"Korea, kannst du mich hören?"

Brasiliens Versagen ist ein Grund dafür, warum England 1966 als WM der Überraschungen in die Annalen einging. Dass WM-Neuling Portugal in der Brasilien-Gruppe alle Spiele gewinnen würde, stand auch auf keinem Expertenzettel. Frankreichs klägliches Scheitern in Gruppe 1 mit Sieger England, Uruguay (Zweiter) und Mexiko war zumindest ein empfindlicher Schlag für Europas Selbstbewusstsein.

Doch es war nichts gegen den Volltreffer in die Magengrube, den die Nordkoreaner setzten. Am 19. Juli trafen sie im letzten Spiel der Gruppe 4 auf Italien, dessen Sieg nur als Formsache angesehen wurde. Nordkorea hatte zwar nur zwei seiner 37 Vorbereitungsspiele verloren und zuvor gegen Chile (1:1) in letzter Minute seinen ersten WM-Punkt erbeutet, beeindruckte aber mehr durch roboterhafte Laufbereitschaft als durch Spielvermögen. Einige verglichen die Asiaten mit einem Ameisenhaufen, Schlagzeilen machten nur ihre Extravaganzen neben dem Platz. So war ihnen kein Trainingsplatz gut genug, gleich drei ihnen zugewiesene Felder lehnten sie strikt ab.

Jungstar Beckenbauer beeindruckte die Fachwelt

Die 79-köpfige Delegation war die größte aller Teilnehmer, allein neun Dolmetscher waren im Einsatz, und musste auf zwei Hotels verteilt werden. Die Mannschaft des von England offiziell nicht anerkannten kommunistischen Staates wurde von einem Militär-Obersten trainiert – oder besser gedrillt.

Seit 13 Monaten waren die Spieler kaserniert worden und keinem war es erlaubt vor der WM zu heiraten. Dafür feierten sie andere Feste. In Middlesbrough erlebte die WM eine ihrer denkwürdigsten Momente und Italiens Fußball in etwa das, was für Deutschland „Cordoba“ ist. Eine Schmach.

Ein Spieler namens Pak Doo-Ik schoss sich in der 40. Minute in die Schlagzeilen der Weltpresse, als er nach einem Fehlversuch – er trat in den Rasen – im zweiten Versuch Torwart Albertosi überwand.

Die Italiener, seit der 22. Minute verletzungsbedingt in Unterzahl, schlugen wütend zurück und holten 19:2 Ecken heraus. Aber kein Tor mehr, es blieb beim 1:0. „Korea, kannst Du mich hören? Wir haben gewonnen“, brüllte ein patriotischer Rundfunkreporter ins Mikrofon in Richtung Heimat. Torschütze Pak Doo-Ik gab später zum Besten: „In der Kabine weinten wir alle. Ich rannte die Treppe hinauf zu den obersten Rängen der Tribüne und hielt eine Rede an den Großen Führer Kim Il-Sung. Ich wusste, wir hatten ihm seinen Wunsch erfüllt. Und dann musste ich noch mehr weinen.“

Auch Italien weinte – Tränen der Wut. Eine Wut, die die schon damals hochdotierten Profis zu spüren bekamen: obwohl sie statt in Mailand in Genua landeten und der Flieger morgens um 3.28 Uhr aufsetzte, warteten Hunderte Tomatenwerfer auf die Azzuri. Im Parlament musste sich die Regierung Fragen der Opposition gefallen lassen, wie es sein könne, dass Italien gegen ein Land wie Nord-Korea verloren habe. Die parlamentarische Anfrage änderte auch nichts an den Fakten und Trainer Edmondo Fabbri wurde alsbald arbeitslos. Mit Nordkorea zog die UdSSR, die alle Spiele gewann, ins Viertelfinale ein.

In der deutschen Gruppe hieß der Favorit Argentinien, das allein Weltmeister Brasilien seit 1962 vier Mal bezwungen hatte. Insgeheim richtete man sich im DFB-Lager auf ein Duell mit Spanien um den zweiten Platz ein. Dazu mussten möglichst viele Punkte und Tore gegen die Schweiz her, die am 13. Juli in Sheffield erster deutscher Gegner war. Die Schweizer nahmen das WM-Abenteuer offensichtlich etwas lockerer und drei Spieler machten noch am Abend vor der Partie einen längeren Ausflug, darunter der spätere Nationaltrainer Köbi Kuhn. Wie ARD-Reporter Rudi Michel am nächsten Tag zu berichten wusste, hatten sie „den Zapfenstreich um genau 57 Minuten überzogen“ und sich so selbst aus dem Team katapultiert. Ob es einen anderen Sieger gegeben hätte, darf angesichts der grandiosen Form der Deutschen jedoch bezweifelt werden.

Am Ende des Nachmittags von Sheffield hieß es 5:0, die meisten Tore schoss dabei das Mittelfeld. Die Zimmerpartner Helmut Haller und Franz Beckenbauer trafen jeweils doppelt, Dortmunds Stürmer Siggi Held allerdings musste in der 13. Minute den Bann brechen. Als Beckenbauer nach Doppelpass mit Uwe Seeler das 3:0 erzielte, schwärmte Rudi Michel: „Das sind Kombinationen wie aus der Fußball-Fibel. Es ist unglaublich, welche Spielerpersönlichkeiten wir doch haben.“ Und als der 20jährige Beckenbauer nach der Pause über das halbe Feld marschiert war, um bei seiner WM-Premiere erneut in ungewohnter Torjäger-Rolle zu brillieren, jubilierte der Kommentator: „Ich bin sicher, dieses Spiel wird das Urteil über den deutschen Fußball in Europa ändern. Denn die Deutschen spielen nicht kraftvoll, sie spielen technisch gekonnt.“

Vor allem Bayern Münchens Jung-Star Franz Beckenbauer beeindruckte die Fachwelt: „Dieser junge Mann hat schon alles, was ein Fußballspieler überhaupt haben kann“, lobte Spaniens Trainer Villalonga. Es war also ein rundum gelungener WM-Start – sieht man einmal davon ab, dass ein englischer Bäcker auf der Geburtstagstorte für Torwart Hans Tilkowski, der am Spieltag 31 Jahre wurde, Geburtstag mit p geschrieben hatte. Dennoch kam die nette Geste der Gastwirte im herrlichen Quartier Peveril of the Peak, in der mittelenglischen Grafschaft Derbyshire, gut an.

Nun warteten in Birmingham die Argentinier. Der DFB-Bus legte auf der Anfahrt noch einen Zwischenstopp ein, in einer Turnhalle wurden Tee, Sandwiches und Schaumgummi-Matratzen bereitgestellt. Zum Entspannen.

Davon konnte auf dem Platz nicht mehr die Rede sein, an diesem 16. Juli entwickelte sich eines der unschönsten Spiele der deutschen WM-Geschichte. Zwei Mal trafen die Argentinier die eigene Latte, aber Tore fielen nicht – Spieler umso mehr. Hinterher wurden 32 Unterbrechungen nach Fouls gezählt, Argentinien gewann in dieser Hinsicht mit 21:11. „So viele bösartige Fouls, wie ich heute von der argentinischen Mannschaft gesehen habe, erleben wir hier in der ganzen Saison nicht“, sagte der deutsche Torwart von Manchester City, Bernd Trautmann. Als der Argentinier Albrecht vom jugoslawischen Schiedsrichter gestenreich des Feldes verwiesen wurde, gab es einen Tumult.

In einem WM-Buch liest sich das so: „Schiedsrichter Zecevic schritt zu Taten, die niemand verstand, weil er kein Spanisch sprach. Es dauerte Minuten, bis die Argentinier begriffen hatten, welche Schmach er ihnen antun wollte. Albrecht sollte vom Platz! Der Jugoslawe wird an die Höhe seiner Lebensversicherung für die Witwe gedacht haben, als er sich einem Dutzend drohender Fäuste gegenüber sah.“ Erst nach fünf Minuten fügte sich Albrecht.

Die FIFA verwarnte die argentinische Delegation inklusive Trainer Lorenzo, der aufs Feld gestürmt war, offiziell. Die Deutschen, die die Überzahl nicht nutzen konnten, fuhren körperlich angeschlagen und seelisch leicht geknickt zurück, bissiger Kritiken harrend nach einem Spiel, das „kein Fußball“ war, wie Helmut Schön zugab. Aber er traf auch die Situation, als er in die Runde fragte: „Was ist los? Sind wir schon aus dem Rennen?“

Waren sie nicht, aber gegen Spanien, das gewinnen musste, durften sie wiederum keineswegs verlieren. Schön war auch aufgrund der argentinischen Gangart zu Umstellungen gezwungen und brachte den Dortmunder Linksaußen Lothar Emmerich, der erst ein Länderspiel bestritten hatte, sowie Duisburgs Werner Krämer. Dafür nahm er Albert Brülls und Helmut Haller aus der Elf.

Die Herausnahme des Italien-Legionärs Haller vom FC Bologna war ein Politikum und lag Schön schwer im Magen, als er sich nach eigenen Worten am Spieltag morgens um fünf gleich nach dem Aufwachen dazu durchgerungen hatte. Das erzählte er alsbald seinen noch schlummernden Assistenten Dettmar Cramer und Udo Lattek, dessen WM-Aufenthalt adidas bezahlte. Cramer berichtete: „Er hat sich zwei Tage und zwei Nächte mit der Entscheidung herum geschlagen. Am Mittwochmorgen um 8 Uhr erschien er hier im Zimmer an unseren Betten und teilte uns seinen Entschluss mit.“ Diese Erklärung war deshalb interessant, weil in der Presse Spekulationen aufgekommen waren, Helmut Schön stelle die Mannschaft gar nicht alleine auf.

Seine Eingebung war kein Fehler, denn zumindest Emmerich schlug ein. Er erzielte gegen Spanien den 1:1-Ausgleich mit einem Schuss aus fast unmöglichem Winkel von der Torauslinie – und Uwe Seeler rettete in Birmingham mit seinem ersten Turnier-Tor kurz vor Schluss den Sieg. Auch den in der Gruppe 2 übrigens, wodurch man England entgangen war.