"Zuerst die Symbole, dann kommen Taten"

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) engagiert sich seit Jahren gegen Homophobie und für sexuelle Vielfalt. Beim Länderspiel in Düsseldorf gegen Lettland waren die Eckfahnen in Regenbogenfarben gehalten – ebenso wie die Binde, die Kapitän Manuel Neuer in seinem 100. Länderspiel trug. Auch anlässlich des "Pride Monats", mit dem die LSBTI-Community erreichte Fortschritte feiert, ordnen DFB-Vizepräsident Günter Distelrath und Thomas Hitzlsperger, Vizeeuropameister 2008 und heute erfolgreicher Vorstandsvorsitzender des VfB Stuttgart, das Thema ein und erklären, warum sie große Hoffnung auf die EURO 2024 in Deutschland setzen.

DFB.de: Herr Distelrath, Herr Hitzlsperger, im Rahmen des Testspiels der DFB-Auswahl gegen Lettland waren die Eckfahnen sowie die deutsche Kapitänsbinde in Regenbogenfarbe gehalten. Wie bewerten Sie dieses Zeichen?

Günter Distelrath: Ich freue mich darüber, dass der DFB erneut ein klares Statement für sexuelle Vielfalt gesetzt hat. Das ist und bleibt wichtig. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um dies zu tun.

Thomas Hitzlsperger: Ich finde es grundsätzlich auch sehr gut. Ohne dass ich es wissenschaftlich überprüft habe, habe ich den Eindruck, dass die Regenbogensymbolik im Fußball immer mehr Raum einnimmt. Ich denke zum Beispiel an VW. Das Unternehmen hat zeitweise sein Logo beim VfL Wolfsburg in Regenbogenfarben gestaltet. Das ist für mich persönlich eine sehr erfreuliche Entwicklung. Wichtig ist allerdings, dass die Menschen diese Symbolik nicht nur wahrnehmen, sondern auch verstehen, was sie bedeutet. Die Regenbogenflagge darf im Umkehrschluss nicht inflationär benutzt werden. Sonst nutzt sie sich als Zeichen schnell ab.

DFB.de: Ende des Monats begeht die Community den Christopher Street Day, der an die Polizeiwillkür bei einer Razzia in einer New Yorker Bar im Sommer 1969 erinnert. Das ist lange her. Ist es trotzdem immer noch wichtig, das Thema weiterhin so prominent öffentlich zu platzieren oder ist nicht längst eine eher gelassene Normalität eingekehrt?

Distelrath: Das wäre schön. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass wir bereits an dem Punkt angekommen sind, an dem wir nicht mehr bewusst solche Zeichen setzen müssen. Der DFB setzt sich seit vielen Jahren intensiv gegen Homophobie ein und bekennt sich gleichzeitig zur geschlechtlichen Vielfalt. Trotzdem ist die Gesellschaft in Teilen noch nicht so weit. Und auch der Fußball ist noch nicht überall so weit. Im Fußball sollte es einfach nur wichtig sein, dass man Tore für die eigene Mannschaft schießt oder gegnerische Treffer verhindert. Wir müssen an einen Punkt kommen, an dem es wirklich niemanden mehr interessiert, ob derjenige, der für seine Mannschaft ein Tor geschossen hat, nun heterosexuell oder homosexuell ist. Wenn es zu Diskriminierungen oder gar Gewalt kommt, müssen die Instanzen hart sanktionieren. Bei Homophobie muss es die Rote Karte geben.

Hitzlsperger: Ich glaube auch, dass wir das Thema weiter in der Öffentlichkeit platzieren müssen. Zuerst kommen die Symbole, dann kommen die Taten. Das muss aufeinander aufbauen.

DFB.de: Herr Distelrath, haben Sie Homophobie im Fußball schon erlebt?

Distelrath: Es ist sicherlich ein Thema, das müssen und wollen wir gar nicht wegdiskutieren. Aber ich habe es nur ganz selten wahrgenommen. Im privaten Umfeld übrigens habe ich Homophobie noch überhaupt nicht wahrgenommen. In unserem Freundeskreis gibt es auch einige homosexuelle Ehepaare. Das ist völlig normal und keinesfalls in irgendeiner Art und Weise ungewöhnlich.

DFB.de: Wie nehmen Sie das Thema im Profifußball wahr, Herr Hitzlsperger?

Hitzlsperger: Homosexualität findet im männlichen Profifußball nicht statt. Es wird selten darüber gesprochen. Und wenn das doch mal der Fall ist, werden immer dieselben Fragen gestellt und man bekommt immer die selben Antworten. Wir drehen uns hier etwas im Kreis. Dennoch glaube ich, dass sich der Fußball mit seiner gesellschaftlichen Präsenz und Verantwortung weiterentwickelt hat. Fußball ist politisch und auch die Spieler werden immer häufiger aufgefordert, zu bestimmten Themen Position zu beziehen. Jede Diskussion über geschlechtliche Vielfalt ist hilfreich, wenn sie konstruktiv geführt wird. Was fehlt, ist weiterhin die Sichtbarkeit von homosexuellen Fußballern.

DFB.de: Sie haben sich 2014 Ihrer Homosexualität öffentlich gemacht. Würden Sie heute genauso entscheiden?

Hitzlsperger: Ja, definitiv. Es hat mein Leben enorm bereichert. Ich hatte eine tolle Karriere als Fußballer. Mein Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich habe meine Laufbahn dann relativ früh beendet und schnell gemerkt, dass das Thema viel größer ist, als einfach nur meine persönliche Geschichte. Ich habe gespürt, dass ich anderen Menschen mit dem Schritt in die Öffentlichkeit helfen kann. Das hat sich bestätigt. Ich würde es deshalb immer wieder so machen und bin total glücklich mit der Entscheidung und mit allem, was danach gekommen ist. Ich habe wahrgenommen, dass ich einen wichtigen Beitrag leisten konnte. Ich hatte Vorbilder, die mich ermutigt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen und so bin ich das vielleicht auch für andere.

DFB.de: Was raten Sie aktuellen Profis? Ist die Gesellschaft schon so weit, um schwule Fußballer zu akzeptieren?

Hitzlsperger: Natürlich geht das. Aber es hängt entscheidend von den Personen ab. Man braucht schon viel Selbstbewusstsein, um die Aufmerksamkeit zu ertragen. Es muss einem bewusst sein, dass man danach im Rampenlicht und unter besonderer Beobachtung stehen wird. Dafür muss man gewappnet sein und stabil in seiner Persönlichkeit. Die Gesellschaft ist bereit für diesen Schritt. Ich bin mir sicher, dass auch die große Fußballgemeinschaft das absolut befürworten würde.

Distelrath: Das ist eine sensible Frage, die für mich pauschal nur schwer zu beantworten ist. Ich glaube, dass der größte Teil der Fans mit Homosexualität kein Problem hat. Aber es gibt immer noch Gruppen, die das nicht akzeptieren und leider sicht- und hörbar werden. Es ist schwierig, darüber eine Beurteilung vorzunehmen, weil jeder Mensch und jede Situation einzigartig ist. Deshalb kann es keinen Masterplan für ein Coming-Out geben. Das muss jeder für sich selbst beurteilen. Aber von unserer Seite gibt es selbstverständlich jede mögliche Unterstützung, sollte sich ein/e Fußballer*in, Schiedsrichter*in oder Trainer*in zu diesem Schritt entscheiden.

DFB.de: Zahlreiche Fußballerinnen stehen offen zu ihrer Homosexualität. Warum ist das bei den Frauen möglich, bei den Männern aber nicht?

Distelrath: Genau diese Frage stelle ich auch regelmäßig in verschiedenen Gremien mit Expertinnen und Experten. Warum ist das eigentlich so? Ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht ist es so, dass es eher akzeptiert wird. Es stimmt, dass sich Frauen viel eher outen – und das nicht nur im sportlichen Bereich. Bei Männern ist die Zurückhaltung viel größer. Womöglich ist die Sorge bei den Fußballern groß, dass sie Probleme in der Kabine bekommen oder dass ihr Marktwert sinken könnte. Von den Fans höre ich immer wieder, dass ihnen die Leistung auf dem Platz wichtig ist und nicht die sexuelle Orientierung. Dies zeigt ja auch eine vor Kurzem vorgenommene Umfrage des kicker-Sportmagazins unter den Fanklubs der Bundesligisten. Auf die Frage: "Würde es euch stören, wenn sich ein Spieler eurer Mannschaft outen würde?" antworteten 100 Prozent mit Nein.

Hitzlsperger: Ich bin mir nicht sicher, ob wir an dieser Stelle Frauen- und Männerfußball vergleichen sollten. Es stimmt, dass es dieselbe Sportart ist. Und dennoch unterscheiden sich Frauen- und Männerfußball enorm. Ich finde es allerdings super für die Frauen, die Fußball spielen, dass sie bei diesem Thema keine Diskussionen führen müssen.

DFB.de: Der DFB kämpft mit vielen Maßnahmen gegen Homophobie – unter anderem mit einer unabhängigen Anlauf- und Kompetenzstelle für Gewalt- und Diskriminierungsvorfällen. Wie bewerten Sie die Bemühungen?

Distelrath: Ich halte sie für sehr wichtig. Ich habe selbst sehr aktiv daran mitgewirkt, dass wir in jedem Landesverband des DFB eine solche Anlaufstelle haben. Dort können sich Opfer von Gewalt- und Diskriminierungsfällen melden. Selbstverständlich auch bei der zentralen Anlaufstelle in Berlin, die wir zusammen mit dem Lesben- und Schwulenverband betreiben. Wir haben ein großes Netzwerk von Expert*innen aufgebaut, das Hilfestellung in allen Fragen zu dem Thema geben kann. Das Angebot wird bislang sehr gut angenommen. Deshalb wollen wir es gerne ausweiten und den Profibereich stärker einbinden.

DFB.de: Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen waren das Hissen der Regenbogenfahne vor der DFB-Zentrale in Frankfurt, die Teilnahme am Christopher Street Day und die massive Unterstützung der 11Freunde-Kampagne #ihr könnt auf uns zählen. Wie wichtig sind solche Maßnahmen?

Distelrath: Besonders die Aktion mit der Regenbogenfahne habe ich als sehr starkes Zeichen wahrgenommen. Auch die 11Freunde-Kampagne fand ich hervorragend und habe sie gerne unterstützt. Insgesamt 800 Stimmen aus dem Fußball haben sich für Vielfalt und Offenheit ausgesprochen. Mir ist es wichtig, dass es nicht bei einzelnen Aktionen bleibt, sondern dass wir zum Beispiel in den regelmäßigen Austausch mit Fangruppen und Vereinen kommen. Wenn wir Kontinuität in unsere Bemühungen bekommen, werden wir schneller unser Ziel erreichen.

DFB.de: Sind wir bei dem Thema also grundsätzlich auf dem richtigen Weg, Herr Hitzlsperger?

Hitzlsperger: Ja, das denke ich schon. Der DFB geht an dieser Stelle mit sehr gutem Beispiel voran. Ich finde es bemerkenswert, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich mit großem Engagement gegen Homophobie und Diskriminierung im Allgemeinen einsetzen – vor allem auch im Amateurfußball. Das hätte meiner Meinung nach mehr Beachtung verdient. Aber so funktioniert leider unsere Gesellschaft nicht. Das muss man akzeptieren, aber dennoch versuchen, im Hintergrund die anderen wichtigen Themen weiter voranzubringen.

DFB.de: Sehen Sie es auch so, dass der Fußball in Punkto Akzeptanz von Homosexualität immer noch vielen anderen gesellschaftlichen Bereich hinterherhinkt?

Distelrath: Ja, das sehe ich leider auch so. In anderen Sportarten ist Homosexualität auch unter Profisportlern auf dem Weg zur gelebten Normalität. Ich denke an Tennis, Golf, Radsport, Rugby. Da redet niemand über die geschlechtliche Orientierung. Wir als DFB sind gefordert, das Thema in eine gelebte Normalität zu überführen. Wir haben zum Beispiel über den Personenstandseintrag "divers" diskutiert und uns gefragt, wie wir damit umgehen sollen. Wir werden das Spielrecht an dieser Stelle ergänzen. Es tut sich an vielen Stellen etwas und wir denken hier sehr nach vorne gerichtet. Aber es geht für meinen Geschmack dennoch manchmal zu langsam.

DFB.de: Welche Rolle kann die EURO 2024 in Deutschland einnehmen, damit sich auch homosexuelle Fußballer*innen und Fans willkommen fühlen?

Distelrath: Jedes große Turnier kann hier eine wichtige Rolle einnehmen, wenn wir die riesige öffentliche Wahrnehmung für unser Anliegen nutzen. Seit 15 Jahren sind wir mit dem Thema aktiv unterwegs. Vielleicht kann die EURO 2024 im eigenen Land eine Zielmarke sein, um das Thema geschlechtliche Vielfalt zur Normalität zu machen, über die wir dann gar nicht mehr in einem umfangreichen Interview sprechen müssen. Mein Wunsch ist es, dass wir irgendwann Eckfahnen oder Kapitänsbinden in Regenbogenfarben nicht mehr brauchen, weil wir im Fußball ein Klima erreicht haben, in dem die sexuelle Orientierung eines Menschen keine Rolle mehr spielt.

Hitzlsperger: Wir müssen die Zeit bis 2024 nutzen und weiter an unserem gemeinsamen Thema arbeiten. Wir können das Turnier neben allen sportlichen Ambitionen, die natürlich im Vordergrund stehen werden, auch dafür nutzen, weiter gegen Homophobie zu kämpfen. Vier Wochen lang wird die Welt auf Deutschland schauen. Da kann der DFB die Themen selbst setzen, die wir für relevant halten. Aber es gibt noch viele andere Gruppen, die ihr Anliegen ebenfalls der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Wir müssen das alles unter einen Hut bekommen.

[sw]

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) engagiert sich seit Jahren gegen Homophobie und für sexuelle Vielfalt. Beim Länderspiel in Düsseldorf gegen Lettland waren die Eckfahnen in Regenbogenfarben gehalten – ebenso wie die Binde, die Kapitän Manuel Neuer in seinem 100. Länderspiel trug. Auch anlässlich des "Pride Monats", mit dem die LSBTI-Community erreichte Fortschritte feiert, ordnen DFB-Vizepräsident Günter Distelrath und Thomas Hitzlsperger, Vizeeuropameister 2008 und heute erfolgreicher Vorstandsvorsitzender des VfB Stuttgart, das Thema ein und erklären, warum sie große Hoffnung auf die EURO 2024 in Deutschland setzen.

DFB.de: Herr Distelrath, Herr Hitzlsperger, im Rahmen des Testspiels der DFB-Auswahl gegen Lettland waren die Eckfahnen sowie die deutsche Kapitänsbinde in Regenbogenfarbe gehalten. Wie bewerten Sie dieses Zeichen?

Günter Distelrath: Ich freue mich darüber, dass der DFB erneut ein klares Statement für sexuelle Vielfalt gesetzt hat. Das ist und bleibt wichtig. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um dies zu tun.

Thomas Hitzlsperger: Ich finde es grundsätzlich auch sehr gut. Ohne dass ich es wissenschaftlich überprüft habe, habe ich den Eindruck, dass die Regenbogensymbolik im Fußball immer mehr Raum einnimmt. Ich denke zum Beispiel an VW. Das Unternehmen hat zeitweise sein Logo beim VfL Wolfsburg in Regenbogenfarben gestaltet. Das ist für mich persönlich eine sehr erfreuliche Entwicklung. Wichtig ist allerdings, dass die Menschen diese Symbolik nicht nur wahrnehmen, sondern auch verstehen, was sie bedeutet. Die Regenbogenflagge darf im Umkehrschluss nicht inflationär benutzt werden. Sonst nutzt sie sich als Zeichen schnell ab.

DFB.de: Ende des Monats begeht die Community den Christopher Street Day, der an die Polizeiwillkür bei einer Razzia in einer New Yorker Bar im Sommer 1969 erinnert. Das ist lange her. Ist es trotzdem immer noch wichtig, das Thema weiterhin so prominent öffentlich zu platzieren oder ist nicht längst eine eher gelassene Normalität eingekehrt?

Distelrath: Das wäre schön. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass wir bereits an dem Punkt angekommen sind, an dem wir nicht mehr bewusst solche Zeichen setzen müssen. Der DFB setzt sich seit vielen Jahren intensiv gegen Homophobie ein und bekennt sich gleichzeitig zur geschlechtlichen Vielfalt. Trotzdem ist die Gesellschaft in Teilen noch nicht so weit. Und auch der Fußball ist noch nicht überall so weit. Im Fußball sollte es einfach nur wichtig sein, dass man Tore für die eigene Mannschaft schießt oder gegnerische Treffer verhindert. Wir müssen an einen Punkt kommen, an dem es wirklich niemanden mehr interessiert, ob derjenige, der für seine Mannschaft ein Tor geschossen hat, nun heterosexuell oder homosexuell ist. Wenn es zu Diskriminierungen oder gar Gewalt kommt, müssen die Instanzen hart sanktionieren. Bei Homophobie muss es die Rote Karte geben.

Hitzlsperger: Ich glaube auch, dass wir das Thema weiter in der Öffentlichkeit platzieren müssen. Zuerst kommen die Symbole, dann kommen die Taten. Das muss aufeinander aufbauen.

DFB.de: Herr Distelrath, haben Sie Homophobie im Fußball schon erlebt?

Distelrath: Es ist sicherlich ein Thema, das müssen und wollen wir gar nicht wegdiskutieren. Aber ich habe es nur ganz selten wahrgenommen. Im privaten Umfeld übrigens habe ich Homophobie noch überhaupt nicht wahrgenommen. In unserem Freundeskreis gibt es auch einige homosexuelle Ehepaare. Das ist völlig normal und keinesfalls in irgendeiner Art und Weise ungewöhnlich.

DFB.de: Wie nehmen Sie das Thema im Profifußball wahr, Herr Hitzlsperger?

Hitzlsperger: Homosexualität findet im männlichen Profifußball nicht statt. Es wird selten darüber gesprochen. Und wenn das doch mal der Fall ist, werden immer dieselben Fragen gestellt und man bekommt immer die selben Antworten. Wir drehen uns hier etwas im Kreis. Dennoch glaube ich, dass sich der Fußball mit seiner gesellschaftlichen Präsenz und Verantwortung weiterentwickelt hat. Fußball ist politisch und auch die Spieler werden immer häufiger aufgefordert, zu bestimmten Themen Position zu beziehen. Jede Diskussion über geschlechtliche Vielfalt ist hilfreich, wenn sie konstruktiv geführt wird. Was fehlt, ist weiterhin die Sichtbarkeit von homosexuellen Fußballern.

DFB.de: Sie haben sich 2014 Ihrer Homosexualität öffentlich gemacht. Würden Sie heute genauso entscheiden?

Hitzlsperger: Ja, definitiv. Es hat mein Leben enorm bereichert. Ich hatte eine tolle Karriere als Fußballer. Mein Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich habe meine Laufbahn dann relativ früh beendet und schnell gemerkt, dass das Thema viel größer ist, als einfach nur meine persönliche Geschichte. Ich habe gespürt, dass ich anderen Menschen mit dem Schritt in die Öffentlichkeit helfen kann. Das hat sich bestätigt. Ich würde es deshalb immer wieder so machen und bin total glücklich mit der Entscheidung und mit allem, was danach gekommen ist. Ich habe wahrgenommen, dass ich einen wichtigen Beitrag leisten konnte. Ich hatte Vorbilder, die mich ermutigt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen und so bin ich das vielleicht auch für andere.

DFB.de: Was raten Sie aktuellen Profis? Ist die Gesellschaft schon so weit, um schwule Fußballer zu akzeptieren?

Hitzlsperger: Natürlich geht das. Aber es hängt entscheidend von den Personen ab. Man braucht schon viel Selbstbewusstsein, um die Aufmerksamkeit zu ertragen. Es muss einem bewusst sein, dass man danach im Rampenlicht und unter besonderer Beobachtung stehen wird. Dafür muss man gewappnet sein und stabil in seiner Persönlichkeit. Die Gesellschaft ist bereit für diesen Schritt. Ich bin mir sicher, dass auch die große Fußballgemeinschaft das absolut befürworten würde.

Distelrath: Das ist eine sensible Frage, die für mich pauschal nur schwer zu beantworten ist. Ich glaube, dass der größte Teil der Fans mit Homosexualität kein Problem hat. Aber es gibt immer noch Gruppen, die das nicht akzeptieren und leider sicht- und hörbar werden. Es ist schwierig, darüber eine Beurteilung vorzunehmen, weil jeder Mensch und jede Situation einzigartig ist. Deshalb kann es keinen Masterplan für ein Coming-Out geben. Das muss jeder für sich selbst beurteilen. Aber von unserer Seite gibt es selbstverständlich jede mögliche Unterstützung, sollte sich ein/e Fußballer*in, Schiedsrichter*in oder Trainer*in zu diesem Schritt entscheiden.

DFB.de: Zahlreiche Fußballerinnen stehen offen zu ihrer Homosexualität. Warum ist das bei den Frauen möglich, bei den Männern aber nicht?

Distelrath: Genau diese Frage stelle ich auch regelmäßig in verschiedenen Gremien mit Expertinnen und Experten. Warum ist das eigentlich so? Ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht ist es so, dass es eher akzeptiert wird. Es stimmt, dass sich Frauen viel eher outen – und das nicht nur im sportlichen Bereich. Bei Männern ist die Zurückhaltung viel größer. Womöglich ist die Sorge bei den Fußballern groß, dass sie Probleme in der Kabine bekommen oder dass ihr Marktwert sinken könnte. Von den Fans höre ich immer wieder, dass ihnen die Leistung auf dem Platz wichtig ist und nicht die sexuelle Orientierung. Dies zeigt ja auch eine vor Kurzem vorgenommene Umfrage des kicker-Sportmagazins unter den Fanklubs der Bundesligisten. Auf die Frage: "Würde es euch stören, wenn sich ein Spieler eurer Mannschaft outen würde?" antworteten 100 Prozent mit Nein.

Hitzlsperger: Ich bin mir nicht sicher, ob wir an dieser Stelle Frauen- und Männerfußball vergleichen sollten. Es stimmt, dass es dieselbe Sportart ist. Und dennoch unterscheiden sich Frauen- und Männerfußball enorm. Ich finde es allerdings super für die Frauen, die Fußball spielen, dass sie bei diesem Thema keine Diskussionen führen müssen.

DFB.de: Der DFB kämpft mit vielen Maßnahmen gegen Homophobie – unter anderem mit einer unabhängigen Anlauf- und Kompetenzstelle für Gewalt- und Diskriminierungsvorfällen. Wie bewerten Sie die Bemühungen?

Distelrath: Ich halte sie für sehr wichtig. Ich habe selbst sehr aktiv daran mitgewirkt, dass wir in jedem Landesverband des DFB eine solche Anlaufstelle haben. Dort können sich Opfer von Gewalt- und Diskriminierungsfällen melden. Selbstverständlich auch bei der zentralen Anlaufstelle in Berlin, die wir zusammen mit dem Lesben- und Schwulenverband betreiben. Wir haben ein großes Netzwerk von Expert*innen aufgebaut, das Hilfestellung in allen Fragen zu dem Thema geben kann. Das Angebot wird bislang sehr gut angenommen. Deshalb wollen wir es gerne ausweiten und den Profibereich stärker einbinden.

DFB.de: Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen waren das Hissen der Regenbogenfahne vor der DFB-Zentrale in Frankfurt, die Teilnahme am Christopher Street Day und die massive Unterstützung der 11Freunde-Kampagne #ihr könnt auf uns zählen. Wie wichtig sind solche Maßnahmen?

Distelrath: Besonders die Aktion mit der Regenbogenfahne habe ich als sehr starkes Zeichen wahrgenommen. Auch die 11Freunde-Kampagne fand ich hervorragend und habe sie gerne unterstützt. Insgesamt 800 Stimmen aus dem Fußball haben sich für Vielfalt und Offenheit ausgesprochen. Mir ist es wichtig, dass es nicht bei einzelnen Aktionen bleibt, sondern dass wir zum Beispiel in den regelmäßigen Austausch mit Fangruppen und Vereinen kommen. Wenn wir Kontinuität in unsere Bemühungen bekommen, werden wir schneller unser Ziel erreichen.

DFB.de: Sind wir bei dem Thema also grundsätzlich auf dem richtigen Weg, Herr Hitzlsperger?

Hitzlsperger: Ja, das denke ich schon. Der DFB geht an dieser Stelle mit sehr gutem Beispiel voran. Ich finde es bemerkenswert, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich mit großem Engagement gegen Homophobie und Diskriminierung im Allgemeinen einsetzen – vor allem auch im Amateurfußball. Das hätte meiner Meinung nach mehr Beachtung verdient. Aber so funktioniert leider unsere Gesellschaft nicht. Das muss man akzeptieren, aber dennoch versuchen, im Hintergrund die anderen wichtigen Themen weiter voranzubringen.

DFB.de: Sehen Sie es auch so, dass der Fußball in Punkto Akzeptanz von Homosexualität immer noch vielen anderen gesellschaftlichen Bereich hinterherhinkt?

Distelrath: Ja, das sehe ich leider auch so. In anderen Sportarten ist Homosexualität auch unter Profisportlern auf dem Weg zur gelebten Normalität. Ich denke an Tennis, Golf, Radsport, Rugby. Da redet niemand über die geschlechtliche Orientierung. Wir als DFB sind gefordert, das Thema in eine gelebte Normalität zu überführen. Wir haben zum Beispiel über den Personenstandseintrag "divers" diskutiert und uns gefragt, wie wir damit umgehen sollen. Wir werden das Spielrecht an dieser Stelle ergänzen. Es tut sich an vielen Stellen etwas und wir denken hier sehr nach vorne gerichtet. Aber es geht für meinen Geschmack dennoch manchmal zu langsam.

DFB.de: Welche Rolle kann die EURO 2024 in Deutschland einnehmen, damit sich auch homosexuelle Fußballer*innen und Fans willkommen fühlen?

Distelrath: Jedes große Turnier kann hier eine wichtige Rolle einnehmen, wenn wir die riesige öffentliche Wahrnehmung für unser Anliegen nutzen. Seit 15 Jahren sind wir mit dem Thema aktiv unterwegs. Vielleicht kann die EURO 2024 im eigenen Land eine Zielmarke sein, um das Thema geschlechtliche Vielfalt zur Normalität zu machen, über die wir dann gar nicht mehr in einem umfangreichen Interview sprechen müssen. Mein Wunsch ist es, dass wir irgendwann Eckfahnen oder Kapitänsbinden in Regenbogenfarben nicht mehr brauchen, weil wir im Fußball ein Klima erreicht haben, in dem die sexuelle Orientierung eines Menschen keine Rolle mehr spielt.

Hitzlsperger: Wir müssen die Zeit bis 2024 nutzen und weiter an unserem gemeinsamen Thema arbeiten. Wir können das Turnier neben allen sportlichen Ambitionen, die natürlich im Vordergrund stehen werden, auch dafür nutzen, weiter gegen Homophobie zu kämpfen. Vier Wochen lang wird die Welt auf Deutschland schauen. Da kann der DFB die Themen selbst setzen, die wir für relevant halten. Aber es gibt noch viele andere Gruppen, die ihr Anliegen ebenfalls der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Wir müssen das alles unter einen Hut bekommen.

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