Achtelfinal-Aus für Spanien und die Niederlande

Andere tanzten nicht mehr auf dieser WM. Holland und Spanien reisten erneut früher ab als geplant und – gemessen an der Vorrunde – erwartet. Holland führte mit Portugal einen regelrechten Fußball-Krieg und als er zu Ende war, gingen nur 18 Spieler vom Feld. Vier Platzverweise schraubten den WM-Rekord in die Höhe, acht Verwarnungen kamen hinzu. Das Bild der Sünder Boulahrouz, van Bronckhorst und Deco, die gemeinsam entgeistert im Innenraum des Nürnbergers Stadions saßen, blieb haften. In der ersten Hälfte hatte es bereits Costinha erwischt. Nach dieser Kartenorgie sah auch der russische Schiedsrichter Iwanow Rot, die Fifa zog ihn aus dem Verkehr. Die Portugiesen trösteten sich, sie hatten dank Maniches Tor 1:0 gewonnen.

Die fröhliche holländische Fan-Karawane dagegen zog gen Heimat. Die junge spanische Mannschaft (24,5 Jahre im Schnitt) kassierte im 26. Spiel von Trainer-Opa Luis Aragones (67) ihre erste Niederlage – 1:3 gegen ein wiedererwachtes Frankreich. Es war auch die Auferstehung Zidanes, der erstmals bei dieser WM auffiel. Der 34jährige bereitete in Hannover das 2:1 von Vieira vor und erzielte das 3:1 selbst. Frankreich war plötzlich wieder ein Mitfavorit um den Titel, Spanien litt weiter unter seinem WM-Fluch, nie ein Halbfinale erreichen zu können. Aragones erhielt trotzdem einen Zwei-Jahres-Vertrag und wurde Europameister 2008.

Argentinien musste gegen Mexiko in die Verlängerung, ehe Maxi Rodriguez das erlösende 2:1 erzielte. Mexiko schied hoch erhobenen Hauptes aus und im Team-Hotel in Göttingen herrschte nun wieder Rauchverbot. Es war für Trainer und Kettenraucher Ricardo La Volpe aufgehoben worden. England suchte noch immer nach seiner Form, aber gegen Ecuador reichte ein lichter Moment von David Beckham, dem nach einer Stunde ein Freistoß-Tor gelang. Kurz darauf musste er sich auf dem Platz übergeben und Bild titelte: „England mit Hängen und Würgen ins Viertelfinale“.

Elfmeter lässt Australiens WM-Traum platzen

Was aber sollte man da erst zum Dusel-Sieg der Italiener über Australien sagen. Obwohl nach Materazzis Platzverweis in Unterzahl, hielten sie ein 0:0 und in der fünften Minute der Nachspielzeit bekamen sie einen sehr zweifelhaften Elfmeter. Der spanische Schiedsrichter Cantalejo wurde zum unbeliebtesten Mann im Fritz-Walter-Stadion, wo Francesco Totti das Geschenk dankend annahm. Australiens Traum war geplatzt, die WM um eine Hoffnung ärmer. Die nächste starb nicht ganz unerwartet in Dortmund, wo Brasilien Ghana mit 3:0 schlug, ohne überzeugt zu haben. Und wieder spielte der Schiedsrichter Schicksal: Das entscheidende 2:0 Adrianos war ein klarer Abseitstreffer. Zuvor hatte Ronaldo sein insgesamt 15. WM-Tor geschossen und Gerd Müller an der Weltspitze abgelöst.

Köln sah das dramatischste Spiel, denn das Achtelfinale Ukraine – Schweiz hatte auch nach zwei Stunden noch keinen Sieger. Aber auch vom Punkt trafen die bemitleidenswerten Schweizer drei Mal (Streller, Cabanas, Barnetta) nicht und stellten zwei WM-Rekorde auf: Noch nie hatte eine Mannschaft alle Elfmeter verschossen und nie war eine Mannschaft ohne Gegentor im gesamten Turnier ausgeschieden. Im Viertelfinale waren nur die Großmächte Argentinien und Brasilien keine Europäer – und Argentiniens Weg sollte nun auch zu Ende sein. In Berlin wartete die deutsche Mannschaft. 72.000 sahen das erste schwächere Spiel ihrer Lieblinge, aber das furiose Ende entschädigte für alles.

Lehmann und der Elfer-Zettel

Argentiniens Führung durch Ayala hatte Klose per Kopfball ausgeglichen, in der Verlängerung fielen keine Tore mehr. Vor dem Elfmeterschießen flackerte ein Bild über die Anzeigetafel, das spontanen Beifall weckte: Oliver Kahn drückte Jens Lehmann die Hand und wünschte ihm Glück. „Das ist jetzt dein Ding, du machst es“. Dafür sorgte auch Bundes-Torwarttrainer Andy Köpke, der Lehmann einen Zettel mit den Vorlieben der argentinischen Schützen gab. Um den Zettel, der nach der WM für eine Millionen Euro zugunsten der Aktion „Ein Herz für Kinder“ versteigert wurde, ranken sich zahlreiche Mythen. Dabei hat er faktisch nichts gebracht, wie Lehmann kürzlich enthüllte. Der erste Schütze, Cruz traf. Der Zweite, Ayala, wählte die andere Ecke und Lehmann hielt trotzdem. Den dritten Elfmeter von Rodriguez musste er passieren lassen und Cambiasso, der vierte, stand nicht auf dem mit Bleistift beschriebenen Zettel. Dafür half Lehmann sein gutes Gedächtnis: Ihm fiel plötzlich ein Freistoß Cambiassos ein aus der Champions League-Saison; da visierte der Mann von Inter Mailand die linke Ecke an. Und dahin geht auch sein Elfmeter – aber Lehmann war schon da. Riesen-Jubel auch auf den VIP-Rängen bei der Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Horst Köhler – und bei Millionen im ganzen Land.

Nüchtern kommentierte der neue Held der Nation seine Großtaten: „Von einem deutschen Torwart wird erwartet, dass er Elfmeter hält.“ Deutschland gewann auch sein drittes WM-Elfmeterschießen und stand im Halbfinale. Jürgen Klinsmann war berauscht vor Glück: „Ich bin unglaublich stolz und dankbar. Da ist eine Mannschaft zusammengewachsen, die sagt: wir wollen Weltmeister werden.“ Und die im 17. Versuch endlich einen der sogenannten Großen des Weltfußballs geschlagen hatte – sechs Jahre nach dem 1:0 in England. Argentiniens Trainer Jose Pekerman trat enttäuscht zurück. Auch bei den Spielern brach sich die Enttäuschung bahn, nach der Entscheidung entbrannte auf dem Platz eine wilde Rangelei – und ausgerechnet italienische TV-Bilder entlarvten Thorsten Frings als Schläger. Er traf Julio Cruz leicht im Gesicht. Aber so manche Faust flog im Mittelkreis von Berlin und Per Mertesacker erlitt sogar einen Tritt in den Unterleib – gesperrt wurde nur Torsten Frings. Eine folgenschwere Entscheidung.

Als Gegner wartete Italien, das am selben Tag die biederen Ukrainer in selten gesehner Manier zerpflückte und 3:0 siegte. Luca Toni schoss zwei Tore, Italien war nunmehr 23 Länderspiele unbesiegt und bestätigte seinen Ruf als Turniermannschaft.

Brasilien hat den nie gehabt, bei den Ballzauberern musste man gerade in Europa stets mit Einbrüchen rechnen. So war es auch 2006. In Frankfurt verstummten am 1. Juli die Samba-Trommeln. Ein Freistoß von Zidane landete beim völlig ungedeckten Thierry Henry und dessen Kopfball beförderte den Rekord-Weltmeister aus dem Turnier. Der große Pelé war wie immer in solchen Momenten geschockt: „Ich weiß nicht, wo die Spieler mit ihren Köpfen waren.“ Gerüchte über lange Party-Nächte bei dieser WM machten die Runde und niemand trauerte dem entthronten Titelverteidiger nach.

Schlechte Zweikampfwerte bei Brasilien

Die Zweikampfwerte der Superstars sprachen Bände: Kaka hatte nur 27% gewonnen, Ze Roberto 29%, Roberto Carlos 36%. „Die Brasilianer haben bei diesem Turnier niemals voll überzeugt“, richtete Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer. Trainer Carlos Alberto Parreira blickte nach vorne: „Lasst uns die Leiche mit Anstand begraben und aus der Asche stärker zurückkehren als je zuvor.“

So wie es sein Bezwinger vorgemacht hatte: 2002 eine Lachnummer, stand Frankreich nun im Halbfinale. Das komplettierte Portugal, das nach einer Internet-Umfrage der Fifa zur unterhaltsamsten Mannschaft des Turniers gewählt wurde. Dabei reduzierte sich der Unterhaltungswert des grausamen Spiels gegen England im Grunde auf das Elfmeterschießen nach zwei torlosen Stunden. Hier erfuhr das englische Trauma in dieser Disziplin seine Fortsetzung.

Nur Owen Hargreaves war in der Lage, Torwart Ricardo zu überwinden, drei Engländer scheiterten und verhalfen ihm zu einem WM-Rekord. Englands Trainer Sven-Göran Eriksson sprach sich von aller Schuld frei: „Wir haben im Training immer wieder Elfmeterschießen geübt. Ich weiß nicht was man sonst hätte tun können.“ Zu allem Übel war Wayne Rooney vom Platz geflogen und der ausgewechselte David Beckham trat als Kapitän zurück. Im Gefühl, nie mehr Weltmeister zu werden.

Vier Mannschaften träumten noch davon. Am 4. Juli endete der deutsche Traum – gegen den alten Rivalen Italien, der bei WM-Endrunden nie bezwungen wurde, setzte es in Dortmund eine bittere 0:2-Niederlage. Bitter weil es keine Gelegenheit mehr gab, zurückzuschlagen, nicht weil es unverdient gewesen wäre.

"Ihr seid trotzdem Helden"

Italien war während der 90 Minuten auf Augenhöhe und in der Verlängerung die bessere Mannschaft, zwei Mal traf sie den Pfosten. Und doch sah alles nach einem Elfmeterschießen aus, als der Verteidiger Fabio Grosso nach einer Ecke von der Strafraumgrenze abzog. Jens Lehmann war ohne Chance gegen den verdeckten Schuss – 0:1 in der 119. Minute. Deutschland brach kollektiv zusammen, das zweite Tor von del Piero war nicht mehr von Bedeutung. Die Bild-Zeitung erschien am nächsten Morgen mit dem Bild Jürgen Klinsmanns, der die Hände vor dem Gesicht hat und titelte: „Wir weinen mit Euch“. Etwas kleiner stand zu lesen: „Ihr seid trotzdem Helden!“

Das traf die Stimmung im Land. Zu begeisternd war diese Mannschaft aufgetreten, hatte sie ihr Land vertreten und Sympathien in aller Welt geweckt. Dass auf dem Platz und dann in der Kabine die Tränen flossen und die Wut über die Sperre für Frings hochkam – wen wunderte es? Michael Ballack, von Klinsmann in eine defensivere Rolle gedrängt bei dieser WM, klagte: „Das ist so bitter: Schon wieder habe ich ein WM-Finale verpasst.“ „Natürlich ist es kein Trost, wenn ich sage; der italienische Sieg war verdient“, schrieb Bild-Kolumnist Günter Netzer. Auch nicht, dass sie bei der Ankunft im Berliner Hotel morgens um drei Uhr von 100 Fans frenetisch gefeiert wurden. Nein, zumindest eine Nacht musste vergehen, ehe der größte Schmerz nachlassen würde. Noch bis halb sechs saßen einige im Hotelgarten, schlafen konnten sie doch nicht. Nun blieb nur das Spiel um Platz 3 in Stuttgart. Gegen wen? Gegen Portugal.

Denn Frankreich setzte seine Serie der knappen Siege fort und gewann mit 1:0 – schmucklos durch einen Elfmeter von Zidane, aber wen störte es? 22 Millionen Franzosen saßen am 5. Juli vor dem Fernseher, mehr denn je bei einem Spiel der L’Equipe tricolore“. „Zidane katapultiert Frankreich ins Finale“, jubelte die Zeitung Le Parisien, während sein Freund und Ex-Kollege bei Real Madrid weinte: Luis Figo trat aus der portugiesischen Nationalmannschaft zurück.

Nun hatte die WM ein Finale, auf das nur wenige getippt hatten: Frankreich und Italien fuhren nach Berlin. Deutschland verließ die Hauptstadt dagegen, um sich am Vortag anständig von seinem Publikum zu verabschieden. Der gute Vorsatz gelang. Obwohl Klinsmann einige Umstellungen vornahm und mit Ausnahme des dritten Torwarts Timo Hildebrand allen noch nicht gebrauchten Akteuren zu einem WM-Einsatz verhalf, bot die Mannschaft ein letztes Mal ein begeisterndes Spiel. Bastian Schweinsteiger, gegen Italien plötzlich Reservist, hatte seinen größten Tag bei dieser WM und schoss nach der Pause zweieinhalb Tore. Petits Eigentor wäre ohne seinen Schuss niemals gefallen. 3:1 hieß es nach 90 Minuten, wobei Oliver Kahn in seinem letzten Länderspiel noch in vorletzter Minute von Gomes bezwungen wurde. Schon im Stadion, aber noch mehr bei der Rückkehr zum Hotel spielten sich berauschende Szenen in Stuttgart ab. Zehntausende erwarteten morgens um eins den Mannschaftsbus und feierten die Hauptdarsteller des Sommermärchens. „Danke Jungs für vier tolle WM-Wochen. Stuttgart ist stolz auf Euch!“, stand auf einem Transparent, das in jeder anderen Stadt auch hätte hängen können. Noch bis morgens um sieben feierten die Spieler ihre WM-Party und Schweinsteiger erzählte, wie es sich anfühlt, von der Kanzlerin ein Küsschen bekommen zu haben.

Zidane verliert die Nerven

Dieser grandiosen WM fehlte nur noch ein würdiges Finale. Italien und Frankreich gaben sich alle Mühe, aber als es um 23.03 Uhr zu Ende war, sprachen nur wenige vom Niveau dieses Spiels. Alle Debatten drehten sich um einen Mann: Zinedine Zidane. Frankreichs Superstar hatte zunächst sein Team mit einem gewagten Elfmeter-Schlenzer an die Lattenunterkante in Führung gebracht, aber weit nach Materazzis schnellem Ausgleich zur Verzweiflung getrieben. In der Verlängerung provozierte ihn Materazzi mit einer abfälligen Bemerkung über seine Schwester und der stolze Zidane verlor die Nerven. Er rammte dem Italiener seinen Kopf vor die Brust und der vollendete die Posse und stürzte schreiend zu Boden. Schiedsrichter Elizondo aus Argentinien schickte ihn vom Platz, es geschah Zidane schon zum 14. Mal in seiner Karriere. Die zehn Minuten in Unterzahl überstand Frankreich zwar, aber nun fehlte der sicherste Elfmeterschütze. Es kam, was kommen musste: Italiens Spieler behielten im Gegensatz zum Finale von 1994 die Nerven und trafen sämtlichst, dagegen verschoss David Trezeguet als einziger. Italien war zum vierten Male Weltmeister geworden, jeder Spieler um 250.000 Euro reicher.

Franz Beckenbauer kommentierte das so: „Die Italiener gestalteten das Elfmeterschießen wie sie im gesamten Turnier aufgetreten waren. Clever und fehlerfrei, ohne allzu viel Zauber. So gewinnt man vielleicht nicht alle Herzen, aber Titel.“ Italien feierte trotzdem ausgelassen, Trainer Marcello und seine Helden wurden am folgenden Montag im Parlament empfangen, ehe sie wie einst die Cesaren durch Rom kutschiert wurden.

Nun war es Zeit, Bilanz zu ziehen. Der Kicker schrieb: „Diese 18. Weltmeisterschaft war die schönste, stimmungsvollste, emotionalste, bestorganisierte, bestbesuchte, kostspieligste aber auch ertragreichste WM aller Zeiten.“ Das Organisationskomitee erwirtschaftete einen Gewinn von 135 Millionen Euro, nur ein Mal (1994 in den USA) waren noch mehr Zuschauer gekommen als 2006 (3,35 Millionen), obwohl nun alle Spiele ausverkauft waren. Einmalig! Miroslav Klose wurde als zweiter Deutscher nach Gerd Müller (1970) WM-Torschützenkönig. Am schönsten aber ist die Feststellung, dass die Welt wohl nie ein besseres Bild von Deutschland gehabt als in jenem wunderbaren Sommer 2006.