischer, feinfühliger Mensch, einer, der gute Antennen hatte und der sah, wenn mal eine Hand auf eine Schulter gelegt werden musste.

DFB.de: Und die Anfänge, wie war es bei Rudi Völler und Jürgen Klinsmann?

Prof. Dr. Meyer: Bei Michael Skibbe und Rudi Völler war es total einfach. Vor allem menschlich. Es ging für mich damals auch darum, in diesem Kreis anzukommen. Und ich weiß noch, wie ich mich mitunter gewundert habe, wie einfach das geht. Ist das wirklich die Nationalmannschaft – diese Frage habe ich mir damals mehr als einmal gestellt, weil meine Erwartung war, dass man sich seinen Platz dort mehr erkämpfen muss, dass es schwieriger ist, dort zu starten.

DFB.de: Fehlt noch Jürgen Klinsmann.

Prof. Dr. Meyer: Mit ihm war es anders, ich meine das aber gar nicht negativ. Unbestritten: Jürgen Klinsmann hat Prozesse angestoßen, die dem deutschen Fußball als Ganzes sehr gutgetan haben. Und er hat es mit Vehemenz gemacht. Wie gesagt: An vielen Stellen war das bereichernd, es hat im Miteinander aber auch Konflikte ausgelöst, die man dann aushalten musste. In ein bestehendes Expertenteam hat er in großer Anzahl neue Experten eingebracht – dass dabei Reibung und Kompetenzüberlappungen entstehen, liegt ja auf der Hand. Es war dann sehr hilfreich, dass zu den von Klinsmann geholten Experten ein Charakter wie Shad Forsythe gehörte. Ein Brückenbauer, einer, der harmonisch agiert und ein Gespür dafür hatte, dass die Konstellation für einige der Etablierten problematisch war. Auch die große Erfahrung im "alten" Betreuerstab war wertvoll, sie hat bewirkt, dass einige verstanden hatten, dass es nun darum geht, sich auch mal zurückzunehmen.

DFB.de: In zwei Jahrzehnten kommen viele Erlebnisse zusammen, an welche Augenblicke im Kreis der Nationalmannschaft erinnern Sie sich besonders gerne?

Prof. Dr. Meyer: Es sind wahnsinnig viele, wenn ich jetzt Erlebnisse nenne, fallen mir hinterher fünf andere ein, die ich genauso hätte nennen müssen. Die Reisen waren für mich immer besonders eindrucksvoll, auch die außerhalb der Turniere. Spontan habe ich das Bild vor Augen, als wir auf der Asienreise mit der Mannschaft auf dem Dach des Banyan Tree Hotels in Bangkok gesessen haben. Oder als ich mit Hans-Dieter Hermann 2013 in einer Sportsbar in Miami war. Wir waren die einzigen beiden, die das NBA-Finale geschaut haben. Alle anderen Gäste hatten sich nur für Ultimate Fighting interessiert. Uns hat das sehr verblüfft – immerhin standen die Miami Heat damals im NBA-Finale.

DFB.de: Aus sportlicher Sicht war die WM 2014 das Highlight.

Prof. Dr. Meyer: Ganz klar, ja.

DFB.de: Als wesentlicher Baustein des Erfolgs wird auch das Teamquartier, das Campo Bahia, genannt. Im Jahr vor der WM hatten Sie das Land Brasilien auf einer privaten Reise mit Ihrer Frau kennengelernt. Die Erfahrungen, die Sie dabei gemacht haben, haben Sie weitergegeben. Würden Sie protestieren bei der Behauptung, dass Sie bei der Entscheidung für dieses Teamquartier eine Rolle gespielt haben?

Prof. Dr. Meyer: Nicht mit Nachdruck. Ich sage es mit Vorsicht, aber ich glaube schon, dass ich diese Entscheidung mit beeinflusst habe. Oliver Bierhoff hat sich von unseren Erfahrungen berichten lassen, und ich vermute, dass unsere Berichte für ihn Relevanz hatten. Anfänglich war mein Favorit eher São Paulo, aber durch die Erfahrungen auf der Reise hat sich meine Meinung gewandelt, sodass ich am Ende zum Campo Bahia geraten habe. Ich will mich aber hier nicht mit fremden Federn schmücken. Den Mut, das dann auch durchzuziehen, den hat Oliver aufgebracht. Er hat damals aus den richtigen Beweggründen eine richtige Entscheidung getroffen. Er ist damit trotzdem Risiko gegangen. Wenn das schiefgegangen wäre – Oliver wäre zerrissen worden.

DFB.de: Sie hatten viele tolle Erlebnisse, haben viel gesehen. Stimmt es, dass Sie die vielen Eindrücke alle im Kopf gespeichert haben und kein Freund des Fotografierens sind?

Prof. Dr. Meyer: Ich weiß nicht, ob ich sie alle im Kopf gespeichert habe. Aber es stimmt, dass ich so gut wie keine Fotos mache. Umgekehrt ist es richtiger: Wenn ein Bild oder ein Eindruck so wichtig ist, dass er erhaltenswert ist, dann behalte ich ihn im Kopf. Darunter leidet dann indirekt meine Frau, wenn ich zurückkehre und nichts zeigen kann. Zum Glück fahren mit der Nationalmannschaft auch immer viele Fotografen – Profis und Amateure unter den Betreuern.

DFB.de: Wenn Sie nun an Ihre mehr als zwei Jahrzehnte bei der Nationalmannschaft denken, welches Bild haben Sie im Kopf?

Prof. Dr. Meyer: Es ist eine Kollage. Brasilien, der Abpfiff in Rio de Janeiro im Maracana, ist selbstverständlich dabei. Dann die Empfänge am Brandenburger Tor in Berlin. Ich sehe auch viele der berühmten Stadien und dort die Katakomben. Der Anschlag von Paris gehört dazu, die Zeit der Ungewissheit im Stade de France. Und dann natürlich viele Gesichter von vielen tollen Menschen, die rund um die Mannschaft arbeiten. Es sind viele gute Verbindungen entstanden und auch einige echte Freundschaften. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass diese Freundschaften Bestand haben werden, auch wenn ich nun nicht mehr als Arzt der deutschen Nationalmannschaft arbeite.

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