"Uns Uwe" und die "Schlacht von Göteborg"

Am 23. Juni (ab 20 Uhr, live in der ARD) trifft Deutschland in der WM-Vorrunde in Russland auf Schweden. Ein echter WM-Klassiker. Zum 60. Jubiläum erinnerte sich Uwe Seeler in einem fußballhistorischen Talk der DFB-Kulturstiftung und der Schwedischen Botschaft an die "Schlacht von Göteborg", das Halbfinale der WM 1958.

Man muss sich Uwe Seeler als einen glücklichen Menschen vorstellen. Der Mann, der 1961 ein unmoralisches Millionenangebot von Inter Mailand ausschlug, um weiter als adidas-Generalvertreter jedes Jahr 70.000 Kilometer durch die norddeutsche Provinz zu fahren und nach Feierabend bei "seinem HSV" zu spielen, ist mit seiner Karriere und seinem Leben im Reinen. Das nimmt man ihm nicht nur ab, man spürt es. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum dem quicklebendigen 81-Jährigen auch heute noch die Sympathie der Menschen zufliegen. Auch hier in Berlin, auch von denen, die ihn nie haben spielen sehen.

"Ich hab' auch so ein schönes Leben geführt und jeden Tag etwas zu essen", erinnert sich der DFB-Ehrenspielführer, angesprochen von Moderator Philipp Köster, an das legendäre Angebot von Inter Mailand 1961. Drei Tage lang habe man im Hotel zusammengesessen "und das Angebot wurde jeden Tag höher". Am Ende habe Mailand-Coach Helenio Herrera nur noch mit dem Kopf geschüttelt. Warum, fragt Seeler den Dolmetscher: Weil er noch nie einen Spieler erlebt habe, der so viel Geld ausschlägt.

Seeler wird zur deutschen Legende

"Uns Uwe" bleibt in Hamburg und wird zu einer Fußball-Legende. Nicht nur durch seine Siege und seine Tore, auch durch seine Niederlagen. Das Foto von Sven Simon, das ihn nach dem WM-Finale 1966 von Wembley mit gesenkten Kopf zeigt, wird zum Sinnbild der tragischen Niederlage. Nicht weniger dramatisch das "Jahrhundertspiel" im Halbfinale von Mexiko 1970 gegen Italien (3:4 n.V.). Und auch die "Schlacht von Götenborg" am 24. Juni 1958.

Ein Spiel, um das sich bis heute Mythen ranken. Ihnen auf Grund gehen wollte die Bühnenveranstaltung "Heja Sverige – Schwedens lautestes WM-Silber" am Abend in den "Nordischen Botschaften" in Berlin. Zum 60. Jubiläum von Schwedens größtem Fußballerfolg begrüßten die DFB-Kulturstiftung und die Schwedische Botschaft zwei Fußball-Legenden als Ehrengäste. Neben Uwe Seeler war Ronnie Hellström extra aus Schweden eingeflogen, dreifacher WM-Teilnehmer (1970 bis 1978), in seinen großen Zeiten beim 1. FC Kaiserslautern einer der besten Torhüter Europas.

Als damals Neunjähriger erlebte er im Stadion und am Fernseher, wie sich der schwedische Gastgeber um Superstar Kurt Hamrin und weitere "Italien-Legionäre" bis ins Finale spielte, und erst dort von den brasilianischen Zauberern um das 17 Jahre alte Wunderkund Pelé besiegt wurde. Während man in Schweden heute eher dieses Finale im Gedächtnis hat, hat sich die kollektive Erinnerung des deutschen Fußballfans an jenem Halbfinale festgesetzt.

Schlachtruf macht Stadion zum "Hexenkessel"

Grund genug für Rene Wiese tief in die Archive zu steigen - auf der Suche danach, wo die historische Wahrheit endet und die Mythen beginnen. Tatsächlich ist in der deutschen Überlieferung vor allem das "unfaire" Publikum ein immer wiederkehrendes Thema, das – angeheizt von vier "Einpeitschern" mit Fahnen und Megafonen, das Stadion mit dem berühmtberüchtigten "Heja Sverige" in einen bis dahin unbekannten Hexenkessel verwandelte.

Wiese erläutert dazu, dass jener Schlachtruf schon 1912 Einzug in Schwedens Sportstadien fand – erdacht von einem schwedischen Leichtathletiktrainer, der zuvor eine ähnliche Zuschaueranfeuerung in den USA erlebt hatte. 1916 kam dieser erstmals im Fußball zum Einsatz. "Die Zuschauer haben uns nicht beeindruckt", erklärt Uwe Seeler nüchtern und fügt hinzu: "Aber den Schiedsrichter schon."

Und da wären wir schon beim nächsten Mythos. Die Rote Karte für Verteidiger Erich Juskowiak nach einem Revanchefoul am damals kaum zu bremsenden Flügelstürmer Kurt Hamrin. Ausgerechnet durch den ungarischen Schiedsrichter Zsolt aus Ungarn, das Deutschland vier Jahre zuvor im Finale von Bern sensationell besiegt hatte. Und zu allem Unglück kurze Zeit später dann noch die schwere Verletzung des 38-jährigen Fritz Walter nach einem Zweikampf mit Parling. Unglück oder Absicht?

Mit nur neun Spielern kassiert das Herberger-Team in den letzten zehn Minuten zwei Tore von Gren und Hamrin. Der Weltmeister verliert das Halbfinale 1:3 und scheidet aus. Und in der Heimat ist die Hölle los.

DFB-Team reist noch vor Banektt ab

Nicht nur, dass die Gazetten von der "Schlacht", der "Hölle", dem "Skandal" und dem "Hass von Göteborg" schreiben. Auch DFB-Präsident Peco Bauwens tobt und kündigt an, dass man, "so lange ich im DFB mitzuentscheiden habe", nie wieder gegen Schweden spielen werde. Eine Drohung, die er wahr macht und mit der das deutsche Team schon vor dem FIFA-Bankett der vier Halbfinalisten zurück nach Deutschland reist.

Auch hier schlagen die Wellen der Entrüstung längst hoch. In Schleswig-Holstein weigern sich Tankstellenbesitzer schwedische Autos zu betanken, ein Restaurant in St. Pauli streicht seine "Schwedenplatte". Besorgt um das das deutsch-schwedische Verhältnis verfasst das Auswärtige Amt als "geheim" deklarierte Berichte.

Auch diese hat Wiese gelesen und beschreibt sehr anschaulich, wie die "Skandalisierung" des Spiels in den deutschen und schwedischen Medien schon vor dem Halbfinale langsam beginnt. Zum Beispiel, als das Spiel kurzfristig von Stockholm nach Göteborg verlegt wird, und damit die Tickets der deutschen Zuschauer ungültig werden. Oder durch die von der Bild-Zeitung publik gemachte Unzufriedenheit Herbergers mit dem Quartier des Teams. Schwedische Zeitungen hingegen thematisieren die angeblich überharte Spielweise der Deutschen und das Auftreten seiner "Schlachtenbummler".

Seeler: "Gewinnen wollen. Verlieren können. Das ist Sport."

"Die Unterbringung war gut", sagt Uwe Seeler und holt die Diskussion wieder auf den Boden. "Ich habe gut geschlafen. Wenn ein anderer nicht schlafen konnte, dann vielleicht vor Aufregung." Und die Niederlage, der Schiedsrichter, das "unfaire" Publikum? "Natürlich ist man nach einer Niederlage nicht froh, sondern nachdenklich. Das ist normal." Aber: "Gewinnen wollen. Verlieren können. Das ist Sport."

Das klingt wie eine der lakonischen Weisheiten seines Trainers Sepp Herberger, einem der Beteiligten, der sich weder vor noch nach dem Spiel zu der bis heute anhaltenden Skandalisierung des Halbfinales hinreißen lässt. Diese hilft letztlich vielleicht nur einem: Finalgegner Brasilien. Nach der aufgeheizten Diskussion um das Halbfinale verbietet die FIFA kurzerhand die Einpeitscher im Endspiel. Ohne seinen Heimvorteil unterliegt Schweden sang- und klanglos 2:5. Erst bei der nächsten WM 1966 in England werden die lautstarken und konzertierten Chöre endgültig zum Teil einer Fankultur, wie wir sie heute kennen. Dass sie eigentlich eine schwedische Erfindung sind, ist auch eine der vielen Geschichte um die "Schlacht von Göteborg".

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Am 23. Juni (ab 20 Uhr, live in der ARD) trifft Deutschland in der WM-Vorrunde in Russland auf Schweden. Ein echter WM-Klassiker. Zum 60. Jubiläum erinnerte sich Uwe Seeler in einem fußballhistorischen Talk der DFB-Kulturstiftung und der Schwedischen Botschaft an die "Schlacht von Göteborg", das Halbfinale der WM 1958.

Man muss sich Uwe Seeler als einen glücklichen Menschen vorstellen. Der Mann, der 1961 ein unmoralisches Millionenangebot von Inter Mailand ausschlug, um weiter als adidas-Generalvertreter jedes Jahr 70.000 Kilometer durch die norddeutsche Provinz zu fahren und nach Feierabend bei "seinem HSV" zu spielen, ist mit seiner Karriere und seinem Leben im Reinen. Das nimmt man ihm nicht nur ab, man spürt es. Und vielleicht ist das auch der Grund, warum dem quicklebendigen 81-Jährigen auch heute noch die Sympathie der Menschen zufliegen. Auch hier in Berlin, auch von denen, die ihn nie haben spielen sehen.

"Ich hab' auch so ein schönes Leben geführt und jeden Tag etwas zu essen", erinnert sich der DFB-Ehrenspielführer, angesprochen von Moderator Philipp Köster, an das legendäre Angebot von Inter Mailand 1961. Drei Tage lang habe man im Hotel zusammengesessen "und das Angebot wurde jeden Tag höher". Am Ende habe Mailand-Coach Helenio Herrera nur noch mit dem Kopf geschüttelt. Warum, fragt Seeler den Dolmetscher: Weil er noch nie einen Spieler erlebt habe, der so viel Geld ausschlägt.

Seeler wird zur deutschen Legende

"Uns Uwe" bleibt in Hamburg und wird zu einer Fußball-Legende. Nicht nur durch seine Siege und seine Tore, auch durch seine Niederlagen. Das Foto von Sven Simon, das ihn nach dem WM-Finale 1966 von Wembley mit gesenkten Kopf zeigt, wird zum Sinnbild der tragischen Niederlage. Nicht weniger dramatisch das "Jahrhundertspiel" im Halbfinale von Mexiko 1970 gegen Italien (3:4 n.V.). Und auch die "Schlacht von Götenborg" am 24. Juni 1958.

Ein Spiel, um das sich bis heute Mythen ranken. Ihnen auf Grund gehen wollte die Bühnenveranstaltung "Heja Sverige – Schwedens lautestes WM-Silber" am Abend in den "Nordischen Botschaften" in Berlin. Zum 60. Jubiläum von Schwedens größtem Fußballerfolg begrüßten die DFB-Kulturstiftung und die Schwedische Botschaft zwei Fußball-Legenden als Ehrengäste. Neben Uwe Seeler war Ronnie Hellström extra aus Schweden eingeflogen, dreifacher WM-Teilnehmer (1970 bis 1978), in seinen großen Zeiten beim 1. FC Kaiserslautern einer der besten Torhüter Europas.

Als damals Neunjähriger erlebte er im Stadion und am Fernseher, wie sich der schwedische Gastgeber um Superstar Kurt Hamrin und weitere "Italien-Legionäre" bis ins Finale spielte, und erst dort von den brasilianischen Zauberern um das 17 Jahre alte Wunderkund Pelé besiegt wurde. Während man in Schweden heute eher dieses Finale im Gedächtnis hat, hat sich die kollektive Erinnerung des deutschen Fußballfans an jenem Halbfinale festgesetzt.

Schlachtruf macht Stadion zum "Hexenkessel"

Grund genug für Rene Wiese tief in die Archive zu steigen - auf der Suche danach, wo die historische Wahrheit endet und die Mythen beginnen. Tatsächlich ist in der deutschen Überlieferung vor allem das "unfaire" Publikum ein immer wiederkehrendes Thema, das – angeheizt von vier "Einpeitschern" mit Fahnen und Megafonen, das Stadion mit dem berühmtberüchtigten "Heja Sverige" in einen bis dahin unbekannten Hexenkessel verwandelte.

Wiese erläutert dazu, dass jener Schlachtruf schon 1912 Einzug in Schwedens Sportstadien fand – erdacht von einem schwedischen Leichtathletiktrainer, der zuvor eine ähnliche Zuschaueranfeuerung in den USA erlebt hatte. 1916 kam dieser erstmals im Fußball zum Einsatz. "Die Zuschauer haben uns nicht beeindruckt", erklärt Uwe Seeler nüchtern und fügt hinzu: "Aber den Schiedsrichter schon."

Und da wären wir schon beim nächsten Mythos. Die Rote Karte für Verteidiger Erich Juskowiak nach einem Revanchefoul am damals kaum zu bremsenden Flügelstürmer Kurt Hamrin. Ausgerechnet durch den ungarischen Schiedsrichter Zsolt aus Ungarn, das Deutschland vier Jahre zuvor im Finale von Bern sensationell besiegt hatte. Und zu allem Unglück kurze Zeit später dann noch die schwere Verletzung des 38-jährigen Fritz Walter nach einem Zweikampf mit Parling. Unglück oder Absicht?

Mit nur neun Spielern kassiert das Herberger-Team in den letzten zehn Minuten zwei Tore von Gren und Hamrin. Der Weltmeister verliert das Halbfinale 1:3 und scheidet aus. Und in der Heimat ist die Hölle los.

DFB-Team reist noch vor Banektt ab

Nicht nur, dass die Gazetten von der "Schlacht", der "Hölle", dem "Skandal" und dem "Hass von Göteborg" schreiben. Auch DFB-Präsident Peco Bauwens tobt und kündigt an, dass man, "so lange ich im DFB mitzuentscheiden habe", nie wieder gegen Schweden spielen werde. Eine Drohung, die er wahr macht und mit der das deutsche Team schon vor dem FIFA-Bankett der vier Halbfinalisten zurück nach Deutschland reist.

Auch hier schlagen die Wellen der Entrüstung längst hoch. In Schleswig-Holstein weigern sich Tankstellenbesitzer schwedische Autos zu betanken, ein Restaurant in St. Pauli streicht seine "Schwedenplatte". Besorgt um das das deutsch-schwedische Verhältnis verfasst das Auswärtige Amt als "geheim" deklarierte Berichte.

Auch diese hat Wiese gelesen und beschreibt sehr anschaulich, wie die "Skandalisierung" des Spiels in den deutschen und schwedischen Medien schon vor dem Halbfinale langsam beginnt. Zum Beispiel, als das Spiel kurzfristig von Stockholm nach Göteborg verlegt wird, und damit die Tickets der deutschen Zuschauer ungültig werden. Oder durch die von der Bild-Zeitung publik gemachte Unzufriedenheit Herbergers mit dem Quartier des Teams. Schwedische Zeitungen hingegen thematisieren die angeblich überharte Spielweise der Deutschen und das Auftreten seiner "Schlachtenbummler".

Seeler: "Gewinnen wollen. Verlieren können. Das ist Sport."

"Die Unterbringung war gut", sagt Uwe Seeler und holt die Diskussion wieder auf den Boden. "Ich habe gut geschlafen. Wenn ein anderer nicht schlafen konnte, dann vielleicht vor Aufregung." Und die Niederlage, der Schiedsrichter, das "unfaire" Publikum? "Natürlich ist man nach einer Niederlage nicht froh, sondern nachdenklich. Das ist normal." Aber: "Gewinnen wollen. Verlieren können. Das ist Sport."

Das klingt wie eine der lakonischen Weisheiten seines Trainers Sepp Herberger, einem der Beteiligten, der sich weder vor noch nach dem Spiel zu der bis heute anhaltenden Skandalisierung des Halbfinales hinreißen lässt. Diese hilft letztlich vielleicht nur einem: Finalgegner Brasilien. Nach der aufgeheizten Diskussion um das Halbfinale verbietet die FIFA kurzerhand die Einpeitscher im Endspiel. Ohne seinen Heimvorteil unterliegt Schweden sang- und klanglos 2:5. Erst bei der nächsten WM 1966 in England werden die lautstarken und konzertierten Chöre endgültig zum Teil einer Fankultur, wie wir sie heute kennen. Dass sie eigentlich eine schwedische Erfindung sind, ist auch eine der vielen Geschichte um die "Schlacht von Göteborg".