Viertelfinale gegen Jugoslawien: Der große Tag des Toni Turek

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

27. Juni in Genf - Viertelfinale Deutschland - Jugoslawien 2:0

Vor dem Spiel:

Das Reglement sah vor, dass ein Gruppensieger gegen einen Gruppenzweiten spielen musste. Der Zweite der deutschen Gruppe 2 traf also auf den Sieger der Gruppe 1, das waren die ebenfalls ungesetzten Jugoslawen, die Frankreich ausgeschaltet und Brasilien ein 1:1 abgetrotzt hatten. Allerdings wurden sie es erst nach einem Losentscheid, denn sie waren punktgleich mit Brasilien eingelaufen, die weit schlechtere Tordifferenz spielte keine Rolle. Trotzdem posaunte Tschik Cajkovski, mit dem der FC Bayern München später in die Bundesliga aufsteigen sollte: "Wir werden Weltmeister und nehmen im Viertelfinale Revanche an Deutschland für die 2:3-Niederlage von Ludwigshafen." Ende 1952 hatten sich die Länderteams erstmals gegenüberstanden, Jugoslawien war ein neuer Staat, den die Neuordnung nach dem Krieg geboren hatte. Anfänger waren sie trotzdem nicht, in Kroatien oder Serbien wurde schon vorher guter Fußball gespielt. Fritz Walter und Werner Liebrich überzeugten sich davon, indem sie sich in einem Rundfunkgeschäft in Spiez die erste Halbzeit des Spiels zwischen Jugoslawien und Frankreich auf einem Bildschirm ansahen. Mehr erlaubte Bundestrainer Sepp Herberger nicht, er erwartete sie pünktlich um 19 Uhr zum Abendessen.

Die kleinen Probleme, die das Weiterkommen erbrachte, wurden pragmatisch gelöst. Da die Spielorte ebenso wie die Partien ab dem Viertelfinale kurzfristig bestimmt wurden, war es kaum möglich, Quartiere zu buchen. Zwei Tage telefonierte DFB-Geschäftsführer Dr. Georg Xandry vergeblich wegen Hotelzimmern in Genf, wo eine Außenministertagung für belegte Betten sorgte. Auf der Anreise nach Genf übernachtete die Mannschaft deshalb in einem kleinen Schloss 20 Kilometer vor der Stadt, das nicht genug Betten für einen WM-Kader hatte. So mussten es sich im "Chateau de Dully" einige Reservisten auf Sofas und Matratzen einigermaßen bequem machen. Im Schlossteich quakten an jenem Samstagabend die Frösche um die Wette, Herberger fürchtete um die Nachtruhe und alarmierte die Gastgeberin. Die versicherte, das "Konzert" sei gegen 22 Uhr zu Ende - und so war es. Gute Nachrichten auch aus dem Lazarett: Die Wadenwickel, mit denen Masseur Erich Deuser das Fieber von Karl Mai bekämpfte, zeigten die gewünschte Wirkung.

Nur ein Personalproblem ließ sich nicht so einfach lösen: Jupp Posipal meldete sich am Sonntagmorgen. Mehr verunsichert als (am Knöchel) verletzt, verzichtete der Weltklasseverteidiger, der als Mittelläufer nicht zurechtkam, auf seinen Einsatz: "Ich fürchte, der Mannschaft zu schaden, wenn ich sie mit meiner Schwäche anstecke." So kam der unerfahrene Werner Liebrich als Mittelläufer zum Zuge. Werner Kohlmeyer kehrte nach Verletzung zurück und ersetzte Hans Bauer. Fritz Laband blieb im Team, es war die Verteidigung des Auftaktspiels. Nach einer Besprechung mit Kapitän Fritz Walter setzte Sepp Herberger im Sturm endlich auch auf dessen frustrierten Zimmerpartner Helmut Rahn (für Berni Klodt), der nach dem zweiten Spiel noch einen Ausbruch aus dem Quartier wagte und ein Bierchen trank. In seinen Memoiren schrieb Rahn: "Wir gründeten sogar einen 'Klub der Unzufriedenen', sonderten uns ab und marschierten auf eigene Faust in ein Wirtshaus auf der anderen Seite des Thuner Sees."

Herberger erfuhr es, ließ es aber durchgehen. Denn er brauchte "Draufgänger" für dieses Spiel - und zu denen zählte eben ein Typ wie "der Boss". Mit beiden Rechtsaußen machte Herberger in Spiez einen Spaziergang und erläuterte seine folgenreiche Entscheidung, und "ein gegenseitiger Händedruck bestätigte das Abkommen" (Herberger). Nun war Rahn ganz euphorisch und versprach dem Trainer in der Mannschaftssitzung ("Gegen die Jugos treffe ich immer") prompt ein Tor. Drei Änderungen, die fruchteten. Im Team der Jugoslawen standen gleich drei kommende Bundesligatrainer: neben Tschik Cajkovski noch Branko Zebec und Ivica Horvat.

Versprochen, gehalten: Rahn trifft gegen Jugoslawien

Spielbericht:

Herberger stellt die Mannschaft auf eine Abwehrschlacht ein: "Lasst die Jugoslawen ruhig dauernd angreifen." So erhält Halbstürmer Max Morlock eine defensive Order, die "ihn zum Helfer in unserer Abwehr machte" (Herberger). Er soll Cajkovski ausschalten. Erstmals bei dieser WM bilden sie in der Kabine einen Kreis vor dem Spiel, Fritz Walter hat die Idee schon 1951 aus Kaiserslautern importiert. Er schreibt in seinem WM-Buch: "Seither ist der Kreis völlig in Vergessenheit geraten. Heute, wo wir uns den Sieg so sehnsüchtig wünschen, fällt er mir wieder ein." Und es ermutigt ihn, dass der Regen fällt. Es ist Fritz-Walter-Wetter an diesem Sonntag.

Das Radio überträgt live, Gerd Krämer kommentiert. Der jugoslawische Block ist weit größer auf den Rängen im Charmilles-Stadion. Alle Deutschen machen sich etwas Sorgen, weil Schiedsrichter Zsolt Ungar ist - und nach Liebrichs Foul an Puskas sind die Ungarn auf Deutsche nicht gut zu sprechen. Fritz Walter verliert die Seitenwahl gegen Rajko Mitic, der für sein 50. Länderspiel geehrt wird. Zwei weitere Spieler feiern Jubiläum, drei Blumensträuße verzögern den Anpfiff, er erfolgt um 17.02 Uhr. Deutschland stößt an und spielt mit dem Wind. Kuriosum am Rande: Auf der deutschen Bank sitzt auch der Koch des Chateau de Dully, als Dank für die Gastfreundschaft und das offenbar hervorragende Essen.

Die ersten kleineren Chancen haben die Jugoslawen, aber "Turek rührt keinen Finger" (kicker). Wieder fällt ein frühes Tor für die Deutschen, auch wenn es ein Jugoslawe erzielt. Eine Flanke von Horst Eckel köpft Ivica Horvat, von Hans Schäfer und seinem eigenen Torwart Vladimir Beara bedrängt, ins Netz. Das reizt den Gegner, der eindeutig mehr vom Spiel hat. Es ist ein Tag, an dem sich ein Torhüter auszeichnen kann. Es wird der große Tag des sogar von Herberger angezählten und der Presse stark kritisierten Düsseldorfers, mit dessen Einsatz nicht jeder gerechnet hat. Nun lesen wir: "Turek versöhnte uns" (kicker). Etwa, als er einen Volleyschuss von Stjepan Bobek erhechtet (15.). Bernard Vukas von Hajduk Split hat zuvor nur die Latte getroffen. "Mit dieser Parade nimmt ihn jedes Variété der Welt auf", schreibt der versöhnte Reporter Friedebert Becker. Vieles wird die Beute der endlich überzeugenden Abwehr. Kohlmeyer rettet binnen zwei Minuten dreimal (!) auf oder kurz vor der Torlinie, Mai per Kopf, ebenso wie Mittelläufer Liebrich, der den permanenten Pfiffen trotzt. Er verdient sich in seinem erst fünften Länderspiel den Ehrennamen "Löwe von Genf". Als Toni Turek nach einem Ausflug doch einmal danebengreift - "fast bleibt unser Herz stehen" -, geht Vujadin Boskovs Schuss über den Kasten. Als der jugoslawische Wirbel zu groß wird und die ständigen Rochaden die Deutschen zunehmend verwirren, stellt Herberger auf die damals noch ungewöhnliche Raumdeckung um.

Halbzeit. Herberger beruhigt die Spieler und sagt: "Unsere Methode ist richtig. Wir wollen sie beibehalten. Das soll nicht heißen, dass ihr nicht mal steil nach vorn geht und durchzubrechen versucht. Wie wärs mit mehr Angriffen über den rechten Flügel?" Wieder verspricht Helmut Rahn ein Tor, diesmal aber nur Fritz Walter, sie wetten um eine Flasche Sekt. Es bleibt auch nach der Pause eine Abwehrschlacht, an der sich sogar Mittelstürmer Ottmar Walter und Bruder Fritz beteiligen. Sie sind mehr am eigenen als am gegnerischen Strafraum. Entlastung kann es so nicht geben. Minutenlang ist die Elf regelrecht eingeschnürt, nicht nur Reporter Becker verlebt "immer wieder bange Sekunden". Radio-Kollege Krämer zerschmettert vor Aufregung eine Wasserflasche und glaubt fortan daran, dass Scherben wirklich Glück bringen. Sie brauchen es. Die wenigen Kontergelegenheiten werden schlecht ausgespielt. Abschlüsse werden unkonzentriert vergeben: Schäfer verschießt freistehend (kicker: "Zu aufgeregt, Schäfer!"), Beara hat einen ziemlich geruhsamen Abend. Als ihn Ottmar Walter (63.) und Schäfer Rahn aus zweiter Reihe prüfen, ist er allerdings auf dem Posten (67.). Glück aber für ihn, dass Rahn den Abpraller am leeren Tor vorbeisetzt. Turek wird zum zweiten Mal behandelt, er bekommt nicht nur Bälle ab in Genf, "bleibt aber im Tor". Radio-Reporter Krämer unkt: "Wo sind unsere Stürmer? Warum halten sie keinen Ball, warum entlasten sie durch eigene Angriffe unsere schwer bedrängte Deckung nicht? Das Tor für Jugoslawien liegt in der Luft, man riecht es förmlich."

Kurz vor Schluss kommt es zu einem legendären Dialog an der Seitenlinie. Herberger nutzt eine Unterbrechung, den bis dahin unglücklichen Rahn, der gerade erst eine Ecke hinter das Tor getreten hat, anzustacheln: "Ei Helmut, wo bleibt’n dei versprochenes Tor?" Rahn lässt sich nicht lange bitten und drischt nach Schäfers Zuspiel ansatzlos von der Strafraumkante auf Bearas Kasten. Der Ball schlägt im Winkel ein und prallt von der Netzstange sofort wieder heraus, aber jeder hat gesehen, dass er drin ist. 2:0, die Entscheidung. "Mit diesem Tor hat er viel gutgemacht. Seine Fehler im sinnlosen Alleingang hatten sich derart gehäuft, dass sogar die neutralen Zuschauer ihn wegen seiner Unfähigkeit auspfiffen", berichtet der kicker. "In unserer blödsinnigen Freude tun wir, als hätten wir den Helmut nie mehr nötig. Wir erdrücken und erschlagen ihn beinahe", notiert Fritz Walter.

Dann ist es vorbei. Begeisterte Anhänger tragen die Sieger auf Schultern vom Feld. Turek beklagt sich in gespielter Empörung über die vielen Schulterklopfer, "die Belastungen nach dem Abpfiff waren weitaus strapaziöser als die 90 Spielminuten." Was dem kicker-Redakteur in den Sinn kam, das glaubten nun auch in der Heimat viele: "Welt-Endspiel mit Deutschland! Das ist keine Phantasie mehr!"

Aufstellung: Turek – Laband, Kohlmeyer – Eckel, Liebrich, Mai – Morlock, Fritz Walter – Rahn, Ottmar Walter, Schäfer.

Tore: 1:0 Horvat (10., Eigentor), 2:0 Rahn (84.).

Zuschauer: 16.190 in Genf.

"Jugoslawien scheitert an Herbergers kluger Taktik"

Stimmen zum Spiel:

Sepp Herberger: "Wir haben den Jugoslawen mit unserer Taktik das Mittelfeld überlassen. Wir haben sie gerne spielen lassen und waren darauf bedacht, nicht im Mittelfeldkampf die Kräfte und Nerven zu verbrauchen. Unsere Mannschaft hat bewusst aus der Defensive gespielt, hat mit klarer Überlegung in sehr gefährlichen Momenten vor dem eigenen Tor eine Kampfabwehr zurückgezogen, hat aus der massierten Deckung urplötzlich Angriffe entwickelt, die den Jugoslawen gar nicht lagen"

Werner Liebrich: "Keine Sonderbevorzugung, bitte. Alle elf gaben ihr Bestes. Denn was wäre wohl geworden, wenn nicht Werner Kohlmeyers aufopfernder Kopfsprung zum Ball den möglichen Ausgleich verhindert hätte?"

Max Morlock: "Es war richtig von Herberger, dass er uns den zusätzlichen Einsatz im Ungarn-Spiel in Basel ersparte. So kamen wir mit voll aufgeladenen Batterien auf das Spielfeld. Wir brauchten sie auch. Denn die Jugoslawen hetzten uns zuweilen kreuz und quer über das Feld, dass wir manchmal nicht ein und aus wussten."

Berni Klodt: "Bei einem solchen Erfolg ist es doch ganz gleich, wer eingesetzt wird. Die Hauptsache ist doch: Wir haben gewonnen."

Helmut Rahn: "Das Spiel gegen die Jugoslawen hatte seine ganz eigene Note. Mit keiner der bisherigen Begegnungen ließ es sich vergleichen. Es war schwerer, kämpferischer, aufreibender. Niemand von uns Stürmern konnte das tun, wozu er seine Veranlagung nach geschaffen war." (In: Mein Hobby: Tore schießen/1959)

"Der deutsche Sieg in Genf war bitter erkämpft. Der Erfolg ist sensationell; er war umso weniger erwartet, als Herberger mit einer durch Ersatz geschwächten Hintermannschaft antreten musste." (Die Welt)

"Jugoslawien scheiterte mit seiner Daueroffensive an Herbergers kluger Taktik, an Tureks phantastischen Paraden, am Allerweltskerl Morlock, an Liebrichs bravourösen Zerstörungskünsten, an der überraschend erstarkten deutschen Abwehr und (natürlich) an Fritz Walters genialer Spielregie." (kicker)

"Wir beherrschten das Spiel, und was passiert? Der Gegner siegt mit 2:0... Herberger hat mit diesem Spiel bestätigt, dass er ein ausgezeichneter Taktiker ist." (Borba/Belgrad)

"Wenn die Deutschen so viele Chancen gehabt hätten wie unsere, hätten sie zweistellig gewonnen." (Politika daily/Jugoslawien)

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Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

27. Juni in Genf - Viertelfinale Deutschland - Jugoslawien 2:0

Vor dem Spiel:

Das Reglement sah vor, dass ein Gruppensieger gegen einen Gruppenzweiten spielen musste. Der Zweite der deutschen Gruppe 2 traf also auf den Sieger der Gruppe 1, das waren die ebenfalls ungesetzten Jugoslawen, die Frankreich ausgeschaltet und Brasilien ein 1:1 abgetrotzt hatten. Allerdings wurden sie es erst nach einem Losentscheid, denn sie waren punktgleich mit Brasilien eingelaufen, die weit schlechtere Tordifferenz spielte keine Rolle. Trotzdem posaunte Tschik Cajkovski, mit dem der FC Bayern München später in die Bundesliga aufsteigen sollte: "Wir werden Weltmeister und nehmen im Viertelfinale Revanche an Deutschland für die 2:3-Niederlage von Ludwigshafen." Ende 1952 hatten sich die Länderteams erstmals gegenüberstanden, Jugoslawien war ein neuer Staat, den die Neuordnung nach dem Krieg geboren hatte. Anfänger waren sie trotzdem nicht, in Kroatien oder Serbien wurde schon vorher guter Fußball gespielt. Fritz Walter und Werner Liebrich überzeugten sich davon, indem sie sich in einem Rundfunkgeschäft in Spiez die erste Halbzeit des Spiels zwischen Jugoslawien und Frankreich auf einem Bildschirm ansahen. Mehr erlaubte Bundestrainer Sepp Herberger nicht, er erwartete sie pünktlich um 19 Uhr zum Abendessen.

Die kleinen Probleme, die das Weiterkommen erbrachte, wurden pragmatisch gelöst. Da die Spielorte ebenso wie die Partien ab dem Viertelfinale kurzfristig bestimmt wurden, war es kaum möglich, Quartiere zu buchen. Zwei Tage telefonierte DFB-Geschäftsführer Dr. Georg Xandry vergeblich wegen Hotelzimmern in Genf, wo eine Außenministertagung für belegte Betten sorgte. Auf der Anreise nach Genf übernachtete die Mannschaft deshalb in einem kleinen Schloss 20 Kilometer vor der Stadt, das nicht genug Betten für einen WM-Kader hatte. So mussten es sich im "Chateau de Dully" einige Reservisten auf Sofas und Matratzen einigermaßen bequem machen. Im Schlossteich quakten an jenem Samstagabend die Frösche um die Wette, Herberger fürchtete um die Nachtruhe und alarmierte die Gastgeberin. Die versicherte, das "Konzert" sei gegen 22 Uhr zu Ende - und so war es. Gute Nachrichten auch aus dem Lazarett: Die Wadenwickel, mit denen Masseur Erich Deuser das Fieber von Karl Mai bekämpfte, zeigten die gewünschte Wirkung.

Nur ein Personalproblem ließ sich nicht so einfach lösen: Jupp Posipal meldete sich am Sonntagmorgen. Mehr verunsichert als (am Knöchel) verletzt, verzichtete der Weltklasseverteidiger, der als Mittelläufer nicht zurechtkam, auf seinen Einsatz: "Ich fürchte, der Mannschaft zu schaden, wenn ich sie mit meiner Schwäche anstecke." So kam der unerfahrene Werner Liebrich als Mittelläufer zum Zuge. Werner Kohlmeyer kehrte nach Verletzung zurück und ersetzte Hans Bauer. Fritz Laband blieb im Team, es war die Verteidigung des Auftaktspiels. Nach einer Besprechung mit Kapitän Fritz Walter setzte Sepp Herberger im Sturm endlich auch auf dessen frustrierten Zimmerpartner Helmut Rahn (für Berni Klodt), der nach dem zweiten Spiel noch einen Ausbruch aus dem Quartier wagte und ein Bierchen trank. In seinen Memoiren schrieb Rahn: "Wir gründeten sogar einen 'Klub der Unzufriedenen', sonderten uns ab und marschierten auf eigene Faust in ein Wirtshaus auf der anderen Seite des Thuner Sees."

Herberger erfuhr es, ließ es aber durchgehen. Denn er brauchte "Draufgänger" für dieses Spiel - und zu denen zählte eben ein Typ wie "der Boss". Mit beiden Rechtsaußen machte Herberger in Spiez einen Spaziergang und erläuterte seine folgenreiche Entscheidung, und "ein gegenseitiger Händedruck bestätigte das Abkommen" (Herberger). Nun war Rahn ganz euphorisch und versprach dem Trainer in der Mannschaftssitzung ("Gegen die Jugos treffe ich immer") prompt ein Tor. Drei Änderungen, die fruchteten. Im Team der Jugoslawen standen gleich drei kommende Bundesligatrainer: neben Tschik Cajkovski noch Branko Zebec und Ivica Horvat.

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Versprochen, gehalten: Rahn trifft gegen Jugoslawien

Spielbericht:

Herberger stellt die Mannschaft auf eine Abwehrschlacht ein: "Lasst die Jugoslawen ruhig dauernd angreifen." So erhält Halbstürmer Max Morlock eine defensive Order, die "ihn zum Helfer in unserer Abwehr machte" (Herberger). Er soll Cajkovski ausschalten. Erstmals bei dieser WM bilden sie in der Kabine einen Kreis vor dem Spiel, Fritz Walter hat die Idee schon 1951 aus Kaiserslautern importiert. Er schreibt in seinem WM-Buch: "Seither ist der Kreis völlig in Vergessenheit geraten. Heute, wo wir uns den Sieg so sehnsüchtig wünschen, fällt er mir wieder ein." Und es ermutigt ihn, dass der Regen fällt. Es ist Fritz-Walter-Wetter an diesem Sonntag.

Das Radio überträgt live, Gerd Krämer kommentiert. Der jugoslawische Block ist weit größer auf den Rängen im Charmilles-Stadion. Alle Deutschen machen sich etwas Sorgen, weil Schiedsrichter Zsolt Ungar ist - und nach Liebrichs Foul an Puskas sind die Ungarn auf Deutsche nicht gut zu sprechen. Fritz Walter verliert die Seitenwahl gegen Rajko Mitic, der für sein 50. Länderspiel geehrt wird. Zwei weitere Spieler feiern Jubiläum, drei Blumensträuße verzögern den Anpfiff, er erfolgt um 17.02 Uhr. Deutschland stößt an und spielt mit dem Wind. Kuriosum am Rande: Auf der deutschen Bank sitzt auch der Koch des Chateau de Dully, als Dank für die Gastfreundschaft und das offenbar hervorragende Essen.

Die ersten kleineren Chancen haben die Jugoslawen, aber "Turek rührt keinen Finger" (kicker). Wieder fällt ein frühes Tor für die Deutschen, auch wenn es ein Jugoslawe erzielt. Eine Flanke von Horst Eckel köpft Ivica Horvat, von Hans Schäfer und seinem eigenen Torwart Vladimir Beara bedrängt, ins Netz. Das reizt den Gegner, der eindeutig mehr vom Spiel hat. Es ist ein Tag, an dem sich ein Torhüter auszeichnen kann. Es wird der große Tag des sogar von Herberger angezählten und der Presse stark kritisierten Düsseldorfers, mit dessen Einsatz nicht jeder gerechnet hat. Nun lesen wir: "Turek versöhnte uns" (kicker). Etwa, als er einen Volleyschuss von Stjepan Bobek erhechtet (15.). Bernard Vukas von Hajduk Split hat zuvor nur die Latte getroffen. "Mit dieser Parade nimmt ihn jedes Variété der Welt auf", schreibt der versöhnte Reporter Friedebert Becker. Vieles wird die Beute der endlich überzeugenden Abwehr. Kohlmeyer rettet binnen zwei Minuten dreimal (!) auf oder kurz vor der Torlinie, Mai per Kopf, ebenso wie Mittelläufer Liebrich, der den permanenten Pfiffen trotzt. Er verdient sich in seinem erst fünften Länderspiel den Ehrennamen "Löwe von Genf". Als Toni Turek nach einem Ausflug doch einmal danebengreift - "fast bleibt unser Herz stehen" -, geht Vujadin Boskovs Schuss über den Kasten. Als der jugoslawische Wirbel zu groß wird und die ständigen Rochaden die Deutschen zunehmend verwirren, stellt Herberger auf die damals noch ungewöhnliche Raumdeckung um.

Halbzeit. Herberger beruhigt die Spieler und sagt: "Unsere Methode ist richtig. Wir wollen sie beibehalten. Das soll nicht heißen, dass ihr nicht mal steil nach vorn geht und durchzubrechen versucht. Wie wärs mit mehr Angriffen über den rechten Flügel?" Wieder verspricht Helmut Rahn ein Tor, diesmal aber nur Fritz Walter, sie wetten um eine Flasche Sekt. Es bleibt auch nach der Pause eine Abwehrschlacht, an der sich sogar Mittelstürmer Ottmar Walter und Bruder Fritz beteiligen. Sie sind mehr am eigenen als am gegnerischen Strafraum. Entlastung kann es so nicht geben. Minutenlang ist die Elf regelrecht eingeschnürt, nicht nur Reporter Becker verlebt "immer wieder bange Sekunden". Radio-Kollege Krämer zerschmettert vor Aufregung eine Wasserflasche und glaubt fortan daran, dass Scherben wirklich Glück bringen. Sie brauchen es. Die wenigen Kontergelegenheiten werden schlecht ausgespielt. Abschlüsse werden unkonzentriert vergeben: Schäfer verschießt freistehend (kicker: "Zu aufgeregt, Schäfer!"), Beara hat einen ziemlich geruhsamen Abend. Als ihn Ottmar Walter (63.) und Schäfer Rahn aus zweiter Reihe prüfen, ist er allerdings auf dem Posten (67.). Glück aber für ihn, dass Rahn den Abpraller am leeren Tor vorbeisetzt. Turek wird zum zweiten Mal behandelt, er bekommt nicht nur Bälle ab in Genf, "bleibt aber im Tor". Radio-Reporter Krämer unkt: "Wo sind unsere Stürmer? Warum halten sie keinen Ball, warum entlasten sie durch eigene Angriffe unsere schwer bedrängte Deckung nicht? Das Tor für Jugoslawien liegt in der Luft, man riecht es förmlich."

Kurz vor Schluss kommt es zu einem legendären Dialog an der Seitenlinie. Herberger nutzt eine Unterbrechung, den bis dahin unglücklichen Rahn, der gerade erst eine Ecke hinter das Tor getreten hat, anzustacheln: "Ei Helmut, wo bleibt’n dei versprochenes Tor?" Rahn lässt sich nicht lange bitten und drischt nach Schäfers Zuspiel ansatzlos von der Strafraumkante auf Bearas Kasten. Der Ball schlägt im Winkel ein und prallt von der Netzstange sofort wieder heraus, aber jeder hat gesehen, dass er drin ist. 2:0, die Entscheidung. "Mit diesem Tor hat er viel gutgemacht. Seine Fehler im sinnlosen Alleingang hatten sich derart gehäuft, dass sogar die neutralen Zuschauer ihn wegen seiner Unfähigkeit auspfiffen", berichtet der kicker. "In unserer blödsinnigen Freude tun wir, als hätten wir den Helmut nie mehr nötig. Wir erdrücken und erschlagen ihn beinahe", notiert Fritz Walter.

Dann ist es vorbei. Begeisterte Anhänger tragen die Sieger auf Schultern vom Feld. Turek beklagt sich in gespielter Empörung über die vielen Schulterklopfer, "die Belastungen nach dem Abpfiff waren weitaus strapaziöser als die 90 Spielminuten." Was dem kicker-Redakteur in den Sinn kam, das glaubten nun auch in der Heimat viele: "Welt-Endspiel mit Deutschland! Das ist keine Phantasie mehr!"

Aufstellung: Turek – Laband, Kohlmeyer – Eckel, Liebrich, Mai – Morlock, Fritz Walter – Rahn, Ottmar Walter, Schäfer.

Tore: 1:0 Horvat (10., Eigentor), 2:0 Rahn (84.).

Zuschauer: 16.190 in Genf.

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"Jugoslawien scheitert an Herbergers kluger Taktik"

Stimmen zum Spiel:

Sepp Herberger: "Wir haben den Jugoslawen mit unserer Taktik das Mittelfeld überlassen. Wir haben sie gerne spielen lassen und waren darauf bedacht, nicht im Mittelfeldkampf die Kräfte und Nerven zu verbrauchen. Unsere Mannschaft hat bewusst aus der Defensive gespielt, hat mit klarer Überlegung in sehr gefährlichen Momenten vor dem eigenen Tor eine Kampfabwehr zurückgezogen, hat aus der massierten Deckung urplötzlich Angriffe entwickelt, die den Jugoslawen gar nicht lagen"

Werner Liebrich: "Keine Sonderbevorzugung, bitte. Alle elf gaben ihr Bestes. Denn was wäre wohl geworden, wenn nicht Werner Kohlmeyers aufopfernder Kopfsprung zum Ball den möglichen Ausgleich verhindert hätte?"

Max Morlock: "Es war richtig von Herberger, dass er uns den zusätzlichen Einsatz im Ungarn-Spiel in Basel ersparte. So kamen wir mit voll aufgeladenen Batterien auf das Spielfeld. Wir brauchten sie auch. Denn die Jugoslawen hetzten uns zuweilen kreuz und quer über das Feld, dass wir manchmal nicht ein und aus wussten."

Berni Klodt: "Bei einem solchen Erfolg ist es doch ganz gleich, wer eingesetzt wird. Die Hauptsache ist doch: Wir haben gewonnen."

Helmut Rahn: "Das Spiel gegen die Jugoslawen hatte seine ganz eigene Note. Mit keiner der bisherigen Begegnungen ließ es sich vergleichen. Es war schwerer, kämpferischer, aufreibender. Niemand von uns Stürmern konnte das tun, wozu er seine Veranlagung nach geschaffen war." (In: Mein Hobby: Tore schießen/1959)

"Der deutsche Sieg in Genf war bitter erkämpft. Der Erfolg ist sensationell; er war umso weniger erwartet, als Herberger mit einer durch Ersatz geschwächten Hintermannschaft antreten musste." (Die Welt)

"Jugoslawien scheiterte mit seiner Daueroffensive an Herbergers kluger Taktik, an Tureks phantastischen Paraden, am Allerweltskerl Morlock, an Liebrichs bravourösen Zerstörungskünsten, an der überraschend erstarkten deutschen Abwehr und (natürlich) an Fritz Walters genialer Spielregie." (kicker)

"Wir beherrschten das Spiel, und was passiert? Der Gegner siegt mit 2:0... Herberger hat mit diesem Spiel bestätigt, dass er ein ausgezeichneter Taktiker ist." (Borba/Belgrad)

"Wenn die Deutschen so viele Chancen gehabt hätten wie unsere, hätten sie zweistellig gewonnen." (Politika daily/Jugoslawien)

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