„Bumm, bumm Bender“

Mit den Dänen und den Holländern standen zwei frühere Europameister vor dem Aus und Portugal mit seiner Fußball-Diva Cristiano Ronaldo galt noch immer als Geheimtipp. „Es ist nicht schön, auf Deutschland hoffen zu müssen“, klagte Arjen Robben vor dem letzten Spieltag. Nur ein deutscher Sieg würde die Chance für Oranje am Leben erhalten und daran sollte es auch nicht scheitern. Vielmehr scheiterten die Holländer an sich selbst, da sie trotz Führung durch einen van der Vaart-Treffer auch ihr letztes Spiel verloren: Cristiano Ronaldo schoss Portugal zum 2:1-Sieg – und eine Runde weiter. An diesem Juni aber musste auch Deutschland noch ein paar bange Minuten überstehen. Denn als die Portugiesen in der 74. Minute in Führung gingen, stand es in Lemberg 1:1 und ein weiteres Dänen-Tor hätte das Aus bedeuten können. Da schlug die Stunde des neu in die Elf gekommenen Boateng-Vertreters Lars Bender. Der Leverkusener sollte in erster Linie den rechten Verteidiger geben und war als Torschütze noch nicht auffällig geworden in seiner Karriere. Es hielt ihn nicht davon ab, nach Pass von Özil im Strafraum aufzutauchen und das erlösende 2:1 zu erzielen. Das erste Tor war auf das Konto von Jubilar Lukas Podolski (100. Länderspiel) gegangen, aber nach Krohn-Dehlis Ausgleich (24.) brauchte Deutschland noch einen Helden. Für „Bild“ war der bescheidene Leverkusener schlicht „Bumm, bumm Bender“, Löw lobte: „Dieses Tor war so wichtig. Das Spiel stand auf Messers Schneide“ und Bender sprach beseelt von „einem Freudentag für mich“. Nicht nur für ihn. Nach einer Qualifikation ohne Verlustpunkt ließ die DFB-Elf auch in der Vorrunde keine Federn. Inklusive des WM-Spiels um Platz 3 hatte sie damit 14 Pflichtspiele in Folge gewonnen und einen Rekord aufgestellt. Und doch hinterließ auch dieser Sieg Zweifel. Wo war die spielerische Leichtigkeit geblieben, was ist eigentlich mit Schweinsteiger los und ist Klose nicht doch der bessere Stürmer? „Wir haben mit zu wenig Risiko gespielt“, fand Innenverteidiger Mats Hummels. Und doch war Deutschland für die meisten Experten jetzt der große Titel-Favorit. Die Holländer dagegen reisten nach dem schlechtesten Abschneiden bei einer EM überhaupt frustriert ab. Nie zuvor hatte ein gesetzter Gruppenkopf eine Vorrunde ohne Punkte beendet. Rafael van der Vaart sagte offen: „Das ist eine Schande. Jeder von uns muss jetzt in den Spiegel blicken.“ Ausgerechnet Arjen Robben, dem oft Egoismus vorgeworfen wurde, analysierte: „Es war schwer in dieser Mannschaft weil es einfach zu viele Egos gab.“ Mit den Holländern gingen auch ihre Fans, deren Zeltlager in Charkow das Bild dieser EM mitgeprägt hatte. Die Dänen trugen ihr Los mit Fassung, niemand hatte sie auf der Rechnung gehabt. Apropos Rechnung: für ihren Stürmer-Star Niklas Bendtner war die EM 2012 ein Verlustgeschäft. Weil er Werbung für ein Wettbüro auf seiner Unterhose machte, die beim Torjubel im Portugal-Spiel zu erkennen war, knöpfte ihm die UEFA 100.000 Euro ab.

In Gruppe C setzte sich der Favorit etwas mühsamer durch. Titelverteidiger Spanien kam zum Auftakt gegen die Italiener nur zu einem 1:1, hielt sich dann aber gegen die von Giovanni Trapattoni trainierten Iren schadlos (4:0). Das Beste an dieser Partie war freilich die Art, wie die Fans des Verlierers mit der Enttäuschung und dem aussichtslosen Unterfangen umgingen. Sie sangen an diesem 14. Juni in Posen stolz ihre Lieder und waren die heimlichen Gewinner dieses Abends. Spaniens Trainer Vicente del Bosque war beeindruckt: „Die irischen Fans waren großartig. Sie haben heute gezeigt, worum es im Fußball geht.“ Friedliche Begeisterung am Tag des Ausscheidens – ein Lehrstück für alle Fans auf der Welt. In der Schlussrunde waren sie auch gegen Italien erfolglos (0:2), was der Squadra Azzura das Viertelfinale brachte. Auf das hatten auch die ungeschlagenen Kroaten gehofft, ein Punkt hätte gereicht - doch gegen Spaniens erbarmungslosen Tika-Taka-Fußball fanden sie kein Mittel. Immerhin hielten sie bis zur 88. Minute ein 0:0, dann traf Joker Jesus Navas das Tor und da kroatische Herz. Sieger und Besiegte wussten, dass es keinen großen Unterschied gab an diesem Tag. Die führende spanische Sport-Zeitung „Marca“ schrieb: „Wir litten wie nie zuvor, wir gewannen wie immer.“ Die mit fünf bundesligaerfahrenen Kroaten trösteten sich ob der Gegenwehr gegen den Titelverteidiger. „Wir können wirklich erhobenen Hauptes nach Hause fahren“, sagte der Ex-Schalker Ivan Rakitic. Um einige kroatische Fans war es nicht schade, sie sorgten im Spiel gegen Italien (1:1) durch Feuerwerkskörper für eine Spielunterbrechung.

Es war nicht die einzige, nur die dümmste. In Gruppe D funkte Petrus gewaltig dazwischen, das zweite Spiel von Gastgeber Ukraine – gegen Frankreich – wurde schon in der 5. Minute unterbrochen. Ein heftiges Gewitter über Donezk sorgte für eine 57minütige Pause, die auch eine Verschiebung des anderen Gruppenspiels zwischen England und Schweden zur Folge hatte. Das EM-Novum hatte für die siegriech (2:1 gegen Schweden) ins Turnier gestarteten Ukrainer nachteilige Folgen. Die Franzosen, die gegen England zuvor 1:1 gespielt hatten, nutzen die Zwangspause besser und ließen sich nicht aus dem Rhythmus bringen. „Wir hatten Sorge, dass es nicht weitergeht. Wir hatten wirklich das Verlangen zu spielen“, sagte ihr Trainer Laurent Blanc nach der Wasserschlacht von Donezk. Im Abend-Spiel schlugen die Engländer die Schweden mit 3:2, wobei sie einen 1:2-Rückstand wettmachten. Wunderknabe Theo Walcott von Arsenal traf drei Minuten nach seiner Einwechslung zum 2:2, Danny Welbeck erzielte dann das Siegtor das die Schweden vorzeitig aus dem Turnier warf. Walcott war von seinem Tor selbst am meisten überrascht: „Ich wusste nicht, dass ich eine Schusstechnik wie Ronaldo habe, vielleicht sollte ich das öfters probieren“, witzelte er über seinen 20-Meter.Schuss. Auch Welbecks Treffer war zum Einrahmen, so dass Schwedens Alt-Internationaler Thomas Ravelli konzedierte: „England hat durch zwei unfassbar schöne Tore gewonnen.“ Schönen Fußball aber sah man auch im zweiten Spiel nicht von den Briten, denen ihr Landsmann Chris Waddle, Nationalspieler in den Neunzigern, nachrief: „Ein hässlicher Sieg. Viele Spieler haben ihren Job nicht gemacht.“ Das konnten sie sich im Finale ums Weiterkommen gegen die Ukraine kaum leisten. In Donezk erlebte die Welt am 19. Juni den ersten EM-Skandal, der den Engländern zum Weiterkommen verhalf. Wie einst in Wembley 1966 lag die Frage „Tor oder nicht Tor?“ in der Luft. Um sie möglichst genau beantworten zu können, waren erstmals Torrichter im Einsatz, aber der Ungar Istvan Vad sah nicht, was er hätte sehen müssen: dass der Lupfer des Ukrainers Marco Devic in der 62. Minute erst hinter der Linie von Englands John Terry aus dem Tor geschlagen worden war.

Die Engländer sahen es als Kompensation für den WM-Skandal von Blomfontein, als ein klarer Treffer gegen Deutschland übersehen worden war. Die Ukrainer hatten von alledem nichts, sie verloren das Spiel durch ein Tor von Super-Star Wayne Rooney gleich nach Ablauf seiner Sperre mit 0:1 und teilten das Schicksal der Polen – beide Gastgeber waren wie schon 2008 nach der Vorrunde ausgeschieden. Welt-Star Andrej Schewtschenko (35), dem immerhin zwei Tore gegen Schweden gelungen waren, trat spontan und unter Tränen zurück. Sein Trainer Oleg Blochin, einst auch ein Weltklasse-Stürmer, verlor die Fassung in seiner Enttäuschung. Zunächst wetterte er in der Coaching Zone gegen das Schiedsrichter-Team, auf der Pressekonferenz drohte er einem Reporter Prügel an: „Wenn Sie ein Mann sind, kommen Sie mit mir.“ Der Reporter hatte nur wissen wollen, warum der Ukraine in der letzten halben Stunde die Luft ausgegangen sei. Vielleicht lag es auch an etwas anderem: zum siebten Mal spielte das Team in Donezk, nie hat es dort gewonnen. Weil dem auch an diesem Tag so war, konnte sich Frankreich seine erste Niederlage seit 21 Monaten leisten – das 0:2 gegen ausgeschiedene Schweden blieb folgenlos, abgesehen davon dass es den Gruppensieg kostete. Den feierten nun die Engländer, obwohl sie von allen Teams der Gruppe D die wenigsten Torschüsse (29) hatten. „Ich freue mich, keiner hat das erwartet. Es war auch nicht unser Anspruch“, sagte Trainer Roy Hodgson. Weshalb Frankreich nun auf die übermächtigen Spanier traf. Schwedens Superstar Zlatan Ibrahimovic hatte übrigens seinen ersten großen Auftritt, als es zu spät war – aber sein Seitfallzieher-Tor gegen Frankreich gehörte zu den Höhepunkten der Vorrunde.

Das Viertelfinale hatte nur eine von vier osteuropäischen Mannschaften erreicht – und auch Tschechiens Traum war schnell vorbei. Das erste K.o.-Spiel des Turniers sah in Warschau nur ein Tor – für Portugal, durch denjenigen, von dem es erwartet wird. Cristiano Ronaldo beherrschte am nächsten Tag wieder die Schlagzeilen. Nach seinem Kopfball-Tor gebärdete er sich wieder extravagant, nach seinem Daumen-Lutscher-Jubel gegen die Dänen warf er seinem kleinen Sohn nun Handküsse zu. El Pais (Spanien) schrieb über den Real-Star: „Ronaldos Fußball-Stil ist brutal, erschütternd, bewundernswert barbarisch.“ Den ausgelaugten Tschechen geschah kein Unrecht an diesem Tag, war Portugals Sieg auch wieder eine Ein-Mann-Show, unverdient war er nicht. Wie 2004 standen die Iberer wieder im Halbfinale.

Am nächsten Tag war die deutsche Mannschaft dran. Mit Griechenland hatten sie den vermeintlich leichtesten Gegner bekommen und erstmals mussten sie in kein Flugzeug steigen. Ins Stadion am Quartier-Ort Danzig konnten sie mit dem Mannschafts-Bus fahren, der das Motto „Von Spiel zu Spiel zum großen Ziel“ auf der Außenwand trug. Es war ein Viertelfinale nach Wunsch.

Das sah wohl auch die Kanzlerin so, Angela Merkel saß erstmals bei dieser EM auf der Tribüne. Neue Personalien gab es auch in der deutschen Elf; Joachim Löw überraschte mit der Nominierung von Marco Reus, Andre Schürrle und Miroslav Klose, nur Jerome Boatengs Rückkehr war erwartet worden. Lars Bender, Thomas Müller, Lukas Podolski und nach seinem ersten torlosen Spiel auch Mario Gomez drückten die Bank. Vier Änderungen, vier Tore – wenn es immer so einfach wäre. Aber das Viertelfinale gegen die so gefürchtete griechische Beton-Abwehr geriet zu einem Offensiv-Spektakel. Deutschland schoss und kassierte mehr Tore als erwartet und stürmte mit einem verdienten 4:2 ins Halbfinale. Der Kapitän ging als Torschütze voran; Verteidiger Philipp Lahm setzte seine Tradition fort, nahezu exklusiv bei großen Turnieren wichtige Tore zu erzielen.

Die Pausenführung sorgte für trügerische Sicherheit, die der Premier-League-Legionär Samaras in der 5. Minute zum Ausgleich nutzte. Da sprang mit Sami Khedira ein weiterer Führungsspieler, der eher selten für Tore verantwortlich zeichnet, in die Bresche. Sein Volleyschuss zum 2:1 (61.) war unbestritten das schönste Tor des Tages und auch das der Deutschen bei dieser EM. Den Rest übernahmen die Stürmer: Miroslav Klose köpfte das entscheidende 3:1 (68.) und dann setzte auch der junge Marco Reus ein Ausrufezeichen mit einem saftigen Schuss, der noch die Latte touchierte, zum 4:1 (74.). Da war auch Jerome Boateng niemand mehr böse, als er kurz vor Schluss einen Handelfmeter verursachte, den Salpingidis zum Endstand verwandelte. Gemessen an den Chancen hätte es schlimmer kommen können für die Griechen. Die Zeitung Live Sport schrieb: „Das Monster war nicht zu bezähmen, Löws Mannschaft spielt auf einem anderen Level.“ Spielfreude wieder entdeckt, Halbfinale erreicht und mit dem 15. Sieg in Folge einen Weltrekord aufgestellt – Fußball-Deutschland schwebte im siebten Himmel. Nur der Maulwurf machte noch Sorge, 30 Minuten nach der Spielersitzung hatten Online-Dienste erneut die Aufstellung erfahren. „Das ist nicht in meinem Sinne, dass die Karten so früh auf dem Tisch liegen“, tadelte Löw gegen Unbekannt. Illoyalität im Kader wollte er ausschließen, „da habe ich mich rückversichert. Aber es gibt eben Spieler, die aus Freude oder Enttäuschung telefonieren wenn es raus ist, ob sie spielen oder nicht. Dann rufen sie den Berater an oder die Freundin.“ Am nächsten Tag wurde in Warschau der deutsche Gegner ermittelt. England und Italien trafen sich nach zwei zähen Stunden ohne Tore am Elfmeter-Punkt. Gewöhnlich ist das das Signal für den englischen Reisemarschall, den Rückflug zu buchen – und so kam es auch diesmal. Während die Italiener alle vier Bälle versenkten, scheiterte Cole an Buffon und Young an der Latte. Es war die sechste englische Turnier-Niederlage in dieser Disziplin, bei einem einzigen Sieg. Die ehrwürdige Times schrieb; „Hodgsons Männer nehmen die ihnen bekannte Ausgangstür.“ Statistiker wollten es genau wissen und ermittelten, dass von 35 englischen Elfmetern bei EM- und WM-Turnieren nur 23 im Tor landeten. Das englische Trauma markiert ein Kreidepunkt.

Das deutsche Trauma freilich heißt Italien, das bei Turnieren nie zu schlagen war. Doch vor dieser Mannschaft, machte sich das Land Mut, musste man keine Angst haben. „Italien, jetzt rechnen wir ab“, schlagzeilte „Bild“ reißerisch (61.). Ein Land schwankte zwischen Euphorie und dem Pfeifen im Walde. Und einer der Adlerträger schwankte mit. Es war bisher nicht die EM des Bastian Schweinsteiger gewesen, der mental und physisch (am Sprunggelenk) angeschlagen ins Turnier gegangen war. Der „Welt“ sagte er: „Wenn man da ganz tief rein schaut, brodelt es auch in mir. Weil ich gern so spielen würde, wie mein Kopf es mir sagt. Aber mein Körper lässt es nicht zu.“ Manch einer wertete das als Hilfeschreie wenn nicht gar als Aufforderung an Löw, pausieren zu dürfen. Und wieder stimmte die Nation ab, wie das so ist in interaktiven Zeiten. Bild fragte: „Schweinsteiger oder Kroos?“. Schweinsteiger erhielt 64 Zustimmung, was Löw nicht davon abhalten sollte, im Halbfinale beide aufzustellen. Das erreichten im letzten Viertelfinale auch die Spanier – glanzlos aber verdient. Xabi Alonso stand im Mittelpunkt der Partie gegen Frankreich. Denn Xabi Alonso, eigentlich ein defensiver Mittelfeldspieler, erzielte beide Tore gegen ein schwaches Frankreich, und das in seinem 100. Länderspiel. Das 1:0 in der 19. Minute beschwerte den 47.000 einen langweiligen Abend, denn mehr brauchten und wollten die Spanier nicht. „Was Spanien und Frankreich den Zuschauern in Donezk boten, würde man in der Werbe-Industrie als Produkt-Enttäuschung bezeichnen“, schrieb „Sport Bild“. Arsené Wenger, der Trainer von Arsenal London, erkannte: „Spanien hat versucht, Spieler und Zuschauer einzuschläfern. Das war ein Nicht-Spiel.“ Aber eines mit einem verdienten Sieger, der aber erst in der Nachspielzeit feststand – Alonsos zweites Tor fiel in Minute 91, schmucklos mit Elfmeter.

Bei den Franzosen brachen alte Wunden wieder auf. Samir Nasri beschimpfte nach dem Aus einen Reporter als Hurensohn und drohte ihm Prügel an. Schon nach dem 0:2 gegen Schweden fühlte sich Florent Malouda in der Kabine an die WM 2010 erinnert: „Es wurden schwere Geschütze aufgefahren. Das was ich gesehen habe in der Hitze des Gefechts hat alte Dämonen geweckt.“ Trainer Laurent Blanc trat eine Woche nach dem Aus und nur zwei Jahren Amtszeit zurück.

Acht Tore hatte es in den Viertelfinals gegeben, die Hälfte davon erzielte Deutschland, das als einziges Team auch alle vier Spiele gewonnen hatte. Gegen die Favoritenrolle konnte sich die Löw-Elf nicht mehr wehren, zumal die Italiener während der regulären Spielzeit nur eines von vier Spielen gewonnen hatten. Aber auch sie sind das, was man eine Turniermannschaft nennt – von Spiel zu Spiel wurden sie besser. Die deutsche Presse klammerte sich an jeden Strohhalm, der gegen das Trauma helfen sollte und erinnerte an die Junioren-EM 2009, als Deutschland den Titel holte. „Sie wissen, wie man Italien schlägt“, schrieb die Neue Osnabrücker Zeitung und zeigte das Mannschafts-Foto von damals: acht Spieler, darunter Manuel Neuer, Mats Hummels, Jerome Boateng, Mesut Özil und Sami Khedira, standen drei Jahre zuvor im DFB-Team, das Italien im Halbfinale rauswarf. Nun sollten sie es bei den „Großen“ wiederholen. Die Italiener ließen sich davon nicht beeindrucken. „Deutschland hat sicher Angst vor uns“, sagte Spielmacher Andrea Pirlo, der schon im WM-Halbfinale 2006 dabei war. Zunächst aber stieg in Donezk das iberische Halbfinale. Titelverteidiger Spanien und Portugal trafen sich nach zwei zähen Stunden am Elfmeter-Punkt.

Es war die unausweichliche Konsequenz eines Spiels zweier ebenbürtiger Mannschaften, die sich nichts gönnten. 48 Fouls bedeuteten den Rekord dieses Turniers, ebenso wie neun Gelbe Karten. Die Nachbarn kannten sich zu gut, um den Zuschauern ein erlebnisreiches Spiel schenken zu können. Sieben Spieler von Real Madrid liefen auf, drei davon auf portugiesischer Seite.

Spaniens leichte Überlegenheit wurde erst am Elfmeterpunkt belohnt, Millimeter entschieden. Während der Schuss des Portugiesen Alves von der Latte kurz vor die Torlinie prallte, traf anschließend Cesc Fabregas zum 4:2 an den Innenpfosten. „Wenn ich die Art einer Niederlage wählen könnte, würde ich diese nicht wählen“, sagte Portugals Trainer Paulo Bento ernüchtert.

Elfer-Held Fabregas richtete sich auf eine Neuauflage des Finales von 2008 ein und lobte die Deutschen vor dem Abend von Warschau: „Ihr Spiel gefällt mir sehr gut, Deutschland ist sehr stark.“ Vorschusslorbeeren aber schießen keine Tore, alles kam anders.

Die Welt-Geschichte kennt den schwarzen Freitag, der deutsche Fußball erfand am 28. Juni den schwarzen Donnerstag. Italiens dunkelhäutiger Stürmer Mario Balotelli, ein Exzentriker mit ghanaischen Wurzeln, wurde zum Schreckgespenst des Löw-Teams und zum Totengräber der Titel-Träume. Woran es lag, dass seine zwei Tore den deutschen Weg nach Kiew, dem Final-Ort, jäh bremsten, darüber wurde viel gestritten und polemisiert. Die Umstellungen verstand nicht jeder nach dem furiosen Griechenland-Spiel: Podolski und Gomez kehrten zurück und erstmals stand Toni Kroos in der Start-Formation. Marco Reus, Andre Schürrle und Miroslav Klose saßen wieder auf der Bank. Dass Italien ein anderes Kaliber als Griechenland ist, haben viele Kritiker ignoriert. Es war das gute Recht des Bundestrainers, eine andere Taktik anzuschlagen – mit anderem Personal. Ist ein Plan deshalb schlecht, wenn er nicht gut ausgeführt wird? Einige Spieler brachten an diesem Tag nicht ihre Leistung, das ist Tatsache.

Löw verteidigte sich: „Ich wollte die Zentrale mit Toni Kroos stärken, weil Italien in der Achse stark war mit Pirlo und de Rossi. Mario Gomez hatte vorher drei Tore geschossen, Lukas Podolski hatte auch getroffen. Die ersten drei Spiele haben wir auch mit den beiden gewonnen. Einen zentralen Mittelfeldspieler zu bringen, war eine Maßnahme. Die Fehler sind hinten passiert, wo wir nicht präsent waren.“ Kapitän Philipp Lahm sah es ebenso: „Wir machen dumme Fehler, kassieren so unsere Gegentore. Wenn man in gewissen Situationen nicht clever genug ist, verliert man so ein Spiel.“

In der Tat. Nach gutem Anfang mit einem leichten Chancen-Plus machte Mats Hummels einen Stellungsfehler und erlaubte Cassano eine Maßflanke auf Balotelli, der nach 20 Minuten per Kopf für den ersten deutschen Rückstand bei der EM sorgte. Dem Modellathleten von Manchester City, der schon in jungen Jahren mehrere Trainer zur Verzweiflung getrieben hatte, reichte das noch nicht. Nach einem langen Pass von Montolivio enteilte Balotelli auch Philipp Lahm. Aus 16 Metern gab er Neuer erneut das Nachsehen (36.) und zeigte der Welt seine Muskeln. Das Bild des in Drohgebärde posierenden Balotelli mit bloßem Oberkörper ging um die Welt. Und als Symbol der deutschen Niederlage in die DFB-Historie ein. „Wenn Italien 2:0 führt, wird es schwer“, wusste Löw und versuchte zu retten, was zu retten war. Gomez und Podolski blieben in der Kabine, aber auch Klose, Reus und später noch Thomas Müller, der WM-Torschützenkönig von 2010, konnten das Aus nicht mehr abwenden. Das ersehnte Anschlusstor fiel, als es nicht mehr half: in der 92. Minute verwandelte Özil einen Handelfmeter, danach war Schluss. „In der Kabine fließen Tränen, es ist mucksmäuschenstill“, berichtete Löw der Nation. „Ich will jetzt nicht alles kritisch sehen. Die Mannschaft hat ein gutes Turnier gespielt. Die Mannschaft wird aus diesen Dingen lernen“, sagte er im ARD-Studio, um Sachlichkeit bemüht.

Andere waren das nicht. „Bild“ fand „Schon bei der Hymne haben wir verloren“, weil nicht alle Deutsche mit sangen. Günter Netzer schrieb in seiner Kolume: „Zum Titel fehlen uns Persönlichkeiten“ und fachte die Debatte um die Generation Lahm/Schweinsteiger, die so schön spielen, aber nichts gewinnen könne, neu an. Auch der Bundestrainer geriet in den Focus. „Kann man noch an Jogi glauben?“, fragte die Bild am Sonntag auf der Titelseite. Dabei hatte Wolfgang Niersbach die Antwort schon gegeben: „Jogi, Du hast einen Klasse-Job gemacht. Wir sind unheimlich froh, dich als Bundestrainer zu haben“, sagte der DFB-Präsident noch auf dem abendlichen Bankett. Und der Öffentlichkeit teilte er nach der Landung in Frankfurt: „Wir wollen in der Konstellation weiter machen, immer von der Hoffnung getragen, dass es bald mal zu einem Titel reicht.“

Um den spielten jetzt die Italiener. Das Vorrundenspiel gegen Spanien erlebte drei Wochen später, am 1. Juli, unter anderen Umständen eine Neuauflage. Wer ein Ballgeschiebe wie beim 1:1 in Danzig befürchtete, wurde angenehm überrascht. Nur ein spannendes Spiel bekamen die 64.000 Zuschauer auch nicht zu sehen. Spanien war auf den Punkt in Bestform, während die Italiener vor allem müde und passiv wirkten. Hatten sie sich gegen die Deutschen doch zu sehr verausgabt? Jedenfalls kam es zu einem Ergebnis, dass man von der Squadra azzura nur alle 20 Jahre mal hört – und in einem Finale schon gar nicht: 4:0!

Das von Finalisten ersehnte frühe Tor schossen die Spanier, David Silva köpfte nach 14 Minuten das 1:0. In der Regel ist das das Todesurteil gegen die „Tiki-taka“-Künstler. Und Spanien machte davon keine Ausnahme, nur schoss es weit mehr Tore als gewohnt – und das ohne Stürmer. Vicente del Bosques der Not geschuldete Taktik trug Früchte. Offensiv-Potenzial steckte dennoch genügend in der spanischen Wunder-Elf, die als erste im Weltfußball drei Titel in Folge gewann. Nach Jordi Albas 2:0 (41.) rüstete Spanien schon zur Siegerehrung, als Thiago Motta verletzt ausschied und nicht mehr ersetzt werden konnte (67.) war das Finale nur noch ein Sommer-Fußballspiel unter außergewöhnlicher Anteilnahme. Die spanischen Joker Fernando Torres (83.) und Mata (88.), kaum eingewechselt, schraubten das Resultat in die Höhe. Italien schämte sich nicht einmal, Trainer Cesare Prandelli gestand ein: „Nein, es war diesmal kein italienisches Wunder. Wir haben von Beginn an gesehen, dass sie frischer waren als wir. Es war trotzdem ein fantastisches Turnier für uns.“ Torhüter Gianluigi Buffon gratulierte fair: „Wir haben auch heute unser Bestes gegeben, aber erkennen müssen dass es noch eine bessere Mannschaft gibt – Glückwünsche an Spanien.“ Die spanische Ära – wie lange würde sie wären? Trainer Vicente del Bosque ließ den Rest der Fußball-Welt wissen „Wir haben das Finale gewonnen, weil wir unser Spiel bis zur Perfektion gespielt haben. Und wir sind noch gierig.“ Diese EM bekam jedenfalls einen würdigen Sieger, das sportliche Fazit fiel dagegen wie erwähnt mittelprächtig aus. Seit die Endrunde mit 16 Teams gespielt wird, hatte man nur einmal weniger Tore als jetzt (76) gesehen. Aber das Experiment mit den zwei Gastgebern hatte sich erneut gelohnt: Polen und die Ukraine lockten 1,442 Millionen Zuschauer in die Stadien – so viel wie nie zuvor. Obwohl die Gastgeber nach der Vorrunde ausgeschieden waren, betrug die Stadionauslastung 98%. Die EM setzte mit dem 14. Kapitel ihre Erfolgsgeschichte fort. Bleibt abzuwarten, ob das auch im XL-Format mit 24 Mannschaften gelingen wird.