Spanien erneut Europameister

Zum dritten Mal wurde die EM-Endrunde gleich an zwei Länder vergeben. Vorläufig auch zum letzten Mal, 2018 wird Frankreich und 2022 soll ja quasi ganz Europa Gastgeber sein. Die Ukraine und Polen sahen auch das vorläufig letzte Turnier mit 16 Mannschaften, denn auch das Format soll reformiert wollen, auch mit der EM soll es immer größer, weiter und höher gehen. Künftig wird es 24 Mannschaften bei einer Endrunde geben. Das Turnier in Ost-Europa gab nicht zwingend Anlass zu großspurigen Ideen. Am Tag nach dem Halb-Finale zwischen Deutschland und Italien bilanzierte Spiegel online: „Vor diesem Spiel erinnerten sich viele an das Jahrhundert-Spiel von 1970, dem 4:3 der ‚Azzuri‘ bei der WM gegen Deutschland … 42 Jahre ist das her – und die Menschen sprechen noch immer von der Mutter aller Spiele. Von der Europameisterschaft 2012 wird in 42 Jahren niemand mehr reden.“ Nicht nur wegen des Abschneidens der Deutschen, wie in dem Artikel weiter ausgeführt wird: „Die EM in Polen und der Ukraine reiht sich ein in eine Serie von Turnieren, während derer sich technisch und taktisch versierte Mannschaften neutralisierten. Es gab bei dieser EM viel zu bestaunen an Spielverständnis, an moderner Auffassung von Fußball. Aber es gab wenig Spaß.“ Eine seriöse Sicht der Dinge, aber auch eine deutsche Sicht. Eine Prise Enttäuschung mag eingeflossen sein in diese Bilanz, weil der deutsche Weg trotz aller Ambitionen und optimistischer Umfragewerte wieder einmal im Halbfinale beendet war.

Es ändert nichts daran, dass die UEFA ein zufriedenes Fazit dieser EM ziehen konnte. Gemessen an den teils hysterischen Befürchtungen im Vorfeld des Turniers war Polen/Ukraine 2012 eine gelungene Veranstaltung.

Je näher das Turnier rückte, desto mehr Vorbehalte gab es plötzlich gegen die Ausrichter. Insbesondere die Ukraine stand im Focus internationaler Kritiker. Allen voran wegen der Behandlung politischer Oppositioneller durch das Regime, aber auch Feministinnen und Tierschützer nutzten die Plattform EM für ihre Anliegen. Und von Polens rechtsradikalen Hooligans wurden Schreckensbilder gemalt, die in der Forderung des dunkelhäutigen englischen Ex-Nationalspielers Sol Campbell gipfelten: „Bleiben Sie zu Hause, sehen Sie sich die Spiele im Fernsehen an. Riskieren Sie nichts, sonst könnten Sie am Ende in einem Sarg zurückkommen“.

Und doch wollte ganz Europa zu diesem Turnier; 51 Länder bewarben sich um die 14 Plätze und alles was Rang und Namen hatte, fand den Weg durchs Labyrinth der Qualifikation. Nach insgesamt 240 Spielen hatten sich alle bisherigen Europameister abgesehen von den Tschechen direkt qualifiziert, aber auch die Champions von 1976 schafften es noch durch die Hintertür der Playoff-Spiele, in denen sich im November 2011 auch Kroatien, Portugal und Irland durch setzten. So ergab sich ein außerordentlich attraktives Teilnehmerfeld für die ersten Endrundenspiele in Ost-Europa überhaupt.

Die Art und Weise, wie sich die DFB-Auswahl qualifizierte, stempelte sie neben Titelverteidiger und Weltmeister Spanien zum Favoriten. Erstmals gewann Deutschland alle EM-Quali-Spiele; 30 Punkte aus zehn Spielen erreichte zudem kein anderes Land. Der 2006 begonnene Aufwärtstrend hielt an, immer neue hochtalentierte Spieler stießen zum Kader von Joachim Löw. Einer von ihnen, Mesut Özil von Real Madrid, sagte was alle dachten: „Unser Ziel muss der Titel sein. Es wird einfach Zeit dafür.“ Dafür hätte es früher von manch einem Bundestrainer einen Rüffel gegeben, Löw aber dachte ähnlich: „Jeder hat das Gefühl, dass wir es schaffen können.“

Doch ausgerechnet das hohe Niveau, auf dem sich vor allem die Spieler von Meister Borussia Dortmund und Bayern München befanden, trübte die Vorbereitungen auf die Endrunde. Denn die beiden bestritten noch nach Saisonende das Pokalfinale und als die siegreichen Dortmunder zum Kader stießen, waren die Bayern immer noch beschäftigt. Sie standen am 19. Mai im legendären „Finale dahoam“ um die Champions League gegen Chelsea. Das tragische Ende, durch einen verschossenen Schweinsteiger-Elfmeter besiegelt, lag wie eine düstere Wolke über dem Quartier an der Costa Smeralda in Sardinien. Die Nation sorgte sich um den Seelen-Zustand der Bayern-Fraktion im Kader, die vor zwei Jahren noch keine Triple-Sieger waren. Sie waren höchstens Vize-Triple-Sieger, was in München gleichbedeutend mit Verlierern ist. Um Neuer, Lahm und Schweinsteiger aber wollte Löw seine Mannschaft formieren, zu der auch Boateng, Kroos, Müller und Gomez gehörten.

Sport-Direktor Oliver Bierhoff sagte: „Das war ein Warnschuss auch für uns. Schön spielen allein reicht nicht, man muss auch effizient sein.“

Wie sehr die Bayern gebraucht wurden, bewies das vorletzte Vorbereitungsspiel in Basel zwei Wochen vor dem EM-Start. Deutschland unterlag mit 3:5 und der Kicker fragte: „Wer muss nun wen aufbauen? Der Rest der Crew die Münchner nach ihren Negativerlebnissen in den Finals? Oder doch die Bayern die anderen nach dem 3:5 gegen die Schweiz?“ Der Kapitän der DFB-Auswahl und der Bayern, Philipp Lahm, versuchte zu beschwichtigen: „Wir kriegen das hin.“

Aber die Vorbereitung verlief aufgrund der maximalen Belastung der Top-Stars der Saison 2011/12 sicher nicht so, wie sich ein Bundestrainer das wünscht. „Seit die Bayern da sind, hat eine neue Etappe begonnen“, sagte Löw.

Erst zwölf Tage vor dem ersten Turnierspiel war der Kader im südfranzösischen Camp zu Tourrettes komplett, wobei mit dem Eintreffen der Bayern für vier andere das Abenteuer schon wieder vorbei war. Löw strich die für alle Fälle zunächst nominierten Spieler Cacau, Julian Draxler, Sven Bender und Marc-André ter Stegen.

Und doch: die Sorgen der Deutschen waren nichts gegen die der Italiener. Wie schon vor der EM 1980 und der WM 2006 erschütterte ein Manipulations-skandal die Nation, aber nie war die „Squadra azurra“ so unmittelbar betroffen. Im Trainingslager in Coverciano tauchte unvermittelt die Polizei auf, durchsuchte Zimmer und führte Befragungen durch. Verteidiger Domenico Criscito kostete der Verdacht, Spiele manipuliert zu haben, die EM. Trainer Cesare Prandelli strich ihn wegen des „unmenschlichen Drucks, außerdem könnte er jeden Moment von der Staatsanwaltschaft zur Anhörung zitiert werden“. Kollege Leonardo Bonucci hatte das schon hinter sich, er durfte im Kader bleiben. Beiden konnte übrigens nie etwas nachgewiesen werden.

Das Turnier: Mit-Gastgeber Polen, von der UEFA offiziell an erster Stelle genannt, durfte das Turnier am 8. Juni in Warschau eröffnen. Es hatte den Segen des (deutschen) Papstes. Benedikt XVI. appellierte an Aktive und Zuschauer, einander mit Respekt zu begegnen. Aber schon zum Start gab es zwei Platzverweise. Auch deshalb hielt die Partie der Polen gegen Griechenland mehr, als sie versprach. Der Dortmunder Robert Lewandowski köpfte das erste Tor der EM und als sein heutiger Team-Kollege Sokratis noch vor der Pause vom Platz flog, sprach alles für die Polen. Aber die Griechen ließen sich nicht unterkriegen, glichen in Unterzahl durch Salpingidis aus und stellten nach 70 Minuten auch nominell Gleichzahl her: Zum Entsetzen von 56.070 Zuschauern flog Torwart Szczesny nach einer Notbremse vom Platz und nun hatten die Griechen durch den fälligen Elfmeter sogar die Siegchance. Doch Ersatzkeeper Tyton feierte einen Einstand nach Maß, hielt mit seiner ersten Ballberührung den Elfmeter von Karagounis, der 2004 schon zu Rehhagels EM-Helden zählte. Danach begnügten sich beide Mannschaften mit dem, was sie hatten: einen Punkt. Lewandowskis Meinung traf aber die Stimmung seines Volkes: „Es war unsere Schuld, dass wir nicht gewonnen haben.“ Und es war der Anfang vom Ende der polnischen Träume vom Viertelfinale. Denn die Gruppe A nahm nicht den erwarteten Verlauf. Nicht die Gastgeber und auch nicht die noch 2008 so begeisternden Russen kamen weiter, sondern die Tschechen, die zum Auftakt Russland noch 1:4 unterlagen, und die hartnäckigen Griechen, die niemand auf dem Zettel hatte. Erst recht nicht nach der 1:2-Niederlage gegen Tschechien, das schon nach sechs Minuten 2:0 führte und damit einen EM-Rekord aufstellte. Wieder war es kein Spiel für Torhüter, der Grieche Chalkias musste nach dem Doppelschlag auch noch verletzt ausscheiden, Kollege Petr Cech patzte vor dem griechischen Treffer durch den Ex-Frankfurter Teofanis Gekas krass.

Niemand unter den 41.000 in Breslau konnte sich vorstellen, hier die beiden Teams gesehen zu haben, die das Viertelfinale erreichen würden. Doch das 1:1 im Parallelspiel zwischen Polen und Russland war am Ende für beide zu wenig. Das Tor des Dortmunders Jakub Blasczykowski war einer der wenigen Höhepunkte, die Polens Elf ihren Anhängern bescherte. Vor dem Stadion trübten die größten Krawalle der EM die Stimmung, polnische und russische Hooligans sorgten für bürgerkriegsähnliche Verhältnisse auf den Straßen Warschaus. Über 6000 Polizisten mit Gewehren und Sturmhauben sorgten für Ordnung, es gab 200 Verhaftungen. „Das war der schwierigste Tag der EM“, sagte Polens Innenminister Jacek Cicochi. Diese „Fans“ immerhin hatten es nicht verdient, dass ihre Mannschaften weiter kamen, aber mit der großen Mehrheit der Polen durfte man am 16. Juni durchaus Mitleid haben. Alle vier Mannschaften hatten noch Chancen auf das Weiterkommen, Polen hätte einen Sieg gebraucht gegen Nachbar Tschechien und erlitt eine 0:1-Niederlage. Der Wolfsburger Petr Jiracek entschied mit seinem Tor in der 72.Minute eine Partie, die Lewandowski zum „wichtigsten Spiel in der Geschichte unseres Landes“ deklariert hatte. Nun war die EM für den ersten Gastgeber schon beendet, Nationaltrainer Franciszek Smuda trat geknickt zurück, sein Vertrag wäre ohnehin ausgelaufen. Die Tschechen konnten ihr Glück kaum fassen, wer wird schon noch Gruppensieger nach einer 1:4-Startpleite? Trainer Michal Bilek war stolz: „Wir wollten guten Fußball spielen und haben großartigen gespielt.“ Diese exklusive Meinung war der Euphorie des Weiterkommens geschuldet. Noch größer war die Freude aber bei den Griechen, die mit einem Punkt als Letzter in die Schlussrunde gegangen waren und auch gegen Tabellenführer Russland keinen anderen Fußball spielten als sonst. Diesmal aber war er erfolgreich, der Elfmeter-Fehlschütze Karagounis wurde nun zum Nationalhelden. Sekunden vor dem Pausenpfiff gelang ihm das 1:0, was einer griechischen Mannschaft seit der Rehhagel-Ära meist zum Siegen reicht. Dass sie nur 38 % Ballbesitz hatten und wenig für das Spiel taten – egal. 29:8 Torschüsse wurden für die Russen gezählt, aber von der Anzeigetafel leuchtete ein 0:1. Das reichte, um im direkten Vergleich die punktgleichen Russen auszuschalten. Deren Trainer Dick Advocaat klagte: „Wir haben angegriffen, die Griechen haben nur verteidigt – und dann schießen sie ein Tor.“ Die Heimat reagierte verbittert: „Ihr habt unsere Herzen gebrochen“, titelte eine Zeitung, eine andere forderte Opfer: „Scher Dich zum Teufel, Advocaat!“ Er ging ohnehin zurück nach Holland.

Eine Athener Zeitung dagegen wurde pathetisch: „Die Griechen haben dieser Tage nur wenig Grund, auf ihr Land stolz zu sein. Aber der Fußball hat ihnen vieles zurückgegeben.“ Auch die Tatsache, als Gruppenzweiter auf EM-Favorit Deutschland treffen zu müssen, schmälerte ihre Freude nicht.