Mit Schiff und Revolver zur ersten WM

Als die FIFA 1928 auf ihrem Kongress in Amsterdam die Ausspielung einer Fußball-WM im Vier-Jahres-Rhythmus beschloss, ahnte noch niemand, unter welchen Wehen sich die Geburt abspielen würde. Doch die erste Fußball-WM 1930 in Uruguay war in vielerlei Hinsicht eine ganz Besondere.

Es begann mit der Vergabe des Austragungsortes, der 1929 im Ausschlussverfahren an Olympiasieger Uruguay ging – alle anderen Kandidaten hatten zurückgezogen, als bekannt wurde, dass der Ausrichter alle Kosten selbst tragen müsse. Und Geld fehlte Ende der Zwanziger Jahre auf der ganzen Welt nach dem Börsenzusammenbruch an der Wall Street. Der schwarze Freitag im Oktober 1929 schien auch für den Fußball ein dunkler Tag zu werden und das Abenteuer WM schon vor dem Start Geschichte, denn es mangelte an Akzeptanz.

Teilnehmen durfte, wer wollte

Eine Qualifikation gab es nicht, teilnehmen durfte, wer wollte. Erst nach der Zahl der Freiwilligen würde sich der Modus richten, entsprechende Pläne lagen vor bei der FIFA – auch einer für 32 Mannschaften. Als am 1. Januar 1930 die eigentliche Anmeldefrist für das Turnier ablief, hatten von 41 Mitgliedsstaaten allerdings nur neun gemeldet. Gerade in Europa stieß das Turnier auf Ablehnung. Faktoren wie die weite Anreise und die Zulassung von Profis störten die Fußballmächte England oder Österreich. Auch der DFB blieb fern, weil er eisern für den Amateurgedanken eintrat.

So ging FIFA-Präsident Jules Rimet noch vier Monate vor der WM auf Tingeltour, um weitere Länder zu bewegen und Veranstalter Uruguay bot Italien und Spanien sogar Geld. Vergebens, zwei Monate vor Turnierstart war noch kein Europäer gemeldet, die WM stand vor der Absage. Nun drohten die Süd- und Mittelamerikaner, die gemeldet hatten, mit dem Austritt aus der FIFA. Schließlich fanden sich doch noch vier Teams ein: Frankreich, Belgien, Rumänien und Jugoslawien sorgten für eine eher Unglück verheißende Zahl von 13 Teilnehmern.

Europäer reisten per Schiff an

Aber sie kamen – mit dem Schiff, denn noch war Amerika nicht mit dem Flugzeug zu erreichen. Zum Glück war die Conte Verde seetüchtig, auf ihr reisten die Europäer mit Ausnahme Jugoslawiens gemeinsam an, Brasilien stieg später zu. 14 Tage waren die Europäer unterwegs auf ihrem WM-Schiff, die Jugoslawen sogar 21 – davon drei im Zug, 3. Klasse. Geschlafen wurde auf Holzbänken.

Auf dem Schiff wurde zum Gaudium der anderen Passagiere auf dem Deck trainiert; meist Gymnastik oder Bockspringen, von über Bord gegangenen Bällen ist jedenfalls nicht berichtet worden. Übertrieben haben sie es aber offenbar nicht mit dem Training, Jugoslawiens Torwart Jakcic nahm während der Atlantik-Überquerung 16 Kilo zu. Was eben passieren kann, wenn man ohne Trainer anreist. Den konnten sich die Jugoslawen damals nicht leisten. Trainer waren in jenen Tagen nicht so wichtig, in Rumänien nominierte der König persönlich den Kader. Andere Zeiten.

Begeisterter Empfang in Montevideo

In Uruguay war die Begeisterung trotz der Widrigkeiten riesig. Als die Conte Verde am 5. Juli 1930 in Montevideo einlief, war der Hafen schwarz vor Menschen. „Als das Schiff am Kai festlag, empfing uns eine vieltausendköpfige Menschenmenge, deren herzliches Willkommen nur übertroffen wurde von der Geschäftigkeit der Photographen, die uns noch an Bord überfielen und in allen möglichen Posen verewigten“, schrieb der belgische Schiedsrichter Jan Langenus, den das Fachblatt kicker kurzerhand als Korrespondenten eingekauft hatte. Es begann mit großen Gesten: Die Europäer legten Blumen am Grab des Staatsgründers Artigas nieder und wurden anschließend vom Präsident Uruguays empfangen wie hohe Staatsgäste.

Für besseres Wetter konnte auch der Präsident nicht sorgen. Die WM fiel in das Winterhalbjahr, das wusste man vorher, aber mit Minusgraden hatten auch die Einheimischen nicht gerechnet. Und durch den wochenlangen Dauerregen war das Stadion, in dem die WM eigentlich exklusiv stattfinden sollte, nicht rechtzeitig fertig geworden. Was zu der Groteske führte, dass die WM erst fünf Tage nach den Auftaktspielen feierlich mit dem Einmarsch der Mannschaften, von denen einige schon ausgeschieden waren, eröffnet wurde – denn am 18. Juli 1930 war das Centenario-Stadion endlich spielbereit.

Franzose Laurent erzielt das erste WM-Tor

Ein erstes WM-Spiel gab es übrigens nicht, am 13. Juli traten Mexiko gegen Frankreich und Belgien gegen die USA bei Schneefall zeitgleich an – in Ausweichstadien Montevideos. Der Franzose Lucien Laurent erzielte das erste WM-Tor aller Zeiten und ebnete den Weg zum 4:1 über Mexiko. Die USA hatte mit Belgien ebenfalls wenig Mühe (3:0). Die ersten Spiele der WM-Historie sahen zusammen nur 11.0000 Zuschauer. Mit dem Eintritt Uruguays ins Turnier brach das WM-Fieber endlich aus, beim 1:0 gegen Peru waren 70.000 Menschen im neuen Stadion.

Wie der kommende Weltmeister spielten die Gastgeber noch nicht, mehr Eindruck machte in der Vorrunde Argentinien, das seine Gruppe dominierte. Gegen Mexiko gab es ein furioses 6:3. Beim 1:0 gegen Frankreich allerdings gab es den ersten WM-Skandal, verursacht durch den brasilianischen Schiedsrichter Rego. Der pfiff die Partie sechs Minuten zu früh ab, gerade als ein Franzose allein aufs Tor stürmte. Auf Intervention der Franzosen holte Rego die fehlenden Minuten noch nach und die Spieler wieder aus der Kabine. Am Halbfinaleinzug Argentiniens änderte das nichts, auch wenn die Mannschaft beinahe abgereist wäre. Grund war das feindselige Verhalten der Fans von Uruguay, die sich auf die Seite der Franzosen geschlagen hatten. In Buenos Aires flogen Steine in die Botschaft von Uruguay.

Uruguay siegt im Finale

Im Halbfinale, das nach der Gruppenphase folgte, stand mit Jugoslawien nur noch ein Europäer – und der war auf verlorenem Posten gegen die Uruguayer. Obwohl die Gäste sogar in Führung gingen, kamen sie noch mit 1:6 unter die Räder. Auch hier ging aber nicht alles mit rechten Dingen zu. Von klaren Abseitstoren ist die Rede in den zeitgenössischen Berichten und von einem Polizisten, der eine Flanke schlug, die zum dritten Tor geführt haben sollte. Laut John Langenus war es zwar ein Fotograf, aber das macht es nicht besser. „Ehe nämlich Anselmo in den Besitz des Balles kam, hatte dieser die Auslinie bereits überschritten und einer der herumstehenden Bildkünstler soll ihn wieder ins Feld zurückgeschlagen haben.“ Die Jugoslawen wollten das Spiel abbrechen vor Wut, mit Mühe konnte ein Eklat verhindert werden.

Den fürchtete Schiedsrichter Langenus auch beim erwarteten Finale zwischen Uruguay und Argentinien, das die USA gleichsam mit 6:1 eliminiert hatte. Langenus erklärte sich nur zur Spielleitung bereit, wenn der Veranstalter Leibwächter hinter beiden Toren postieren und das Publikum auf Waffen untersucht werden würde. Die Uruguayer pflegten Tore gern mit Pistolenschüssen zu feiern. Tatsächlich wurden am Vormittag des 30. Juli 1930 an den Stadiontoren rund 1600 Revolver eingesammelt. Aus Sicherheitsgründen ließ die FIFA nur 70.000 Zuschauer ins Stadion, das 99.000 fasste. Argentiniens Fans saßen derweil auf Schiffen auf dem Rio de la Plata fest und durften wegen des dichten Nebels nicht anlegen. Sie hätten ohnehin nur eine Enttäuschung erlebt, denn erster Weltmeister durch ein verdientes 4:2 wurde Uruguay um seinen großen Star Leandro Andrade, der nebenher als Variete-Tänzer arbeitete.

"Jeder, der nicht dabei war, hat einen Fehler gemacht"

Das Ergebnis überraschte übrigens die Experten der Berliner Fußball-Woche. Die war aus drucktechnischen Gründen in der Verlegenheit, nach dem Finale ohne einen aktuellen Bericht erscheinen zu müssen. So schrieb sie in ihrer letzten Juli-Ausgabe 1930: „Man kann mit einiger Bestimmtheit voraussagen, dass es vor annähernd 100.000 vor Spannung und Anteilnahme zerspringenden Zuschauern einen der üblichen, völlig ausgeglichenen Kämpfe zwischen Uruguay und Argentinien gegeben hat, der entweder 1:0 oder 2:1 für die eine Partei oder gar unentschieden ausgegangen ist.“ Knapp daneben. Es war das letzte Mal, dass die deutsche Presse nicht bei einer Fußball-WM zugegen war, fortan konnte man sich Abwesenheit nicht mehr leisten. So sagte der jugoslawische Verbandssekretär Dr. Mihailo Andrejevic noch Jahrzehnte später: „Wir Europäer waren uns einig. Jeder, der nicht dabei war, hat einen Fehler gemacht.“

Auch die FIFA war zufrieden, trotz Zuschauerkulissen von 300 wie bei Rumänien-Peru hatten die Einnahmen die Ausgaben um 55.000 Pesos überstiegen. Der Siegeszug einer weltumspannenden Idee hatte begonnen.