Legendärste Fehlentscheidung

Nach den Unkenrufen in Folge der Weltmeisterschaft 1962 war es um so überraschender zu sehen, dass die Idee eines globalen Fußballturniers nicht mehr auszulöschen war. Wurde vier Jahre zuvor noch im ersten Zorn über unsportliche, unattraktive und schlecht besuchte Spiele in Chile laut über eine Abschaffung nachgedacht, stellte die FIFA vor der Endrunde 1966 fest, dass die WM-Bewegung lebendiger denn je war. Als am 31. Januar 1964 die Qualifikationsgruppen zugeteilt (nicht gelost!) wurden, war eine Rekordteilnehmerzahl von 72 Ländern zu verzeichnen – vor Chile waren es 54 gewesen.

Alle wollten nach England, ins Mutterland des Fußballs. Viel hätte nicht gefehlt und die WM 1966 wäre in Deutschland ausgetragen worden, denn der DFB war der einzige Gegenkandidat bei der Abstimmung auf dem Fifa-Kongress 1960 in Rom. Doch die Engländer warfen ihr Jubiläum in die Waagschale, 1963 wurde der Verband bereits 100 Jahre alt, und schlugen die Deutschen mit 34:27 Stimmen. Es war, wenn man so will, ein Omen für das Wembley-Finale, in dem sich diese Länder sechs Jahre später ebenfalls duellieren sollten.

Bis es so weit war, mussten die WM-Kandidaten erst durch die Mühlen der Qualifikation. Erstmals hatte die FIFA den „Exoten“ einen Startplatz garantiert. Doch leichter wäre es wohl gewesen, ein Kamel durch ein Nadelohr zu schleusen, als sich als Primus von drei Kontinenten zu qualifizieren. Im Klartext: Asien, Afrika und Australien spielten einen Teilnehmer aus. Afrika zog daraufhin als Kontinentalverband geschlossen zurück und zeterte: „Wir fordern zumindest zwei Plätze für England. Europa bekommt zehn Plätze und wir müssen uns sogar noch mit Australien qualifizieren. Das ist eine glatte Benachteiligung, wir machen nicht mit.“

So wurde das Nadelöhr etwas größer und hindurch schlüpfte ein Exot, von dem noch die Rede sein wird – Nordkorea, das davon profitierte, das der verfeindete Bruderstaat Südkorea nicht antrat und Südafrika suspendiert wurde. Noch immer spielte die Weltpolitik eine nachteilige Rolle im Vorfeld des Turniers und es kam zu aus heutiger Sicht absurden Gruppen-einteilungen. So wurden Israel und Syrien kurzerhand nach Europa „verlegt“, wo sie auch rein sportlich fremdelten.

Portugal beklagte sich über seine Kontrahenten in einem Brief an die FIFA: „Die geographische Lage ist in keinster Weise berücksichtigt worden. Wir haben mit Rumänien und der CSSR zwei Gegner aus dem Osten, dazu noch die Türkei. Und wer soll die hohen Reisekosten zahlen?“ Letztlich hatten sie Geld genug, um sogar nach England zu reisen. Auch von Portugal wird man noch hören.

Mancher suchte den Weg noch durch die Hintertür. Die an Bulgarien gescheiterten Belgier legten Protest ein, weil ein Bulgare nach dem Spiel kollabiert sei. Klarer Fall von Doping, meinten die Belgier. Die FIFA lehnte ab, weil der Protest „vor dem Spiel“ hätte eingehen müssen. Seltsam.

Die deutsche Mannschaft war mit Schweden und Zypern in einer Dreiergruppe und musste nach dem 1:1 gegen die Skandinavier in Berlin zittern. Die Premiere von Herberger-Nachfolger Helmut Schön war missglückt an jenem November-Tag 1964 und vor dem Rückspiel im September 1965 in Stockholm war die Angst groß, man könne den Flug nach England verpassen – so wie etwa Vize-Weltmeister CSSR.

„Nie zuvor stand ein Spiel unter so einer nervlichen Belastung für uns alle“, gab Helmut Schön hinterher zu. Er hatte Risiko gespielt und neben dem Rekonvaleszenten Uwe Seeler auch zwei Debütanten aus München eingesetzt: Franz Beckenbauer und Peter Grosser. Deutschland siegte mit 2:1 und so wird zumindest auch von Seeler und Beckenbauer noch etwas zu hören sein. Denn sie standen im Aufgebot, das sich Schön aus anfangs 40, später 26 Spielern zusammensuchte. Spieler des amtierenden Meisters TSV 1860 München waren nicht dabei, auch ein Günter Netzer, damals im ersten Bundesliga-Jahr, wurde noch aussortiert. Nach ein paar Tagen in Malente reiste der 22er-Kader am 8. Juli als letzter der 16 Teilnehmer auf die britische Insel. Als die Lufthansa-Maschine Heidelberg das Wembley-Stadion überflog, meldete sich der Kapitän zu Wort: „Hier möchten wir sie spielen sehen.“

Favoriten waren sie zwar nicht, wie Schön gern betonte, aber der deutsche Fußball befand sich nach dem Rückschlag von Chile im Frühjahr 1966 offenkundig im Aufschwung. Hatte doch am 5. Mai mit Borussia Dortmund erstmals überhaupt ein deutscher Klub einen Europapokal gewonnen – den der Pokalsieger gegen den FC Liverpool. Im Vorjahr hatte 1860 München in diesem Wettbewerb bereits das Finale erreicht – und die neuformierte Nationalmannschaft, in der seit Chile 39 Debütanten zum Einsatz gekommen waren, hatte sechs der letzten sieben Spiele vor der WM gewonnen.

Dass die Buchmacher dennoch die niedrigsten Quoten auf Titelverteidiger Brasilien (7:4) und Gastgeber England (9:2) vergaben, verwunderte nicht. Die Deutschen standen auf dem sechsten Platz, man hätte den vierzehnfachen Einsatz zurückbekommen im Falle eines WM-Glücksfalles. Dass in England überhaupt um den Jules-Rimet-Pokal gespielt werden konnte, ist im Übrigen einem kleinen Hund zu verdanken.

Denn wie bereits 1895 der nationale FA-Cup war den Engländern im März 1966 auch die WM-Trophäe abhanden gekommen. Sie wurde in Westminster über Nacht auf einer von sechs Detektiven bewachten Ausstellung über Sport-Briefmarken, der sie einen gewissen Glanz verleihen sollte, gestohlen. Das Geschrei war groß, England stand eine Woche unter Schock und Scotland Yard verhaftete die üblichen Verdächtigen – ergebnislos.

Aber am 27. März 1966 führte der Londoner Barkassenführer Dave Corbett seinen Hund wie jeden Sonntag im eigenen Garten spazieren und der kleine Pickles, eine schwarz-weiße Promenadenmischung, entdeckte den in Zeitungspapier eingewickelten Pokal im Gebüsch. Die WM hatte ihren Siegerpreis wieder, England seine Ehre und Dave Corbett fortan einen vierbeinigen Helden an der Leine. Der kleine Pickles machte ihn reich, allein schon durch seine Nebenrolle im Film „Der Spion mit der kalten Schnauze“ kamen 60.000 Pfund herein.

Die FIFA lud Pickles samt Herrchen übrigens zum Eröffnungsspiel ein. – und sogar zur WM 1970 nach Mexiko, doch solange währte sein Hundeleben leider nicht. Er erdrosselte sich mit der eigenen Leine – auf der Jagd nach einer Katze. Auch Prominenz schützt vor Unglück nicht.

Eine Weisheit, die auch auf den designierten Super-Star der WM zutreffen sollte. Der WM-Favorit Nummer eins war Brasilien, Brasilien aber war Pelé. Zum dritten Mal bereits nahm der Stürmer des FC Santos an einer WM teil, zwei Mal hatte es zum Titel gereicht. Warum nicht wieder? Im Quartier der Brasilianer trafen in England täglich bis zu 3000 Briefe ein, oft nur mit „König Pelé“ adressiert – analog zu dem Filmtitel, der die Kinokassen auch international füllte. Schon mit 25 Jahren war dieser Pelé ein gemachter Mann, der drei Häuser besaß, darunter einen 20-stöckigen Wolkenkratzer.

Und so war es nur angemessen, dass er auch das erste Tor der Weltmeisterschaft schoss, die mit einem niveauarmen 0:0 zwischen England und Uruguay begonnen hatte. Gegen Bulgarien (2:0) verwandelte Pele am nächsten Tag einen Freistoß. Dass es sein einziges Tor bleiben sollte, ahnte niemand. Aber es sollte nicht die WM der Südamerikaner werden und schon gar nicht die des Titelverteidigers.

Bereits nach der Vorrunde war Brasilien, das danach gegen Ungarn und Portugal jeweils verdient mit 1:3 verlor, ausgeschieden. Das hatte es seit 1950 in der WM-Historie nicht mehr gegeben und nur Frankreich erduldete 2002 als Titelverteidiger das gleiche Schicksal. In Rio de Janeiro kollabierten Menschen auf öffentlichen Plätzen, als das Ergebnis gegen Portugal über Lautsprecher verkündet wurde, Straßenkämpfe brachen aus und der Sitz des Fußballverbands erhielt Polizeischutz. Auch vor dem Haus des Nationaltrainers Vicente Feola zog die Polizei schon vor seiner Rückkehr einen Sicherheitsgürtel.

„Die Ära Brasiliens aber ist beendet. Für wie lange? Pelé sagte, dass er an keiner WM mehr teilnehmen wolle. Und neue Pelés bringt auch Brasilien nicht jedes Jahr hervor“, stimmte der Fußball- Sport schon einen Abgesang an. Feola hatte Pele gegen Ungarn geschont, das warf man ihm nun vor. Schon in der Halbzeit meckerte Djalma Santos: „Ohne Pelé sind wir nur die Hälfte wert.“ Doch als der Angeschlagene zurückgekehrt war, konnte er gegen Portugal auch keine Wunder mehr vollbringen. Ein König ohne Macht.