Das Wunder von Bern

Die Weltmeisterschaft 1954 war für die FIFA ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Turnier. Nie fielen mehr Tore, der Veranstalter machte ein sattes Plus von 2,75 Millionen Franken, und schon im Vorfeld zeichnete sich ab, dass die fünfte Ausspielung des Weltpokals unter erfreulicheren Vorzeichen stehen würde als die der Vorläufer. Erstmals musste der Weltverband nicht auf Betteltour gehen, um Teilnehmer in die Schweiz zu locken, vielmehr konnte er den Spieß sogar umdrehen und Absagen erteilen. Sieben Verbände, darunter der der Niederlande, wurden wegen zu später Anmeldung ausgeschlossen. Nun verblieben immer noch 38 Nationen, die um die 14 vakanten Plätze kämpfen durften, der Gastgeber und der Titelverteidiger (Uruguay) waren traditionsgemäß kampflos qualifiziert.

Die Schweizer bereiteten sich übrigens länger als jeder andere Gastgeber auf ihr Turnier vor, den Zuschlag erhielten sie schon 1946 – ursprünglich aber für das Jahr 1951, doch wurde der Turnus noch geändert. 1954 hätte die WM eigentlich in Schweden stattfinden sollen, und so hätte es für Deutschland vielleicht ein Wunder von Stockholm statt des Wunders von Bern gegeben. Ganz glatt lief aber auch diese Qualifikation nicht: Argentinien verzichtete wieder mal, und insgesamt traten nur vier Nicht-Europäer die Reise in die Schweiz an, wo ab dem 16. Juni erneut eine verkappte Europameisterschaft stattfand. Kurios dabei: Ohne gegen einen Ball getreten zu haben, nahmen die Ungarn an der WM teil. Qualifikationsgegner Polen zog angesichts der Aussichtslosigkeit zurück, was man sogar verstehen konnte. Seit 14. Mai 1950 war die Elf um Major Ferenc Puskas von Sieg zu Sieg geeilt, 1952 holte sie Olympia-Gold und im November 1953 stürmte sie mit einem furiosen 6:3 als erste kontinentale Mannschaft überhaupt die britische Fußball-Festung Wembley.

Ungarn als Wett-Favorit

Die Ungarn waren bei den Buchmachern der Weltmeister-Tipp schlechthin (Quote: 3,5:2), auch wenn sie gar nicht von dieser Welt zu sein schienen. Ausgerechnet diese Wunder-Mannschaft, die im Schnitt 4,3 Tore schoss, wurde den Deutschen, die sich gegen das damals eigenständige Saarland und Norwegen ungeschlagen qualifiziert hatten, zugelost.

Die Herberger-Elf war nur 9:1-Favorit, also krasser Außenseiter. Der Nürnberger Max Morlock hatte schon einen Italien-Urlaub gebucht, der mit dem Viertelfinale begonnen hätte. Als das deutsche Team am 11. Juni in grünen DFB-Anzügen in Karlsruhe den Zug nach Basel bestieg, sprach auch niemand vom WM-Titel. Die Zöllner an der Schweizer Grenze fragten die Reisegesellschaft beinahe mitleidig: „Was wollt denn ihr in der Schweiz? Ihr habt doch nicht etwa vor, die Ungarn, Brasilianer oder Urus zu schlagen?“ Und als der Kicker am 14. Juni erschien, titelte er: „Hoffen wir auf ein Wunder!“. Es „entspräche aller nüchternen Papierform-Vernunft, wenn die deutsche Mannschaft in acht Tagen aus Spiez besiegt abreisen“ würde, schrieb das Fachmagazin. Doch bekanntlich kam es anders – die deutschen Gäste blieben bis zuletzt auf der Fußball-Party im schönen Nachbarland. Das vielbesungene Wunder von Bern, es war vor allem ein geplantes Wunder – entstanden im schlauen Kopf von Bundestrainer Sepp Herberger.

10 Mark Tagesgeld

Und das mit 22 Amateuren, denn eine Bundesliga gab es noch nicht, Profispieler daher ebenso wenig. Die WM-Teilnahme bedeutete für etliche Spieler vor allem Verdienstausfall, sie mussten teilweise unbezahlten Urlaub nehmen, 10 Mark Tagesgeld waren ein schwaches Trostpflaster. Zusatzeinnahmen gab es nicht: Keiner hatte einen Werbevertrag, geschweige denn eine Schallplatte besungen. Der Star-Kult um Fußballer war noch nicht erfunden und nur über Kapitän Fritz Walter war schon eine Biographie erschienen. International war diese Mannschaft mit im Schnitt 6,7 Länder-spielen ein unbeschriebenes Blatt.

„Der Chef“, wie Herberger im Team genannt wurde, suchte sich seine Kandidaten aus den vier Regionalligen zusammen und fuhr mit seinem Opel Olympia uner-müdlich an den Wochenenden durch die Lande. Anders konnte er ihre Form nicht überprüfen, bewegte Fußballbilder gab es nur im Kino – kleine Ausschnitte im Rahmen der Wochenschau.

Minigolf und Wanderungen

Im Mai zog er die Spieler erstmals zusammen, doch ohne Ball und Hütchen. Im Schwarzwald sollten sie entspannen und sich besser kennenlernen, bei Minigolf und Wanderungen mit Versteckspielen. In München-Grünwald brachte Herberger sie konditionell auf die Höhe, bis zu dreieinhalb Stunden am Tag wurde trainiert. „Dieser Lehrgang schuf die Grundvoraussetzung für unsere sehr gute Verfassung in der Schweiz, wo wir die konditionsstärkste Mannschaft waren“, beteuert Weltmeister Horst Eckel. Herberger reduzierte den Kader dort von 30 auf 22 Spieler. Dabei demonstrierte er Härte und suspendierte den Sodinger Gerhard Harpers, der nachts ausgebüchst war. Besser verlassen konnte er sich auf seine Kaiserslauterer Spieler, von denen fünf im Kader und auch in der Stammelf standen. Ihr Kapitän Fritz Walter war auch der Herbergers, der Lauterer Block somit automatisch ein Machtfaktor und die interne Hierarchie geklärt. Von den 22 Männern, die den Zug nach Basel stiegen, wussten mindestens neun, dass sie nur Statisten sein würden, zumal Auswechseln verboten war. Aufgebäumt hat sich keiner. „Herberger war ein großartiger Psychologe, der es mit Genialität verstand, 22 Spieler unter einen Hut zu bringen“, lobte der Fürther Karl Mai später das Klima.

Sie bezogen Quartier am Thuner See im idyllischen Örtchen Spiez. Um diese ruhige Unterkunft wurden die Deutschen beneidet, die Wahl war natürlich kein Zufall. Im Auftrag von Herberger war der neunmalige Nationalspieler Albert Sing im Frühjahr auf Quartier-suche gegangen. Als Trainer von Young Boys Bern kannte er den Hotelier des Belvedere und überredete ihn, die Deutschen aufzunehmen, was nicht leicht war. Sein Haus hatte holländische Stammgäste und wegen des noch keineswegs überall verwundenen Krieges befürchtete er Komplikationen. Sing setzte aber Herbergers Willen durch und so kam Spiez zu seinem heute schon mythischen Geist.

Zimmerbelegung mit Bedacht

Die Zimmerbelegung folgte mit Bedacht. Herberger legte nach Möglichkeit immer zwei Spieler eines Mannschaftsteils zusammen, so „dass sie sich bis in die letzten Träume hinein noch fachlich unterhalten können“, wie Fritz Walter später süffisant berichtete. Er selbst bekam mit dem positiv verrückten Essener Rechtsaußen Helmut Rahn in Zimmer 303 einen Partner, der vom Naturell her das krasse Gegenteil war. Spaßvogel Rahn sollte Walter aufbauen, der nach der 1:5-Niederlage der Lauterer im Meisterschaftsfinale gegen Hannover frustriert angereist war.

So folgte alles einem Plan. „Der Chef“ regierte mit sanfter Strenge. In Zimmer 313 am Ende des Ganges schien er alles mitzubekommen, was auf der Etage vor sich ging. Als sich die Lauterer Ottmar Walter und Werner Liebrich eines Abends zu später Stunde im Zimmer noch eine Flasche Bier gönnen wollten, schaute Herberger herein noch ehe sie einen Schluck genommen hatten. Er wünschte nur freundlich „Lasst’s euch schmecken, Männer“. „Das kann doch nicht wahr sein“, seufzte Ottmar Walter. Auch dass die Spieler im geheimen Abkommen mit dem Barkeeper ihr Feierabendbier aus Milchgläsern tranken, durchschaute er bald. „Na Männer, trinkt ihr wieder euer’ Milch?“, sagte Herberger dann und lächelte wissend. So hat es Eckel erzählt.

Es war, wie der „Spiegel“ schrieb, eine sanfte Tyrannei und sie führte zum wohl größten Erfolg des deutschen Fußballs.

Gesetzte und Ungesetzte

Damit war auch aufgrund des eigentümlichen Modus nicht zu rechnen. Die 16 Mannschaften kamen zwar in Vierer-Gruppen, doch wurden diese noch mal unterteilt – in Gesetzte und Ungesetzte. So durften die vermeintlich Starken nur gegen die vermeintlich Schwachen spielen. Deutschland wurde nebst Punktelieferant Südkorea nicht gesetzt und musste nur gegen Ungarn und die Türkei spielen. Ein Sieg im Auftaktspiel war daher nötig und er gelang. Wer das 4:1 sehen wollte, musste nach Bern kommen. Das gerade erst in Mode kommende Fernsehen übertrug nicht, das Radio nur die zweite Halbzeit. Am nächsten Morgen kamen 500 deutsche Fans zum Training und feierten die Helden und holten sich Autogramme, „soweit es der Dienstplan gestattet“, wie Herberger vermeldete.

Vor dem nächsten Spiel in Basel gegen die Ungarn, die Südkorea mit 9:0 verputzten, schonte Herberger fünf Stammspieler und riskierte eine hohe Niederlage. Ihm ging es nur um das sich anbahnende Entscheidungsspiel gegen die Türken, doch 20.000 Deutsche unter den 65.000 sahen das anders. Sie wollten einen fairen Kampf mit der Übermannschaft sehen. Die Partie war das einzige Vorrundenspiel, das schon vor der WM ausverkauft gewesen war – und ausgerechnet da spielte Deutschland nur mit halber Kraft? Am Ende stand die bis heute höchste deutsche WM-Niederlage, ein unerhörtes 3:8. Herberger sagte vor der Presse: „Ich kann mir denken, dass nun Vorwürfe kommen. Was aber hätte man gesagt, wenn die beste deutsche Mannschaft verloren hätte? So werden wir alles tun, unsere Chance aufs Viertelfinale zu nutzen.“