Vor 50 Jahren: Der Triumph von Brüssel

Vor 50 Jahren holte Deutschland seinen ersten von bisher drei Europameistertiteln. Der Triumph von Brüssel begeisterte die Fachwelt, denn er war von einer spielerischen Brillanz geprägt wie man sie von den Deutschen bis dahin nicht kannte. Ein Rückblick auf die Tage, als die DFB-Elf Traumfußball spielte.

1972 hatte Deutschland nach allgemeiner Ansicht die bislang beste Mannschaft. Das bahnte sich zwar schon länger an, aber Garantien gab und gibt es natürlich keine im Fußball. Bei der WM 1970 in Mexiko hatte die Mannschaft von Bundestrainer Helmut Schön den dritten Platz erreicht und die Fachwelt wie schon 1966 in England (2. Platz) begeistert. Spiele wie das 3:2 gegen England und das 3:4 gegen Italien sind in die Klassikersammlung der DFB-Historie und des Weltfußballs eingezogen und in der Heimat wurden die Spieler am Frankfurter Römer wie Weltmeister begrüßt. Dann kam der Alltag wieder und in der EM-Qualifikation hatte die Generation Beckenbauer/Netzer mehr Mühe als erwartet. Im Herbst 1970 gab es in Köln nur ein 1:1 gegen die Türken und viele Pfiffe und nur ein Tor von Gerd Müller verhinderte im Februar 1971 eine weitere Blamage in Albanien, wo 1967 (0:0) schon einmal ein EM-Traum vorzeitig geplatzt war.

Aufschwung im Frühling 1971

Der Aufschwung setzte erst im Frühling 1971 ein, als Franz Beckenbauer vom Mittelfeldspieler zum Libero umfunktioniert wurde, der er im Verein längst war, und als immer mehr Talente des Deutschen Meisters Borussia Mönchengladbach und dessen Rivalen FC Bayern in die Nationalelf drängten. Beim Türkei-Rückspiel am 25. April 1971 in Istanbul (3:0) war das erste Mal seit Bern 1954, als fünf Kaiserslauterer Weltmeister wurden, wieder von Blockbildung die Rede. Wobei es nun sogar zwei Blöcke waren (fünf Gladbacher und drei Bayern).

Auf der Skandinavien-Reise im Juni 1971 kamen zwei junge Münchner hinzu, die noch zusammen in einer WG wohnten: der Verteidiger Paul Breitner und der dynamische Stürmer Uli Hoeneß. Schön hatte neue Alternativen und nutzte die Chance zur Verjüngung. Für Breitner opferte er den alternden Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger, der es sportlich nahm: "Der Breitner ist ja schon abgebrüht wie ein Alter! Was der rennt, ist schon toll."

Overath fällt aus, Netzer blüht auf

Neue Alternativen - und eine alte Frage löste sich von selbst. Schön plagte in der Kreativzentrale ein Luxusproblem: Overath oder Netzer? Es beschäftigte den "Mann mit der Mütze" über seine halbe Amtszeit und spaltete die Expertenwelt. Schön experimentierte und stellte Günter Netzer in Karlsruhe gegen Albanien in den Sturm, aber es war ein Fehlschlag wie das ganze Spiel (2:0). Beide konnten nur Spielmacher sein und miteinander ging es bei aller Sympathie nicht. Der Zufall nahm Schön damals die Entscheidung ab, Wolfgang Overath fiel wegen einer Leisten-Operation Anfang 1972 monatelang aus.

Der Kölner verpasste die legendären Viertelfinals gegen England, vor allem den mythischen ersten Sieg in Wembley (3:1). Dieser galt und gilt für viele Experten als bestes deutsches Länderspiel, auch in der Karriere von Netzer. Die Spielkunst, die die DFB-Elf an jenem 29. April 1972 entfaltete, hob sie über Nacht auf den Favoritenschild. Die L'Equipe schwärmte vom "Fußball 2000" und eine mexikanische Zeitung stellte neiderfüllt die Frage: "Wo nimmt der Bundestrainer nur immer wieder solche Spieler her?"

"Diese Elf kann alle schlagen"

Sie liefen im Frühjahr 1972 zur Hochform auf. Zur Einweihung des Münchner Olympia-Stadions wurde am 26. Mai die UdSSR 4:1 demontiert, Gerd Müller schoss alle Tore und der Kicker titelte euphorisch: "Diese Elf kann alle schlagen!" Der Trainer des Halbfinalgegners Belgien, Raymond Goethals, saß auf der Tribüne und sagte beeindruckt und gleichsam prophetisch: "Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance." In der Tat.

Schön konnte es sich leisten, einen Overath auf Abruf zuhause und den angeschlagenen Berti Vogts auf der Bank zu lassen. Auch so fuhr seine Elf, aus zwei Blöcken (sechs Bayern, drei Borussen) bestehend, als klarer Favorit zu ihrer ersten EM-Endrunde nach Belgien und gewann den Titel vor 50 Jahren absolut souverän. In Halbfinale und Finale spielte dieselbe Elf. Spielmacher Günter Netzer sagte über Schöns Strategie: "Das hat er schlau gemacht. Es war eine Blockbildung aus den beiden besten Teams, zwischen denen es keine Gräben oder Dissonanzen gab, nur eine gesunde Rivalität."

Und so profitierte Bayern-Stürmer Gerd Müller beim 2:1 gegen die Gastgeber im Halbfinale von Antwerpen von den Vorlagen des Gladbacher Spielmachers Netzer.

"Macht doch, was ihr wollt"

Am Tag vor dem Finale veranstaltete der Kader im Hotel sogar noch ein Tischtennisturnier. Zeichen von Harmonie und innerer Gelassenheit, die sogar den sonst so nervösen Schön befiel, als er seine Abschlussbesprechung an der Taktiktafel jäh mit den Worten beendete: "Ach, macht doch, was ihr wollt." So hat es Netzer erzählt. Erwin Kremers, der blockfreie Linksaußen aus Schalke, wusste zu ergänzen: "Zum Schluss sagte er die legendären Worte: 'Wir sind doch auch wer, oder?'"

Irgendwie spürten alle: es kann nichts schief gehen. Torwart Sepp Maier erinnerte sich: "Helmut Schön hatte zwar, wie immer, Angst vor dem Spiel, doch wir kannten keine Furcht mehr, vor nichts und niemandem."

Das Finale gegen die Sowjetunion war eines der einseitigsten der Geschichte internationaler Turniere und glich dem Einweihungsspiel von München, mit dem Unterschied dass es noch früher entschieden war. Am Ende stand ein 3:0 (1:0) auf der Anzeigetafel. Gerd Müller schoss wieder zwei Tore an jenem 18. Juni, dazwischen war dem Gladbacher Herbert "Hacki" Wimmer nach einer Ballstafette seiner Klubkameraden Netzer und Jupp Heynckes das 2:0 vergönnt.

"Stolz wie Oskar"

Der Rest war Jubel. Tausende Deutscher Fans fluteten den Platz, den sie in den letzten Minuten voller Ungeduld schon umrandeten, die Verhältnisse waren im Grunde irregulär und die Spieler brachten sich nach Abpfiff im Vollsprint in Sicherheit.

Die Freude trübte das kaum. Maier: "Wir waren stolz wie Oskar und feierten nach dem Sieg ausgelassen wie nie zuvor: Auf der Fahrt zum Flughafen haben wir im Bus gesungen und gelacht wie kleine Kinder. So feiert man nur unerwartete oder besonders schöne Siege und Titel."

Allzu lange ging die Sause aber nicht, schließlich war die Bundesligasaison noch nicht beendet, die kurze EM war zwischen den 32. und 33. Spieltag eingebettet worden. Ein Bankett gab es nur für die Offiziellen, Günter Netzer war deshalb am Finalabend schon wieder in seiner Disco "Lovers Lane" in Mönchengladbach. Andere Zeiten, schöne Zeiten. Sie endeten schneller als erhofft, schon der WM-Triumph 1974 im eigenen Land wurde wieder mehr erarbeitet als erspielt. Helmut Schön schrieb in seinen Memoiren: "Man kann Traummannschaften nicht einwecken." Nein, aber bei passender Gelegenheit wieder aufleben lassen.

Die Sieger-Elf: Maier – Höttges, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner – Hoeneß, Netzer, Wimmer – Heynckes, Müller, E. Kremers.

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Vor 50 Jahren holte Deutschland seinen ersten von bisher drei Europameistertiteln. Der Triumph von Brüssel begeisterte die Fachwelt, denn er war von einer spielerischen Brillanz geprägt wie man sie von den Deutschen bis dahin nicht kannte. Ein Rückblick auf die Tage, als die DFB-Elf Traumfußball spielte.

1972 hatte Deutschland nach allgemeiner Ansicht die bislang beste Mannschaft. Das bahnte sich zwar schon länger an, aber Garantien gab und gibt es natürlich keine im Fußball. Bei der WM 1970 in Mexiko hatte die Mannschaft von Bundestrainer Helmut Schön den dritten Platz erreicht und die Fachwelt wie schon 1966 in England (2. Platz) begeistert. Spiele wie das 3:2 gegen England und das 3:4 gegen Italien sind in die Klassikersammlung der DFB-Historie und des Weltfußballs eingezogen und in der Heimat wurden die Spieler am Frankfurter Römer wie Weltmeister begrüßt. Dann kam der Alltag wieder und in der EM-Qualifikation hatte die Generation Beckenbauer/Netzer mehr Mühe als erwartet. Im Herbst 1970 gab es in Köln nur ein 1:1 gegen die Türken und viele Pfiffe und nur ein Tor von Gerd Müller verhinderte im Februar 1971 eine weitere Blamage in Albanien, wo 1967 (0:0) schon einmal ein EM-Traum vorzeitig geplatzt war.

Aufschwung im Frühling 1971

Der Aufschwung setzte erst im Frühling 1971 ein, als Franz Beckenbauer vom Mittelfeldspieler zum Libero umfunktioniert wurde, der er im Verein längst war, und als immer mehr Talente des Deutschen Meisters Borussia Mönchengladbach und dessen Rivalen FC Bayern in die Nationalelf drängten. Beim Türkei-Rückspiel am 25. April 1971 in Istanbul (3:0) war das erste Mal seit Bern 1954, als fünf Kaiserslauterer Weltmeister wurden, wieder von Blockbildung die Rede. Wobei es nun sogar zwei Blöcke waren (fünf Gladbacher und drei Bayern).

Auf der Skandinavien-Reise im Juni 1971 kamen zwei junge Münchner hinzu, die noch zusammen in einer WG wohnten: der Verteidiger Paul Breitner und der dynamische Stürmer Uli Hoeneß. Schön hatte neue Alternativen und nutzte die Chance zur Verjüngung. Für Breitner opferte er den alternden Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger, der es sportlich nahm: "Der Breitner ist ja schon abgebrüht wie ein Alter! Was der rennt, ist schon toll."

Overath fällt aus, Netzer blüht auf

Neue Alternativen - und eine alte Frage löste sich von selbst. Schön plagte in der Kreativzentrale ein Luxusproblem: Overath oder Netzer? Es beschäftigte den "Mann mit der Mütze" über seine halbe Amtszeit und spaltete die Expertenwelt. Schön experimentierte und stellte Günter Netzer in Karlsruhe gegen Albanien in den Sturm, aber es war ein Fehlschlag wie das ganze Spiel (2:0). Beide konnten nur Spielmacher sein und miteinander ging es bei aller Sympathie nicht. Der Zufall nahm Schön damals die Entscheidung ab, Wolfgang Overath fiel wegen einer Leisten-Operation Anfang 1972 monatelang aus.

Der Kölner verpasste die legendären Viertelfinals gegen England, vor allem den mythischen ersten Sieg in Wembley (3:1). Dieser galt und gilt für viele Experten als bestes deutsches Länderspiel, auch in der Karriere von Netzer. Die Spielkunst, die die DFB-Elf an jenem 29. April 1972 entfaltete, hob sie über Nacht auf den Favoritenschild. Die L'Equipe schwärmte vom "Fußball 2000" und eine mexikanische Zeitung stellte neiderfüllt die Frage: "Wo nimmt der Bundestrainer nur immer wieder solche Spieler her?"

"Diese Elf kann alle schlagen"

Sie liefen im Frühjahr 1972 zur Hochform auf. Zur Einweihung des Münchner Olympia-Stadions wurde am 26. Mai die UdSSR 4:1 demontiert, Gerd Müller schoss alle Tore und der Kicker titelte euphorisch: "Diese Elf kann alle schlagen!" Der Trainer des Halbfinalgegners Belgien, Raymond Goethals, saß auf der Tribüne und sagte beeindruckt und gleichsam prophetisch: "Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance." In der Tat.

Schön konnte es sich leisten, einen Overath auf Abruf zuhause und den angeschlagenen Berti Vogts auf der Bank zu lassen. Auch so fuhr seine Elf, aus zwei Blöcken (sechs Bayern, drei Borussen) bestehend, als klarer Favorit zu ihrer ersten EM-Endrunde nach Belgien und gewann den Titel vor 50 Jahren absolut souverän. In Halbfinale und Finale spielte dieselbe Elf. Spielmacher Günter Netzer sagte über Schöns Strategie: "Das hat er schlau gemacht. Es war eine Blockbildung aus den beiden besten Teams, zwischen denen es keine Gräben oder Dissonanzen gab, nur eine gesunde Rivalität."

Und so profitierte Bayern-Stürmer Gerd Müller beim 2:1 gegen die Gastgeber im Halbfinale von Antwerpen von den Vorlagen des Gladbacher Spielmachers Netzer.

"Macht doch, was ihr wollt"

Am Tag vor dem Finale veranstaltete der Kader im Hotel sogar noch ein Tischtennisturnier. Zeichen von Harmonie und innerer Gelassenheit, die sogar den sonst so nervösen Schön befiel, als er seine Abschlussbesprechung an der Taktiktafel jäh mit den Worten beendete: "Ach, macht doch, was ihr wollt." So hat es Netzer erzählt. Erwin Kremers, der blockfreie Linksaußen aus Schalke, wusste zu ergänzen: "Zum Schluss sagte er die legendären Worte: 'Wir sind doch auch wer, oder?'"

Irgendwie spürten alle: es kann nichts schief gehen. Torwart Sepp Maier erinnerte sich: "Helmut Schön hatte zwar, wie immer, Angst vor dem Spiel, doch wir kannten keine Furcht mehr, vor nichts und niemandem."

Das Finale gegen die Sowjetunion war eines der einseitigsten der Geschichte internationaler Turniere und glich dem Einweihungsspiel von München, mit dem Unterschied dass es noch früher entschieden war. Am Ende stand ein 3:0 (1:0) auf der Anzeigetafel. Gerd Müller schoss wieder zwei Tore an jenem 18. Juni, dazwischen war dem Gladbacher Herbert "Hacki" Wimmer nach einer Ballstafette seiner Klubkameraden Netzer und Jupp Heynckes das 2:0 vergönnt.

"Stolz wie Oskar"

Der Rest war Jubel. Tausende Deutscher Fans fluteten den Platz, den sie in den letzten Minuten voller Ungeduld schon umrandeten, die Verhältnisse waren im Grunde irregulär und die Spieler brachten sich nach Abpfiff im Vollsprint in Sicherheit.

Die Freude trübte das kaum. Maier: "Wir waren stolz wie Oskar und feierten nach dem Sieg ausgelassen wie nie zuvor: Auf der Fahrt zum Flughafen haben wir im Bus gesungen und gelacht wie kleine Kinder. So feiert man nur unerwartete oder besonders schöne Siege und Titel."

Allzu lange ging die Sause aber nicht, schließlich war die Bundesligasaison noch nicht beendet, die kurze EM war zwischen den 32. und 33. Spieltag eingebettet worden. Ein Bankett gab es nur für die Offiziellen, Günter Netzer war deshalb am Finalabend schon wieder in seiner Disco "Lovers Lane" in Mönchengladbach. Andere Zeiten, schöne Zeiten. Sie endeten schneller als erhofft, schon der WM-Triumph 1974 im eigenen Land wurde wieder mehr erarbeitet als erspielt. Helmut Schön schrieb in seinen Memoiren: "Man kann Traummannschaften nicht einwecken." Nein, aber bei passender Gelegenheit wieder aufleben lassen.

Die Sieger-Elf: Maier – Höttges, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner – Hoeneß, Netzer, Wimmer – Heynckes, Müller, E. Kremers.

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