Längstes Elfmeterschießen der EM-Geschichte

Am nächsten Tag kam es zum einzigen Duell zweier Europameister und die Deutschen hätten viel darum gegeben, es nicht schon im Viertelfinale bestreiten zu müssen. Die Zeitungen waren voll mit den Geschichten und Horrorstatistiken, die die bisherigen Turnierspiele gegen Italien erbracht hatten: kein Sieg aus acht Spielen, alle K.o.-Spiele verloren, das 1:2 von Warschau im Halbfinale 2012 noch in schlechtester Erinnerung. Joachim Löw nahm den Gewinner des Slowakei-Spiels, Julian Draxler, wieder aus dem Team und baute auf eine Dreierkette, weshalb Benedikt Höwedes in die Startelf zurückkehrte. Italiens Trainer Antonio Conte flötete: "Dass der Weltmeister für uns sein System ändert, zeigt wie viel Respekt die Deutschen hatten." Für Kapitän Bastian Schweinsteiger blieb auch im fünften Spiel nur die Bank, die er aber schon nach 16 Minuten verlassen durfte, als sich Sami Khedira verletzte. Auch in Bordeaux zeigte der Weltmeister sein gewohntes Spiel mit viel Ballbesitz, hatte aber im Gegensatz zur Vorrunde wenige echte Chancen. Der Druck wurde dennoch immer größer, die Italiener begingen einige Fouls und sammelten binnen drei Minuten drei Gelbe Karten ein. Nach 65 Minuten fingen sie sich ein Tor, das Jonas Hector über links vorbereitete und Mesut Özil direkt vor der deutschen Kurve in Bordeaux vollendete. "Italia, Italia, nun futuro", klang es nun spöttisch durch die Arena, aber nicht allzu lange. Der bis dahin so ausgezeichnete Boateng beging nach 77 Minuten im Luftkampf ein unnötiges Handspiel im Strafraum, den fälligen Elfmeter verwandelte Bonucci. Es war das erste Gegentor für Manuel Neuer nach 492 EM-Minuten und es war der Wegweiser in die Verlängerung. In die ging Deutschland mit Draxler (für Gomez), ein Tor war auch ihm nicht vergönnt. So kam es zum epochalen Elfmeterschießen, dem mit 18 Schüssen längsten der EM-Historie. Es brachte den Superlativ, dass drei Deutsche verschossen (Müller, Özil, Schweinsteiger), dass drei Italiener sogar hintereinander verschossen und das Novum, dass am Ende Italien gegen Deutschland bei einem Turnier verlor. Schweinsteiger hatte beim Stand von 3:3 den ersten Matchball noch vergeben, danach stand die DFB-Elf dreimal vor dem Aus, sofern Mats Hummels, Joshua Kimmich oder Jerome Boateng – alles keine Elfmeterspezialisten – nicht getroffen hätten. Aber sie trafen und als Elfmeter Nummer 17 durch Matteo Darmian von Neuer gehalten wurde, lag alle Last dieser Welt auf den Schultern des Kölners Jonas Hector. Dem Linksverteidiger gingen auf dem Weg zum Punkt tausend Gedanken durch den Kopf und so geriet auch sein Schuss: flach und ziemlich zentral. Aber er flutschte dem alten Buffon unter den Armen durch. "Wenn man bedenkt, dass ich das erste Mal bei so einem großen Turnier dabei bin, dann war das sicher mein größter Moment", schnaufte der Kölner durch. Und mit ihm das ganze Land. Deutschland hatte seinen Alptraum besiegt und stand zum dritten Mal unter Joachim Löw im Halbfinale. "Jetzt sind wir frei für den Titel", frohlockte die Bild am Sonntag.

Der Gegner wurde am nächsten Tag in Paris ermittelt, wo das Märchenbuch von den stolzen Wikingern bei dieser EM zugeklappt wurde. Die Isländer mussten den bisherigen Anstrengungen und ihrer fehlenden Erfahrung Tribut zollen und kamen gegen den Gastgeber beinahe unter die Räder. Zur Pause stand es schon 4:0 für Les Bleues, am Ende eines allzu einseitigen Spiels 5:2. Dennoch feierten sie noch 20 Minuten nach Abpfiff im Regen von Saint-Denis mit den Fans ihren Abenteuertrip. Stürmer Eidur Gudjohnsen sagte: "Wir haben den Traum gelebt, doch jeder Traum geht zu Ende." Von einem bösen Erwachen konnte keine Rede sein, in der Heimat erwartete sie ein grandioser Empfang und ein letztes UUUUU. Die Franzosen hatten endlich einmal überzeugt, selbst der so glücklose Mittelstürmer Olivier Giroud fand nun das Tor (zweimal) und erklärte: "Ich bin stolz, wie die Mannschaft gespielt hat. Wir sind glücklich für Frankreich und für uns." Das führende Sportblatt des Landes, "L’Equipe", stellte fest: "Endlich ein Spiel ohne Zittern."

Halbfinalaus nach "bestem Spiel"

Nach drei Tagen Pause kamen die Halbfinals. Die Außenseiter aus Portugal und Wales ermittelten in Lyon den ersten Finalisten. Dazu reichten drei furiose portugiesische Minuten. Nach torloser erster Hälfte durften die Waliser noch vom Trip nach Paris träumen, dann riss der bis dahin bei dieser EM enttäuschende Weltstar Cristiano Ronaldo die Initiative an sich. Vor dem Spiel bereits bewies er Größe, als er sich mit aufdringlichen Volunteers noch auf dem Platz fotografieren ließ und gelassen lächelte. In Minute 50 dann stieg er höher als alle anderen, stand förmlich kurz in der Luft und köpfte die Flanke des kommenden Dortmunders Raphael Guerreiro in die Maschen. Die UEFA ermittelte, "CR7" habe den Ball in 2,53 Metern Höhe erwischt. Alle (Hoch-) Achtung! Damit egalisierte er den Torrekord von Michel Platini, der bei EM-Endrunden ebenfalls neunmal traf – der allerdings bei einem einzigen Turnier (1984). Den Walisern blieb kaum Zeit, sich von dem Schock zu erholen, da legte Portugal nach. Wieder wollte Ronaldo ein Tor schießen, doch Kollege Nani musste noch behilflich sein und fälschte seinen Schuss entscheidend ab. Im Zentrum der Ovationen stand indes der "Galaktische". Englands Sun feierte ihn: "Cristiano Ronaldo bricht Träume, Herzen, Rekorde." Mehr brachte und brauchte dieses Spiel nicht, das wie alle bisherigen der Portugiesen keinen von den Sitzen riss. Aber das schien Methode zu sein. "Ich habe Portugal immer als großartiges Team gesehen. Manchmal haben wir brillanter gesehen, manchmal nicht", wehrte Trainer Fernando Santos die Kritiker ab. Deren Zahl schwand nach dem zweiten Finaleinzug bei einer EM nur unwesentlich. Der Beifall galt den Verlieren: Wales verließ Frankreich erhobenen Hauptes. Gareth Bale gab wieder, was seine Landsleute fühlten: "Es ist sehr enttäuschend, wenn man so dicht vor dem Endspiel steht, aber es ist dennoch ein fantastischer Moment für uns. Weil wir eine Menge erreicht haben und mit Stolz und Leidenschaft gespielt haben."

Am 7. Juli traf der Gastgeber in Marseille auf den Weltmeister und die Fachleute waren sich einig, dass der Sieger dieses Spiels auch das Turnier gewinnen würde. Für Frankreich sprach nach meist durchwachsenen Leistungen nicht viel mehr als der Heimvorteil. Aber auch der war gegen die Deutschen, die bei Turnieren neunmal – und damit immer – gegen Gastgeber gewonnen hatten, eher ein Nachteil. Löw sah sich zu zwei Änderungen gezwungen und machte freiwillig noch eine dritte: für den gesperrten Hummels und den verletzten Khedira rückten erstmals bei der EM Schweinsteiger und Emre Can in die Elf, für Gomez stürmte wieder Draxler, während der weiter torlose Müller in die vorderste Spitze rückte. Es war ja scheinbar egal, wen er aufstellte, die Idee blieb dieselbe und die Spiele glichen sich wie ein Ei dem anderen. Nur nicht die Ergebnisse und so kam es, dass nach einem weiteren Ballbesitzfestival (68 %) der Männer in Schwarz und Weiß diesmal eine Niederlage stand. "Wir haben heute unser bestes Spiel bei der EM gemacht, so komisch das klingt nach einem 0:2. Ich kann der Mannschaft nichts vorwerfen", sagte Toni Kroos und sein Bundestrainer gab ihm Recht. "Heute hatten wir das Glück nicht auf unserer Seite, aber ich kann keinem einen Vorwurf machen", vernahm man beinahe gleichlautende Worte von Löw, der zum zweiten Mal in Folge im Halbfinale gescheitert war. Wie kam es dazu? Wie schon gegen Italien gab es einen ärgerlichen Handelfmeter gegen das DFB-Team, diesmal verursacht ausgerechnet von Rückkehrer Schweinsteiger. "Meine Hand hat da nichts zu suchen, das weiß ich auch. Ich kann leider nicht erklären, warum sie hochging", gab der Pechvogel zu Protokoll. Antoine Griezmann verwandelte den Elfmeter Sekunden vor der Pause zum 1:0 und dem ersten Rückstand bei dieser EM liefen die Deutschen bis zuletzt erfolglos hinterher. Boateng schied nach einer Stunde verletzt aus und sein Vertreter Mustafi ließ sich nach Kimmichs Fehlpass von Paul Pogba austanzen. Dessen Flanke klatschte Neuer vor die Füße von Griezmann, der ihn tunnelte und auf 2:0 (72.) stellte. Das war der entscheidende Genickschlag, auch die spät ins Rennen geworfenen Götze und Leroy Sané konnten das Spiel nicht mehr drehen.

Raus mit Applaus? Nicht nur. Wenn Ballbesitz zum Selbstzweck und das Toreschießen vergessen wird (nur sieben Treffer in sechs Spielen), kommt man zwangsläufig irgendwann an eine Endstation. "Übertriebene Taktik hat Deutschland nicht geholfen", schrieb Italiens Corriere della Sera und Spaniens El Mundo stellte fest: "Das deutsche Team spielt weltweit den besten Fußball. Aber es ist in brenzligen Situationen zu gutmütig." Im Gegensatz zu 2012 gab es diesmal keine Trainerdiskussion, der WM-Kredit reichte noch aus. So sahen es zumindest 84 Prozent der Teilnehmer an einer Umfrage von Bild am Sonntag. Der Tenor: In Frankreich war ein tolles Team in Schönheit gestorben, aber es blieb ein tolles Team – das die Gunst der Massen nicht verspielt hatte. Es verlangte auch niemand kategorisch einen Umbruch. Franz Beckenbauer kommentierte: "Trotz des Ausscheidens haben wir eine gute EM gespielt."

Portugal will nicht ins Elfmeterschießen

Im Finale am 10. Juli standen aber die Teams mit den besten Ergebnissen: Frankreich und Portugal waren ungeschlagen durchs Turnier gegangen, obwohl die Portugiesen innerhalb von 90 Minuten nur ein Spiel (das Halbfinale) gewannen. Auch waren sie in der Vorrunde nur als Dritter weiter gekommen. Über die Favoritenrolle musste sich also niemand lange den Kopf zerbrechen. Frankreich träumte vom dritten Titel, alle 16 Jahre – nach 1984 und 2000 – schien es dran zu sein. Alle Welt hätte es ihnen gegönnt nach den schrecklichen Anschlägen in den Monaten vor der EM, die selbst die sprichwörtliche Lebensfreude der Franzosen trübten. Aber der Fußballgott hatte etwas dagegen, wie sonst hätte der Schuss von André-Pierre Gignac in der zweiten Minute der Nachspielzeit vom Innenpfosten ins Feld zurückprallen können? Es wäre der verdiente Siegtreffer in einem hart umkämpften, aber nicht sonderlich guten Finale gewesen, dessen stärkste Geschichte einer schrieb, der zu diesem Zeitpunkt schon längst draußen saß – oder herum hüpfte. Ausgerechnet Cristiano Ronaldo musste schon nach 25 Minuten ausscheiden, nach einem Foul von Payet früh am Knie verletzt und mit Bandage noch kurz weiter spielend, musste er unter Tränen vom Platz getragen werden. Dem Exaltierten, oft Gegenstand von Häme und Spott, schwappte eine Welle des Mitleids entgegen, selbst Frankreichs Trainer Didier Deschamps eilte zu ihm an die Bahre um ihm Trost zu spenden. Ohne den Megastar fehlten dem Finale, das sich bei drückender Schwüle auch ein Geschwader von Riesenmotten als Tummelplatz ausgesucht hatte, die Glanzlichter. Mit 0:0 ging es vor 75.868 Zuschauern im Stadion St. Denis in die Verlängerung. Vor der avancierte Ronaldo zum Trainer, er redete wie schon in der Halbzeit auf alle Mitspieler ein, während sich Fernando Santos im Hintergrund hielt. Einmal schubste CR7 seinen Trainer sogar weg. So erhielt der dritte portugiesische Einwechselspieler Eder die entscheidende"Anweisung" aus dem Munde seines humpelnden Kapitäns. "Er hat mir gesagt, ich muss das Siegtor schießen", erzählte es Eder, als alle von ihm wissen wollten, was er zu erzählen habe. Besagter Eder nämlich war es, der dieses Finale entschied, sein Land in einen Freudentaumel und Frankreich in ein Tal der Tränen verwandelte. Der Treffer hatte sich angekündigt: in der 104. Minute musste Hugo Lloris einen Kopfball von Renato Sanches parieren, in der 108. Minute traf Guerreiro die Latte. Eindeutig: Portugal wollte nicht ins Elfmeterschießen. Nach Eders 20-Meter-Schuss, den Lloris passieren lassen musste (109.) war der Sieg zum Greifen nahe und Portugal rettete ihn über die Zeit.

Um 23.32 Uhr war es vollbracht an jenem 10. Juli 2016 in Paris. Damit wetzten sie die Scharte von 2004 aus, als sie das Finale im eigenen Land gegen Außenseiter Griechenland 0:1 verloren. Nun war es genau umgekehrt, das zeugte von Ironie. Die 15. Europameisterschaft hatte wieder einen Sieger, den keiner auf der Rechnung hatte. Es war der erste Titel für Portugal überhaupt bei einem Turnier und es war alles, nur kein Zufall: 2019 gewannen sie mit demselben Trainer und den meisten Europameistern auch die erstmals ausgespielte Nations League. Fußballmacht Portugal, Europa musste sich noch daran gewöhnen. "Frankreich geschlagen mit Mottenkisten-Fußball. Jetzt ist Portugal Europameister. Das geht nur bei dieser seltsamen EM", wunderte sich die Bild. In zwei Doppeldeckerbussen wurden die Sieger nach der Rückkehr durch die Straßen Lissabons zum Präsidentenpalast gefahren. Staatspräsident Marcelo Rebello schwärmte: "Wir haben gezeigt, dass wir alle Widrigkeiten überwinden können." In Frankreich hingegen herrschte Jammer. "Es war ein Messerstich mitten ins Herz.", schrieb L’ Equipe und Deschamps analysierte: "Es war hart, so weit zu kommen. Wir haben sehr viel Energie in das Deutschland-Spiel gesteckt und hatten einen Tag weniger Pause." Die Kritiken über das Turnier, das bei nur drei Platzverweisen in 39 Partien erfreulich fair und außerhalb der Stadien weitgehend friedlich verlief, fielen verhalten aus. "Die Zeiten, in denen eine WM oder EM eine stilprägende Zeitenwende einleiten konnte, sind vorbei", kommentierte der Kicker. Nicht aber die der Überraschungen – und die machen den Fußball seit je her aus.