Löw, Voss-Tecklenburg und Kuntz: "Wir werden bereit sein"

Joachim Löw, Martina Voss-Tecklenburg und Stefan Kuntz hatten für die nahe Zukunft sehr konkrete Vorstellungen. Doch Corona wirbelte auch den internationalen Spielkalender durcheinander. EURO 2020 – auf 2021 verschoben. Olympia 2020 – auf 2021 verschoben. Frauen-EM 2021 – auf 2022 verschoben. U 21-EM 2021 – auf 2022 verschoben. Im DFB-Journal-Fragebogen geben die Coaches der Nationalmannschaft, der DFB-Frauen und der U 21 ausführlich Auskunft über ihre Zeit ohne Fußball. Und über ihre neuen Pläne für die Zeit danach.

DFB.de: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der Verschiebung Ihrer Turniere erfahren haben?

Joachim Löw: Es war die Entscheidung, die ich erwartet hatte, anders ging es einfach auch nicht. So wichtig der Fußball für viele Menschen auch ist: Was die EURO angeht, musste er einfach für diesen Sommer zurückstehen. Es steht außer Frage, dass wir gerne gespielt hätten, denn unsere junge Mannschaft braucht gerade solche Wettbewerbssituationen, um zu reifen, um widerstandsfähig zu werden, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Auch für die Fans in ganz Europa ist diese Verschiebung bedauerlich, denn Europa- und Weltmeisterschaften sind besondere Highlights, auf die man sich wahnsinnig freut. Aber unter diesen Umständen hätte es einfach keinen Sinn gehabt. Die Gesundheit steht über allem. Ich finde, dass der Fußball insgesamt auch mit dieser Entscheidung gezeigt hat, dass er sich seiner Verantwortung und Rolle in der Gesellschaft bewusst ist.

Martina Voss-Tecklenburg: Spontan ging mir durch den Kopf, dass sich damit meine Erwartungshaltung erfüllt hat. Es gab praktisch keine Alternative, das Turnier aufgrund der Corona-Krise und der damit einhergehenden Verschiebung der anderen Turniere selbst zu verschieben. Daher war ich nicht überrascht, sondern habe die Entscheidung, die ich absolut in Ordnung finde, so hingenommen.

Stefan Kuntz: Die Verschiebung der Turniere war nach den Nachrichten und Prozessen in den Tagen davor keine Überraschung mehr und die absolut richtige Entscheidung. Wir sind froh, dass es keine Absagen, sondern nur Verschiebungen gibt und dass der 1997er-Jahrgang weiterhin an den Olympischen Spielen teilnehmen darf.

DFB.de: Hat die Verschiebung der Turniere konkrete Auswirkungen auf Ihre Zielsetzungen? Kann das zusätzlich gewonnene Jahr vielleicht sogar von Vorteil sein?

Löw: Wir nehmen es, wie es kommt. Klar, Spieler wie Leroy Sané und Niklas Süle haben so genug Zeit, wieder in Top-Verfassung zu kommen. Aber wissen wir, was in einem Jahr ist? Wer dann fit ist und wer nicht, wer in Form ist und wer nicht? Das lässt sich immer schwer prognostizieren. Wir haben einen Umbruch eingeleitet, der sich auch aufgrund von Verletzungen nicht so einfach gestaltet hat. Dennoch haben wir eine gut funktionierende, hoch motivierte Mannschaft entwickelt, die schließlich auch ihre Qualifikationsgruppe gewonnen und sich die Teilnahme an der EURO verdient hat.

Voss-Tecklenburg: Wir sind in einem laufenden Prozess und bekommen durch das zusätzliche Jahr mehr Zeit. Daher kann es durchaus ein Vorteil sein. Allerdings gilt dieser Vorteil auch für andere Teams. An unserer Zielsetzung, bei der EM das Maximale aus uns herauszuholen, bestmöglich abzuschneiden und hoffentlich auch um den Titel mitzuspielen, hat sich nichts geändert.

Kuntz: Nein, das hat keinen Einfluss. Im Fußball, speziell bei den U-Teams, muss man flexibel sein, vor allem, weil wir die Kaderzusammensetzung nicht immer zu 100 Prozent beeinflussen können. Natürlich können Spieler in einem Jahr einen zusätzlichen Entwicklungsschub machen, das gilt aber auch für die Spieler anderer Länder. Wenn das im Einzelfall so ist, kann es sein, dass Spieler aus dem "geplanten" Olympiakader 2020 eventuell 2021 schon den Sprung in die A-Nationalmannschaft schaffen, was aber ein toller Erfolg für den Einzelnen ist. Für die U 21-EM warten wir noch auf den genauen Modus. 

DFB.de: Auf dem Platz konnten Sie in den vergangenen Wochen nicht arbeiten. Konzeptionell und analytisch schon. Wie sah das aus? Können Sie Einblicke geben?

Löw: Grundsätzlich machen wir uns immer Gedanken, an welchen Stellen wir unsere Arbeit weiter optimieren können. Nun beschäftigen wir uns mit Szenarien des Wiedereinstiegs für die Länderspiele, die hoffentlich im Herbst wieder stattfinden können. Aktuell genieße ich die Bundesliga-Spiele, die zwar ohne Zuschauer in den Stadien, aber auf einem wirklich hohen Niveau stattfinden. Die meisten Spiele, die ich bislang gesehen habe, sind von hoher Intensität geprägt. Die Spieler wirken fit und strotzen vor Spielfreude. Das macht Spaß.

Voss-Tecklenburg: Wir haben etwa unseren Leitfaden für die Nachwuchsförderung weiter ausgearbeitet, um insbesondere den Spielerinnen in den U-Mannschaften gute Konzepte an die Hand zu geben. Das reicht von konkreten Trainingsplänen über Unterstützung im mentalen Bereich durch unsere Sportpsychologinnen und -psychologen oder unserem Wertekodex bis hin zu Themen wie Nachhaltigkeit und Ernährung. Darüber hinaus gab es zahlreiche Talks mit Nationalspielerinnen oder Staff-Mitgliedern. Als Trainerteam haben wir unsere Idee davon, wie wir Fußball spielen wollen, weiter vorangetrieben, ausgehend von der A-Nationalmannschaft bis zur U 15. Insgesamt sind wir intensiv im Austausch und haben die Zeit sehr sinnvoll genutzt. Ein besonderes Highlight war die Trainertagung mit allen Trainerinnen und Trainern, auch aus dem Männer- und Jugendbereich.

Kuntz: Alle U-Trainerinnen und -Trainer sind bereits seit längerer Zeit mit unterschiedlichen Projekten betraut, die Erkenntnisse für alle Teams bringen sollen, über die wir uns in wöchentlichen Videokonferenzen austauschen. Ich arbeite unter anderem am individualisierten Stürmerprogramm. Ähnliches wird für das Mittelfeld und die Abwehr erarbeitet. Weitere Themen sind zum Beispiel das zukünftige Scouting, Potenzialerkennung oder die Ideenwerkstatt, in der über Benchmarks aus dem internationalen Fußball gesprochen wird.

DFB.de: Wie intensiv war der Kontakt mit der Mannschaft und innerhalb des Trainerteams? Worüber wurde dabei besonders intensiv gesprochen?

Löw: Wir stehen regelmäßig mit unseren Spielern in Kontakt, nicht nur über uns Trainer, sondern auch über Oliver Bierhoff und das Teammanagement. Es hat mir sehr imponiert, mit welcher Überzeugung die Mannschaft von sich aus 2,5 Millionen Euro gespendet hat, das war ein starkes Signal. Innerhalb der Sportlichen Leitung sprechen wir mehrmals in der Woche miteinander, das ist auch unabhängig von Corona so. Wir tauschen uns aus über Spieler, über mögliche Trainingsinhalte und ähnliches. Natürlich sprechen wir aber auch über persönliche Dinge, gerade in dieser Zeit wäre es doch ungewöhnlich, dies auszuklammern. Darüber hinaus habe ich auch mit einigen Trainerkollegen aus dem In- und Ausland telefoniert. Die Welt schaut voller Anerkennung auf Deutschland und darauf, wie wir den Wiedereinstieg in den Ligabetrieb bewältigen. Und ich hoffe natürlich, dass auch unsere Nationalspieler im Ausland in ihren Vereinen bald wieder spielen können.

Voss-Tecklenburg: Wir haben per Telefon oder E-Mail regelmäßigen Kontakt gehalten. Vieles lief über Abfragen, etwa zu den Trainingsplänen, die wir den Spielerinnen ergänzend zur Verfügung gestellt hatten – stets verbunden mit der Aussage, dass die Trainingspläne der Vereine Priorität haben, was so mit den Trainern der Bundesligisten abgesprochen war. Darüber hinaus hatten wir ein gemeinsames virtuelles Kochen mit dem gesamten Team hinter dem Team und einen Call mit allen Nationalspielerinnen, in dem es darum ging, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen. Viele haben die Zeit sinnvoll genutzt, neue Dinge erlernt, kreative Seiten entdeckt, sich intensiv mit ihrem Studium auseinandergesetzt. Besonders interessant war der Austausch mit den Spielerinnen, die im Ausland aktiv sind. Vor allem in England gab und gibt es sehr strenge Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus', sodass man die Wohnung etwa nur eine Stunde am Tag verlassen durfte. Für Menschen, die sich normalerweise sehr aktiv bewegen, ist das natürlich ein sehr großer Einschnitt.

Kuntz: Wir hatten bisher zwei Videokonferenzen mit der Mannschaft, um uns auszutauschen. Dabei hat jeder Spieler die Corona-Zeit aus seiner eigenen Sichtweise beschrieben. Dazu standen den Jungs unsere Experten, Ärzte, Ernährungsberater, Fitnesstrainer und Psychologen zur Verfügung, um auf individuelle Fragen einzugehen. Jetzt sprechen wir wieder mehr über die Fußballpraxis. Auch mit unserem Funktionsteam ist der Kontakt sehr intensiv. Außerdem haben wir eine "virtuelle Herzzeigen-Aktion" mit Spielern und einem Fanclub aus einem Seniorenheim in Wolfsburg per Videokonferenz durchgeführt. Wir versuchen denen zu helfen, die durch die Pandemie in Schwierigkeiten geraten sind.

DFB.de: Wenn Sie mit Ihrem Team wieder zusammenkommen, wird einige Zeit seit dem letzten Länderspiel zurückliegen. Sehen Sie das Risiko, dass Sie bei vielem wieder ganz von vorne anfangen müssen?

Löw: Nein, diese Sorge habe ich nicht. Ein Nationalspieler bringt so viel Qualität mit, dass er grundsätzlich schnell in der Lage ist, verschiedene Anforderungen binnen kürzester Zeit umzusetzen, egal, ob im Verein oder der Nationalmannschaft. Wofür es jedoch immer eine gewisse Zeit lang braucht, sind die Automatismen. Die greifen erst, wenn man eine längere Phase gemeinsam auf dem Platz steht, beispielsweise im Rahmen eines Trainingslagers im Vorfeld eines großen Turniers. Diese Möglichkeit haben wir diesmal nicht, das ist bedauerlich. Insofern ist diese lange Pause aus rein sportlicher Sicht nicht hilfreich, doch die Situation ist eben, wie sie ist. Und wir nehmen sie an, wir haben nie lamentiert. Es kann sein, dass wir gerade im taktischen Bereich etwas mehr machen müssen als sonst, doch auch das werden wir hinbekommen. Wenn es wieder losgeht, werden wir bereit sein. Und ganz ehrlich: Ich freue mich schon sehr darauf und kann es kaum erwarten, auf den Platz zurückzukehren.

Voss-Tecklenburg: Wir wissen, dass wir nach so einer langen Pause gewisse Dinge wieder hervorholen müssen. Wie wollen wir Fußball spielen? Was sind unsere Ideen? Ganz von vorne müssen wir aber sicherlich nicht anfangen, da wir mit den Spielerinnen immer die Kommunikation aufrechterhalten. Da der Spielbetrieb in den Ligen wieder läuft, schauen wir uns die Leistungen der Spielerinnen intensiv an. Wir konfrontieren sie immer wieder mit unseren Spielprinzipien. Deshalb mache ich mir da weniger Sorgen. Wir freuen uns aufeinander, das haben wir in den Video-Calls gemerkt. 

Kuntz: Wir werden unsere Besuche bei den Spielern vor den nächsten Länderspielen wieder intensivieren. Dabei werden wir vor allem unser letztes Spiel gegen Belgien noch einmal mit ihnen analysieren. Den Rest erledigen wir dann in den Tagen vor dem nächsten Spiel. Unsere Grundkonzepte, unsere Philosophie sind den Jungs bekannt und werden hoffentlich so schnell nicht vergessen (lacht).

DFB.de: In einer Krise können auch Chancen liegen. Sehen Sie welche mit Blick auf den Fußball?

Löw: Ich glaube, dass diese Krise uns alle, nicht nur, aber auch im Fußball, demütiger macht. Ich habe hierzu in einer Pressekonferenz ja mal ein paar Gedanken ausgesprochen. Ich weiß nicht, ob das ständige "Höher, Schneller, Weiter" so weitergehen kann und sollte. Natürlich wollen wir nicht unsere Motivation, unseren Ehrgeiz verlieren, beides gehört zum Leistungssport dazu. Aber ich würde mir wünschen, dass wir öfter mal innehalten, weiterhin rücksichtsvoll miteinander umgehen, unsere Werte wieder in den Mittelpunkt unseres Tuns stellen.

Voss-Tecklenburg: Das ist schwierig zu beantworten. Was den Profifußball angeht, glaube ich schon, dass sich Transferpolitik und -summen verändern. Die gesellschaftliche Stellung des Fußballs ist allen, vor allem aber denen, die ihn betreiben, bewusst geworden. Die Frage ist, wie lange und nachhaltig sind die aktuellen Erfahrungen? Was verändert sich wirklich? Oder ist in einem Jahr vielleicht wieder alles vergessen? Konsequenzen sehe ich vor allem im wirtschaftlichen Bereich, ich würde mir aber wünschen, dass dies auch den gesellschaftlichen Bereich betrifft.

Kuntz: Normalerweise befinden wir uns im Fußball in einer Blase. Aktuell relativiert sich vieles. So bekommen wir viele Reaktionen und Meinungen anderer Bürger mit, von der Hausfrau bis zum Fußball-Fan. Daraus sollten wir unsere Konsequenzen ziehen und einige Dinge überdenken, wenn wieder Normalität eingetreten ist.

DFB.de: Gibt es Dinge, die Sie in dieser Zeit gelernt haben?

Löw: Ja, nämlich wie kostbar die scheinbar normalen Dinge des Lebens sind: ausgehen, reisen, ins Kino gehen, sich mit Freunden treffen. Und Fußball spielen natürlich. Und wie wichtig es ist, Freunde und Familie zu haben, mit denen man in Kontakt bleiben kann. Es ist schön, zu sehen, wie kreativ man darin wird, diese Kontakte zu halten, wenn man nicht beieinander sein kann. Ich bin außerdem viel mit dem Mountainbike in der Natur unterwegs gewesen, fast jeden Tag, das hat mir gutgetan, um Kraft zu tanken und fit zu bleiben.

Voss-Tecklenburg: Ich habe gelernt, etwas gelassener zu sein. Acht Wochen zu Hause war ich, glaube ich, das letzte Mal mit 15 Jahren. Man kommt also automatisch etwas zur Ruhe. Außerdem habe ich das Kochen für mich entdeckt. Ich habe natürlich auch früher schon gekocht, dann aber mehr, um satt zu werden. Jetzt habe ich es als Genussmittel für mich entdeckt und mich an Sachen herangetraut, die ich mir früher nicht zugetraut habe.

Kuntz: Ich konnte besser hinter die Masken einzelner Menschen schauen und habe viel über unsere Mitmenschen und Führungskräfte in allen Bereichen gelernt.

[as/gt/ps]

Joachim Löw, Martina Voss-Tecklenburg und Stefan Kuntz hatten für die nahe Zukunft sehr konkrete Vorstellungen. Doch Corona wirbelte auch den internationalen Spielkalender durcheinander. EURO 2020 – auf 2021 verschoben. Olympia 2020 – auf 2021 verschoben. Frauen-EM 2021 – auf 2022 verschoben. U 21-EM 2021 – auf 2022 verschoben. Im DFB-Journal-Fragebogen geben die Coaches der Nationalmannschaft, der DFB-Frauen und der U 21 ausführlich Auskunft über ihre Zeit ohne Fußball. Und über ihre neuen Pläne für die Zeit danach.

DFB.de: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der Verschiebung Ihrer Turniere erfahren haben?

Joachim Löw: Es war die Entscheidung, die ich erwartet hatte, anders ging es einfach auch nicht. So wichtig der Fußball für viele Menschen auch ist: Was die EURO angeht, musste er einfach für diesen Sommer zurückstehen. Es steht außer Frage, dass wir gerne gespielt hätten, denn unsere junge Mannschaft braucht gerade solche Wettbewerbssituationen, um zu reifen, um widerstandsfähig zu werden, um wichtige Erfahrungen zu sammeln. Auch für die Fans in ganz Europa ist diese Verschiebung bedauerlich, denn Europa- und Weltmeisterschaften sind besondere Highlights, auf die man sich wahnsinnig freut. Aber unter diesen Umständen hätte es einfach keinen Sinn gehabt. Die Gesundheit steht über allem. Ich finde, dass der Fußball insgesamt auch mit dieser Entscheidung gezeigt hat, dass er sich seiner Verantwortung und Rolle in der Gesellschaft bewusst ist.

Martina Voss-Tecklenburg: Spontan ging mir durch den Kopf, dass sich damit meine Erwartungshaltung erfüllt hat. Es gab praktisch keine Alternative, das Turnier aufgrund der Corona-Krise und der damit einhergehenden Verschiebung der anderen Turniere selbst zu verschieben. Daher war ich nicht überrascht, sondern habe die Entscheidung, die ich absolut in Ordnung finde, so hingenommen.

Stefan Kuntz: Die Verschiebung der Turniere war nach den Nachrichten und Prozessen in den Tagen davor keine Überraschung mehr und die absolut richtige Entscheidung. Wir sind froh, dass es keine Absagen, sondern nur Verschiebungen gibt und dass der 1997er-Jahrgang weiterhin an den Olympischen Spielen teilnehmen darf.

DFB.de: Hat die Verschiebung der Turniere konkrete Auswirkungen auf Ihre Zielsetzungen? Kann das zusätzlich gewonnene Jahr vielleicht sogar von Vorteil sein?

Löw: Wir nehmen es, wie es kommt. Klar, Spieler wie Leroy Sané und Niklas Süle haben so genug Zeit, wieder in Top-Verfassung zu kommen. Aber wissen wir, was in einem Jahr ist? Wer dann fit ist und wer nicht, wer in Form ist und wer nicht? Das lässt sich immer schwer prognostizieren. Wir haben einen Umbruch eingeleitet, der sich auch aufgrund von Verletzungen nicht so einfach gestaltet hat. Dennoch haben wir eine gut funktionierende, hoch motivierte Mannschaft entwickelt, die schließlich auch ihre Qualifikationsgruppe gewonnen und sich die Teilnahme an der EURO verdient hat.

Voss-Tecklenburg: Wir sind in einem laufenden Prozess und bekommen durch das zusätzliche Jahr mehr Zeit. Daher kann es durchaus ein Vorteil sein. Allerdings gilt dieser Vorteil auch für andere Teams. An unserer Zielsetzung, bei der EM das Maximale aus uns herauszuholen, bestmöglich abzuschneiden und hoffentlich auch um den Titel mitzuspielen, hat sich nichts geändert.

Kuntz: Nein, das hat keinen Einfluss. Im Fußball, speziell bei den U-Teams, muss man flexibel sein, vor allem, weil wir die Kaderzusammensetzung nicht immer zu 100 Prozent beeinflussen können. Natürlich können Spieler in einem Jahr einen zusätzlichen Entwicklungsschub machen, das gilt aber auch für die Spieler anderer Länder. Wenn das im Einzelfall so ist, kann es sein, dass Spieler aus dem "geplanten" Olympiakader 2020 eventuell 2021 schon den Sprung in die A-Nationalmannschaft schaffen, was aber ein toller Erfolg für den Einzelnen ist. Für die U 21-EM warten wir noch auf den genauen Modus. 

DFB.de: Auf dem Platz konnten Sie in den vergangenen Wochen nicht arbeiten. Konzeptionell und analytisch schon. Wie sah das aus? Können Sie Einblicke geben?

Löw: Grundsätzlich machen wir uns immer Gedanken, an welchen Stellen wir unsere Arbeit weiter optimieren können. Nun beschäftigen wir uns mit Szenarien des Wiedereinstiegs für die Länderspiele, die hoffentlich im Herbst wieder stattfinden können. Aktuell genieße ich die Bundesliga-Spiele, die zwar ohne Zuschauer in den Stadien, aber auf einem wirklich hohen Niveau stattfinden. Die meisten Spiele, die ich bislang gesehen habe, sind von hoher Intensität geprägt. Die Spieler wirken fit und strotzen vor Spielfreude. Das macht Spaß.

Voss-Tecklenburg: Wir haben etwa unseren Leitfaden für die Nachwuchsförderung weiter ausgearbeitet, um insbesondere den Spielerinnen in den U-Mannschaften gute Konzepte an die Hand zu geben. Das reicht von konkreten Trainingsplänen über Unterstützung im mentalen Bereich durch unsere Sportpsychologinnen und -psychologen oder unserem Wertekodex bis hin zu Themen wie Nachhaltigkeit und Ernährung. Darüber hinaus gab es zahlreiche Talks mit Nationalspielerinnen oder Staff-Mitgliedern. Als Trainerteam haben wir unsere Idee davon, wie wir Fußball spielen wollen, weiter vorangetrieben, ausgehend von der A-Nationalmannschaft bis zur U 15. Insgesamt sind wir intensiv im Austausch und haben die Zeit sehr sinnvoll genutzt. Ein besonderes Highlight war die Trainertagung mit allen Trainerinnen und Trainern, auch aus dem Männer- und Jugendbereich.

Kuntz: Alle U-Trainerinnen und -Trainer sind bereits seit längerer Zeit mit unterschiedlichen Projekten betraut, die Erkenntnisse für alle Teams bringen sollen, über die wir uns in wöchentlichen Videokonferenzen austauschen. Ich arbeite unter anderem am individualisierten Stürmerprogramm. Ähnliches wird für das Mittelfeld und die Abwehr erarbeitet. Weitere Themen sind zum Beispiel das zukünftige Scouting, Potenzialerkennung oder die Ideenwerkstatt, in der über Benchmarks aus dem internationalen Fußball gesprochen wird.

DFB.de: Wie intensiv war der Kontakt mit der Mannschaft und innerhalb des Trainerteams? Worüber wurde dabei besonders intensiv gesprochen?

Löw: Wir stehen regelmäßig mit unseren Spielern in Kontakt, nicht nur über uns Trainer, sondern auch über Oliver Bierhoff und das Teammanagement. Es hat mir sehr imponiert, mit welcher Überzeugung die Mannschaft von sich aus 2,5 Millionen Euro gespendet hat, das war ein starkes Signal. Innerhalb der Sportlichen Leitung sprechen wir mehrmals in der Woche miteinander, das ist auch unabhängig von Corona so. Wir tauschen uns aus über Spieler, über mögliche Trainingsinhalte und ähnliches. Natürlich sprechen wir aber auch über persönliche Dinge, gerade in dieser Zeit wäre es doch ungewöhnlich, dies auszuklammern. Darüber hinaus habe ich auch mit einigen Trainerkollegen aus dem In- und Ausland telefoniert. Die Welt schaut voller Anerkennung auf Deutschland und darauf, wie wir den Wiedereinstieg in den Ligabetrieb bewältigen. Und ich hoffe natürlich, dass auch unsere Nationalspieler im Ausland in ihren Vereinen bald wieder spielen können.

Voss-Tecklenburg: Wir haben per Telefon oder E-Mail regelmäßigen Kontakt gehalten. Vieles lief über Abfragen, etwa zu den Trainingsplänen, die wir den Spielerinnen ergänzend zur Verfügung gestellt hatten – stets verbunden mit der Aussage, dass die Trainingspläne der Vereine Priorität haben, was so mit den Trainern der Bundesligisten abgesprochen war. Darüber hinaus hatten wir ein gemeinsames virtuelles Kochen mit dem gesamten Team hinter dem Team und einen Call mit allen Nationalspielerinnen, in dem es darum ging, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen. Viele haben die Zeit sinnvoll genutzt, neue Dinge erlernt, kreative Seiten entdeckt, sich intensiv mit ihrem Studium auseinandergesetzt. Besonders interessant war der Austausch mit den Spielerinnen, die im Ausland aktiv sind. Vor allem in England gab und gibt es sehr strenge Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus', sodass man die Wohnung etwa nur eine Stunde am Tag verlassen durfte. Für Menschen, die sich normalerweise sehr aktiv bewegen, ist das natürlich ein sehr großer Einschnitt.

Kuntz: Wir hatten bisher zwei Videokonferenzen mit der Mannschaft, um uns auszutauschen. Dabei hat jeder Spieler die Corona-Zeit aus seiner eigenen Sichtweise beschrieben. Dazu standen den Jungs unsere Experten, Ärzte, Ernährungsberater, Fitnesstrainer und Psychologen zur Verfügung, um auf individuelle Fragen einzugehen. Jetzt sprechen wir wieder mehr über die Fußballpraxis. Auch mit unserem Funktionsteam ist der Kontakt sehr intensiv. Außerdem haben wir eine "virtuelle Herzzeigen-Aktion" mit Spielern und einem Fanclub aus einem Seniorenheim in Wolfsburg per Videokonferenz durchgeführt. Wir versuchen denen zu helfen, die durch die Pandemie in Schwierigkeiten geraten sind.

DFB.de: Wenn Sie mit Ihrem Team wieder zusammenkommen, wird einige Zeit seit dem letzten Länderspiel zurückliegen. Sehen Sie das Risiko, dass Sie bei vielem wieder ganz von vorne anfangen müssen?

Löw: Nein, diese Sorge habe ich nicht. Ein Nationalspieler bringt so viel Qualität mit, dass er grundsätzlich schnell in der Lage ist, verschiedene Anforderungen binnen kürzester Zeit umzusetzen, egal, ob im Verein oder der Nationalmannschaft. Wofür es jedoch immer eine gewisse Zeit lang braucht, sind die Automatismen. Die greifen erst, wenn man eine längere Phase gemeinsam auf dem Platz steht, beispielsweise im Rahmen eines Trainingslagers im Vorfeld eines großen Turniers. Diese Möglichkeit haben wir diesmal nicht, das ist bedauerlich. Insofern ist diese lange Pause aus rein sportlicher Sicht nicht hilfreich, doch die Situation ist eben, wie sie ist. Und wir nehmen sie an, wir haben nie lamentiert. Es kann sein, dass wir gerade im taktischen Bereich etwas mehr machen müssen als sonst, doch auch das werden wir hinbekommen. Wenn es wieder losgeht, werden wir bereit sein. Und ganz ehrlich: Ich freue mich schon sehr darauf und kann es kaum erwarten, auf den Platz zurückzukehren.

Voss-Tecklenburg: Wir wissen, dass wir nach so einer langen Pause gewisse Dinge wieder hervorholen müssen. Wie wollen wir Fußball spielen? Was sind unsere Ideen? Ganz von vorne müssen wir aber sicherlich nicht anfangen, da wir mit den Spielerinnen immer die Kommunikation aufrechterhalten. Da der Spielbetrieb in den Ligen wieder läuft, schauen wir uns die Leistungen der Spielerinnen intensiv an. Wir konfrontieren sie immer wieder mit unseren Spielprinzipien. Deshalb mache ich mir da weniger Sorgen. Wir freuen uns aufeinander, das haben wir in den Video-Calls gemerkt. 

Kuntz: Wir werden unsere Besuche bei den Spielern vor den nächsten Länderspielen wieder intensivieren. Dabei werden wir vor allem unser letztes Spiel gegen Belgien noch einmal mit ihnen analysieren. Den Rest erledigen wir dann in den Tagen vor dem nächsten Spiel. Unsere Grundkonzepte, unsere Philosophie sind den Jungs bekannt und werden hoffentlich so schnell nicht vergessen (lacht).

DFB.de: In einer Krise können auch Chancen liegen. Sehen Sie welche mit Blick auf den Fußball?

Löw: Ich glaube, dass diese Krise uns alle, nicht nur, aber auch im Fußball, demütiger macht. Ich habe hierzu in einer Pressekonferenz ja mal ein paar Gedanken ausgesprochen. Ich weiß nicht, ob das ständige "Höher, Schneller, Weiter" so weitergehen kann und sollte. Natürlich wollen wir nicht unsere Motivation, unseren Ehrgeiz verlieren, beides gehört zum Leistungssport dazu. Aber ich würde mir wünschen, dass wir öfter mal innehalten, weiterhin rücksichtsvoll miteinander umgehen, unsere Werte wieder in den Mittelpunkt unseres Tuns stellen.

Voss-Tecklenburg: Das ist schwierig zu beantworten. Was den Profifußball angeht, glaube ich schon, dass sich Transferpolitik und -summen verändern. Die gesellschaftliche Stellung des Fußballs ist allen, vor allem aber denen, die ihn betreiben, bewusst geworden. Die Frage ist, wie lange und nachhaltig sind die aktuellen Erfahrungen? Was verändert sich wirklich? Oder ist in einem Jahr vielleicht wieder alles vergessen? Konsequenzen sehe ich vor allem im wirtschaftlichen Bereich, ich würde mir aber wünschen, dass dies auch den gesellschaftlichen Bereich betrifft.

Kuntz: Normalerweise befinden wir uns im Fußball in einer Blase. Aktuell relativiert sich vieles. So bekommen wir viele Reaktionen und Meinungen anderer Bürger mit, von der Hausfrau bis zum Fußball-Fan. Daraus sollten wir unsere Konsequenzen ziehen und einige Dinge überdenken, wenn wieder Normalität eingetreten ist.

DFB.de: Gibt es Dinge, die Sie in dieser Zeit gelernt haben?

Löw: Ja, nämlich wie kostbar die scheinbar normalen Dinge des Lebens sind: ausgehen, reisen, ins Kino gehen, sich mit Freunden treffen. Und Fußball spielen natürlich. Und wie wichtig es ist, Freunde und Familie zu haben, mit denen man in Kontakt bleiben kann. Es ist schön, zu sehen, wie kreativ man darin wird, diese Kontakte zu halten, wenn man nicht beieinander sein kann. Ich bin außerdem viel mit dem Mountainbike in der Natur unterwegs gewesen, fast jeden Tag, das hat mir gutgetan, um Kraft zu tanken und fit zu bleiben.

Voss-Tecklenburg: Ich habe gelernt, etwas gelassener zu sein. Acht Wochen zu Hause war ich, glaube ich, das letzte Mal mit 15 Jahren. Man kommt also automatisch etwas zur Ruhe. Außerdem habe ich das Kochen für mich entdeckt. Ich habe natürlich auch früher schon gekocht, dann aber mehr, um satt zu werden. Jetzt habe ich es als Genussmittel für mich entdeckt und mich an Sachen herangetraut, die ich mir früher nicht zugetraut habe.

Kuntz: Ich konnte besser hinter die Masken einzelner Menschen schauen und habe viel über unsere Mitmenschen und Führungskräfte in allen Bereichen gelernt.

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