Sozialwissenschaftler Claus: "Nach Nivel und Lens kam die Wende"

Robert Claus hat ein Sachbuch über Hooligans geschrieben und berät Kampfsportverbände mittels des von der Bundesregierung geförderten Projekts "Vollkontakt Demokratie und Kampfsport". Anlässlich des Jahrestags des Anschlags auf Daniel Nivel spricht der Soziologe im DFB.de-Interview über die bestimmende Fankultur der 80er- und 90er-Jahre sowie über wirksame Maßnahmen der Gewaltprävention in den Kurven.

DFB.de: Der Gendarm Daniel Nivel spielte vor dem Überfall noch mit einem 9-jährigen Jungen auf der Straße Fußball. Dann wurde er von einer Gruppe völlig enthemmter Hooligans attackiert. Der Haupttäter wanderte wegen Mordversuchs zehn Jahre ins Gefängnis. Herr Claus, wie erklärt man das Unerklärliche?

Robert Claus: Wir sprechen bei Hooligans über eine Ideologie der Gewalt. Es geht darum, den Gegner zu dominieren und zu verletzen, unter anderem, um dadurch die eigene Männlichkeit nachzuweisen. Der schreckliche Angriff auf Daniel Nivel am 21. Juni 1998 stand in einer über 20 Jahre andauernden Reihe größtenteils rechtsextremer Fangewalt. Insbesondere Turniere in den Ländern, die im 2. Weltkrieg Angriffsziel der Wehrmacht waren, werden bis heute als symbolische Kämpfe betrachtet. So war es auch beim Turnier in Frankreich.

DFB.de: Sind Hooligans per se rechtsextrem?

Claus: Nein, aber die Schnittmenge ist schon sehr groß. Die Gewalt als zentrales Einstellungsmerkmal verbindet.

DFB.de: Damals waren Länderspiele ein beliebter Treffpunkt für Hooligans. Warum ist es heute nicht mehr so?

Claus: Diese Einschätzung teile ich nicht. Es gibt keinen Anlass zu denken, man wäre die Hooligans komplett losgeworden, wie etwa die Ereignisse rund um das Länderspiel in Prag 2017 zeigten. Allerdings fremdelt ein Teil der Szene mit der Nationalmannschaft, weil nämlich ihr Ideal eines rein weißen Teams nicht erfüllt wird. Zudem wird gerade in Zeiten ausbleibender Erfolge gegen Spieler of Colour rassistisch gehetzt.

DFB.de: Wie begann der Hooliganismus und wie ist die Situation heute?

Claus: Ende der siebziger Jahre kommt das Phänomen aus England nach Deutschland. Gewaltbereite Fußballfans, die es auch vorher schon gab, organisierten sich als Hooligans. In den achtziger und neunziger Jahren war dies die prägende Jugendkultur in einem Großteil der Fanszenen. Damals hing in vielen Kurven die Reichskriegsflagge. Diese Symbolik begegnet uns heute in der Tat nicht mehr im Profifußball.

DFB.de: Und dann kam der Tag in Lens.

Claus: Genau, der Angriff auf Daniel Nivel steht bis heute symbolisch für die Gewalt extrem rechter Hooligans. Der DFB war aufgrund der laufenden Bewerbung für die WM 2006 damals sehr von der Sorge umtrieben, dass die furchtbare Tat von Lens sich auf die Turniervergabe auswirken könnte. Damals entstanden sehr viele Maßnahmen, etwa der Aufbau der polizeilichen Zentralkarteien und der Ausbau der Sicherheitstechnik in den Stadien. Der DFB verstärkte deutlich seine sozialen und politischen Anstrengungen. In dieser Zeit liegen auch die Anfänge der Abteilung Gesellschaftliche Verantwortung in der Struktur des Deutschen Fußball-Bundes.

DFB.de: Inwieweit spielte auch eine neue Fußball-Fankultur eine Rolle beim Rückgang des Hooliganismus?

Claus: Das Aufkommen der Ultra-Kultur ist ganz wesentlich für die schwindende Bedeutung der Hooligans. Viele Gruppen sind deutlich weniger rechtsgesinnt, sie bevorzugen statt einer gewalttätigen eine eher kreative Unterstützung der eigenen Mannschaft.

DFB.de: In Ihrem Buch "Hooligans", das 2021 bereits in die dritte Auflage ging, haben Sie sich mit den jüngsten Entwicklungen dieser Gruppe beschäftigt. Gibt es sie denn heute noch, die Hooligans?

Claus: Die Hooligans haben jedenfalls das Stadion nie komplett verlassen, aber sie haben sich reorganisiert. Um die Jahrtausendwende werden die "Ackermatches" immer zentraler, bei denen sich Gruppen im Wald treffen. In den 2010er Jahren kommt es vermehrt zu politischen Konflikten, etwa in den Fanszenen in Braunschweig, Aachen und Duisburg. Der Hooliganismus hat sich seitdem stärker im Kampfsport verankert. Seit seinen Ursprüngen Ende der siebziger Jahre hat sich der Hooliganismus somit von einer gewalttätigen Fußballfankultur der Straßenrandale hin zu einem semiprofessionellen internationalen Kampfsport-Netzwerk entwickelt.

DFB.de: War der 21. Juni 1998 für die Fanarbeit im Fußball in Deutschland eine Zeitenwende?

Claus: Ja, das würde ich so werten. Es gab davor zwei Jahrzehnte rechter Fangewalt, aber der Fall Nivel stand so symbolisch für die schrecklichen Taten der Hooligans, dass dadurch der Diskurs sich stark veränderte. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Präventionsarbeit stieg. Leider braucht es manchmal ein erschreckendes Fanal, um Entwicklungen in die richtige Richtung zu steuern.

DFB.de: Haben Sie Beispiele, was sich nach dem Sommer 1998 konkret änderte?

Claus: Der Ausbau der Fanprojekte auch gerade im Osten Deutschlands nahm damals weiter Fahrt auf, sie leisten sehr wichtige Arbeit mit jungen Fans. Der DFB unterstützt seit den 2000er Jahren zivilgesellschaftliches Engagement im Fußball, sei es durch Bildungsinitiativen, Amateurvereine und von Fanprojekten. Mit dem Julius Hirsch Preis zeichnete der DFB gemeinsam mit der Familie Hirsch seit 2005 Initiativen aus, die sich im und durch die Mittel des Fußballs gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung wenden. Die Preisträger haben einen wichtigen Beitrag geleistet, die Kurvenkultur zu ändern. Die Strategie gegen Rechtsextremismus bedeutet immer auch eine Prävention gegen Gewalt und ein Engagement für Vielfalt. Diese Ausrichtung verfolgt ein Teil des DFB. Wie stark derlei Aktivitäten in den Vordergrund gestellt werden sollen, darüber wird auch im DFB diskutiert. Im besten Fall wird die EURO 2024 den Diskurs um die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs weiter voranbringen.

DFB.de: Wie erlebten Sie selbst die Recherche für ihr Buch?

Claus: Ganz offen, für mich bedeutete die Arbeit an "Hooligans" eine Reflektion der eigenen Gewalterfahrung. Ich habe im Osten Brandenburgs die sogenannten "Baseballschläger-Jahre" selbst mit erlebt, also eine extrem rechte, gewalttätige jugendkulturelle Hegemonie, die mich als eher anders denkender junger Mensch getroffen hat. Meine Arbeit als Autor fand also auf einem biografischen Hintergrund statt.

DFB.de: Sie beleuchten viele Lebensläufe von Hooligans, die inzwischen auch alt geworden sind. Was war eine Erkenntnis?

Claus: Dieses Nachzeichnen der Biografien ist ein Teil des Buchs. Medial wird immer noch das Bild vom dumpfen Schläger gezeichnet, die etwa beruflich keine Perspektiven haben. Doch unter den Ex-Hooligans findet man heute auch Staatsanwälte und Unternehmer. Biografien sind manchmal vielschichtig.

[th]

Robert Claus hat ein Sachbuch über Hooligans geschrieben und berät Kampfsportverbände mittels des von der Bundesregierung geförderten Projekts "Vollkontakt Demokratie und Kampfsport". Anlässlich des Jahrestags des Anschlags auf Daniel Nivel spricht der Soziologe im DFB.de-Interview über die bestimmende Fankultur der 80er- und 90er-Jahre sowie über wirksame Maßnahmen der Gewaltprävention in den Kurven.

DFB.de: Der Gendarm Daniel Nivel spielte vor dem Überfall noch mit einem 9-jährigen Jungen auf der Straße Fußball. Dann wurde er von einer Gruppe völlig enthemmter Hooligans attackiert. Der Haupttäter wanderte wegen Mordversuchs zehn Jahre ins Gefängnis. Herr Claus, wie erklärt man das Unerklärliche?

Robert Claus: Wir sprechen bei Hooligans über eine Ideologie der Gewalt. Es geht darum, den Gegner zu dominieren und zu verletzen, unter anderem, um dadurch die eigene Männlichkeit nachzuweisen. Der schreckliche Angriff auf Daniel Nivel am 21. Juni 1998 stand in einer über 20 Jahre andauernden Reihe größtenteils rechtsextremer Fangewalt. Insbesondere Turniere in den Ländern, die im 2. Weltkrieg Angriffsziel der Wehrmacht waren, werden bis heute als symbolische Kämpfe betrachtet. So war es auch beim Turnier in Frankreich.

DFB.de: Sind Hooligans per se rechtsextrem?

Claus: Nein, aber die Schnittmenge ist schon sehr groß. Die Gewalt als zentrales Einstellungsmerkmal verbindet.

DFB.de: Damals waren Länderspiele ein beliebter Treffpunkt für Hooligans. Warum ist es heute nicht mehr so?

Claus: Diese Einschätzung teile ich nicht. Es gibt keinen Anlass zu denken, man wäre die Hooligans komplett losgeworden, wie etwa die Ereignisse rund um das Länderspiel in Prag 2017 zeigten. Allerdings fremdelt ein Teil der Szene mit der Nationalmannschaft, weil nämlich ihr Ideal eines rein weißen Teams nicht erfüllt wird. Zudem wird gerade in Zeiten ausbleibender Erfolge gegen Spieler of Colour rassistisch gehetzt.

DFB.de: Wie begann der Hooliganismus und wie ist die Situation heute?

Claus: Ende der siebziger Jahre kommt das Phänomen aus England nach Deutschland. Gewaltbereite Fußballfans, die es auch vorher schon gab, organisierten sich als Hooligans. In den achtziger und neunziger Jahren war dies die prägende Jugendkultur in einem Großteil der Fanszenen. Damals hing in vielen Kurven die Reichskriegsflagge. Diese Symbolik begegnet uns heute in der Tat nicht mehr im Profifußball.

DFB.de: Und dann kam der Tag in Lens.

Claus: Genau, der Angriff auf Daniel Nivel steht bis heute symbolisch für die Gewalt extrem rechter Hooligans. Der DFB war aufgrund der laufenden Bewerbung für die WM 2006 damals sehr von der Sorge umtrieben, dass die furchtbare Tat von Lens sich auf die Turniervergabe auswirken könnte. Damals entstanden sehr viele Maßnahmen, etwa der Aufbau der polizeilichen Zentralkarteien und der Ausbau der Sicherheitstechnik in den Stadien. Der DFB verstärkte deutlich seine sozialen und politischen Anstrengungen. In dieser Zeit liegen auch die Anfänge der Abteilung Gesellschaftliche Verantwortung in der Struktur des Deutschen Fußball-Bundes.

DFB.de: Inwieweit spielte auch eine neue Fußball-Fankultur eine Rolle beim Rückgang des Hooliganismus?

Claus: Das Aufkommen der Ultra-Kultur ist ganz wesentlich für die schwindende Bedeutung der Hooligans. Viele Gruppen sind deutlich weniger rechtsgesinnt, sie bevorzugen statt einer gewalttätigen eine eher kreative Unterstützung der eigenen Mannschaft.

DFB.de: In Ihrem Buch "Hooligans", das 2021 bereits in die dritte Auflage ging, haben Sie sich mit den jüngsten Entwicklungen dieser Gruppe beschäftigt. Gibt es sie denn heute noch, die Hooligans?

Claus: Die Hooligans haben jedenfalls das Stadion nie komplett verlassen, aber sie haben sich reorganisiert. Um die Jahrtausendwende werden die "Ackermatches" immer zentraler, bei denen sich Gruppen im Wald treffen. In den 2010er Jahren kommt es vermehrt zu politischen Konflikten, etwa in den Fanszenen in Braunschweig, Aachen und Duisburg. Der Hooliganismus hat sich seitdem stärker im Kampfsport verankert. Seit seinen Ursprüngen Ende der siebziger Jahre hat sich der Hooliganismus somit von einer gewalttätigen Fußballfankultur der Straßenrandale hin zu einem semiprofessionellen internationalen Kampfsport-Netzwerk entwickelt.

DFB.de: War der 21. Juni 1998 für die Fanarbeit im Fußball in Deutschland eine Zeitenwende?

Claus: Ja, das würde ich so werten. Es gab davor zwei Jahrzehnte rechter Fangewalt, aber der Fall Nivel stand so symbolisch für die schrecklichen Taten der Hooligans, dass dadurch der Diskurs sich stark veränderte. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Präventionsarbeit stieg. Leider braucht es manchmal ein erschreckendes Fanal, um Entwicklungen in die richtige Richtung zu steuern.

DFB.de: Haben Sie Beispiele, was sich nach dem Sommer 1998 konkret änderte?

Claus: Der Ausbau der Fanprojekte auch gerade im Osten Deutschlands nahm damals weiter Fahrt auf, sie leisten sehr wichtige Arbeit mit jungen Fans. Der DFB unterstützt seit den 2000er Jahren zivilgesellschaftliches Engagement im Fußball, sei es durch Bildungsinitiativen, Amateurvereine und von Fanprojekten. Mit dem Julius Hirsch Preis zeichnete der DFB gemeinsam mit der Familie Hirsch seit 2005 Initiativen aus, die sich im und durch die Mittel des Fußballs gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung wenden. Die Preisträger haben einen wichtigen Beitrag geleistet, die Kurvenkultur zu ändern. Die Strategie gegen Rechtsextremismus bedeutet immer auch eine Prävention gegen Gewalt und ein Engagement für Vielfalt. Diese Ausrichtung verfolgt ein Teil des DFB. Wie stark derlei Aktivitäten in den Vordergrund gestellt werden sollen, darüber wird auch im DFB diskutiert. Im besten Fall wird die EURO 2024 den Diskurs um die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs weiter voranbringen.

DFB.de: Wie erlebten Sie selbst die Recherche für ihr Buch?

Claus: Ganz offen, für mich bedeutete die Arbeit an "Hooligans" eine Reflektion der eigenen Gewalterfahrung. Ich habe im Osten Brandenburgs die sogenannten "Baseballschläger-Jahre" selbst mit erlebt, also eine extrem rechte, gewalttätige jugendkulturelle Hegemonie, die mich als eher anders denkender junger Mensch getroffen hat. Meine Arbeit als Autor fand also auf einem biografischen Hintergrund statt.

DFB.de: Sie beleuchten viele Lebensläufe von Hooligans, die inzwischen auch alt geworden sind. Was war eine Erkenntnis?

Claus: Dieses Nachzeichnen der Biografien ist ein Teil des Buchs. Medial wird immer noch das Bild vom dumpfen Schläger gezeichnet, die etwa beruflich keine Perspektiven haben. Doch unter den Ex-Hooligans findet man heute auch Staatsanwälte und Unternehmer. Biografien sind manchmal vielschichtig.

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