Mertesackers Debüt: "Kein anderes Spiel war so beeindruckend"

Mit Länderspiel Nummer 104 kam sein größter Erfolg. In Brasilien wurde Per Mertesacker Weltmeister - eine große Karriere wurde gekrönt. Mertesacker trat auf dem Höhepunkt ab, nach dem WM-Finale beendete er seine Laufbahn in der Nationalmannschaft. Zehn Jahre zuvor hatte diese begonnen - unter sehr speziellen Umständen. Im Interview mit DFB.de erinnert sich Mertesacker an seine Premiere. Das Gespräch ist zweiter Teil der Serie: "Mein erstes Länderspiel".

DFB.de: Herr Mertesacker, Ihre Länderspielkarriere begann wie die der meisten Nationalspieler - mit einem Anruf des Bundestrainers. Erinnern Sie sich noch, wie das bei Ihnen konkret gelaufen ist?

Per Mertesacker: Ziemlich genau sogar, wahrscheinlich auch, weil meine Nominierung an einem speziellen Tag erfolgte. Es war der 29. September 2004.

DFB.de: Ihr Geburtstag.

Mertesacker: Richtig. Ich bin damals 20 Jahre alt geworden, und auf einmal hat man den Bundestrainer am Telefon. Jürgen Klinsmann ruft an - ohne mir zum Geburtstag zu gratulieren im Übrigen. Eigentlich ist das ja eine Schande (lacht).

DFB.de: Er hatte andere, gute Nachrichten.

Mertesacker: Er hat gesagt, dass er frischen Wind in die Nationalmannschaft bringen möchte und dass ich dafür genau der richtige Mann wäre. Wobei ich mich nicht mehr an jedes seiner Worte erinnere. Ich weiß nur noch, dass ich ziemlich häufig "Ja" gesagt habe. Aber gratuliert hat er nicht, das weiß ich noch sicher.

DFB.de: Haben Sie ihm dies verübelt?

Mertesacker: Ach Quatsch. Wenn man zum ersten Mal vom Bundestrainer angerufen wird, dann weiß man hinterher ja selber kaum noch, dass man Geburtstag hat.

DFB.de: Wie sehr hat Sie die Nominierung überrascht?

Mertesacker: Komplett. Ich war ja gerade erst Bundesligaspieler geworden. Zudem hatte ich nach dem Abitur parallel zum Fußball mit dem Zivildienst begonnen, ich fühlte mich ganz gut ausgelastet. Die Nationalmannschaft - das war wirklich ganz weit weg.

DFB.de: Sie haben damals Ihren Zivildienst in einem Fachkrankenhaus für geistig Behinderte geleistet. Welche Aufgaben hatten Sie dort?

Mertesacker: Das volle Programm. Ich habe die Patienten betreut, mit allem, was dazugehört. Soweit dies möglich war, habe ich mit ihnen gespielt, aber eigentlich war es mehr ein Beschäftigen. Ich habe für sie gekocht, habe sie gewaschen, habe sie auch auf die Toilette begleitet. Jeder Mitarbeiter war für fünf Patienten zuständig, wir haben Intensivpflege gemacht, und es war eine intensive Zeit. Vor allem war es eine lehrreiche Zeit. Auf mich prasselte damals ja ziemlich viel ein, mit der Bundesliga, dann mit der Nominierung.

DFB.de: Sie haben neben der Bundesliga Intensivpflege betrieben. Wie sehr hat dies an den Kräften gezehrt?

Mertesacker: Es war fordernd. Am Anfang war es auch für mich spannend zu sehen, wie ich damit klarkomme. Die Patienten waren geistig Behinderte, nur einer von ihnen konnte sich halbwegs artikulieren. Es kam nicht selten vor, dass die Patienten unvermittelt schreiend auf mich zugerannt sind. Wenn es Essen gab, kam es hin und wieder zu Aggressionen. Damit muss man erstmal umgehen lernen. Für mich war es eine Schule fürs Leben. Gerade zu Beginn meiner Karriere hat es mir geholfen, ich wurde aus der Welt des Fußballs katapultiert. Ich war dort nicht der Fußballer, ich war Pfleger, für die Erdung war das sehr nützlich. Diese Zeit hat mich geprägt, die Erinnerung daran habe ich mir bis heute bewahrt.



Mit Länderspiel Nummer 104 kam sein größter Erfolg. In Brasilien wurde Per Mertesacker Weltmeister - eine große Karriere wurde gekrönt. Mertesacker trat auf dem Höhepunkt ab, nach dem WM-Finale beendete er seine Laufbahn in der Nationalmannschaft. Zehn Jahre zuvor hatte diese begonnen - unter sehr speziellen Umständen. Im Interview mit DFB.de erinnert sich Mertesacker an seine Premiere. Das Gespräch ist zweiter Teil der Serie: "Mein erstes Länderspiel".

DFB.de: Herr Mertesacker, Ihre Länderspielkarriere begann wie die der meisten Nationalspieler - mit einem Anruf des Bundestrainers. Erinnern Sie sich noch, wie das bei Ihnen konkret gelaufen ist?

Per Mertesacker: Ziemlich genau sogar, wahrscheinlich auch, weil meine Nominierung an einem speziellen Tag erfolgte. Es war der 29. September 2004.

DFB.de: Ihr Geburtstag.

Mertesacker: Richtig. Ich bin damals 20 Jahre alt geworden, und auf einmal hat man den Bundestrainer am Telefon. Jürgen Klinsmann ruft an - ohne mir zum Geburtstag zu gratulieren im Übrigen. Eigentlich ist das ja eine Schande (lacht).

DFB.de: Er hatte andere, gute Nachrichten.

Mertesacker: Er hat gesagt, dass er frischen Wind in die Nationalmannschaft bringen möchte und dass ich dafür genau der richtige Mann wäre. Wobei ich mich nicht mehr an jedes seiner Worte erinnere. Ich weiß nur noch, dass ich ziemlich häufig "Ja" gesagt habe. Aber gratuliert hat er nicht, das weiß ich noch sicher.

DFB.de: Haben Sie ihm dies verübelt?

Mertesacker: Ach Quatsch. Wenn man zum ersten Mal vom Bundestrainer angerufen wird, dann weiß man hinterher ja selber kaum noch, dass man Geburtstag hat.

DFB.de: Wie sehr hat Sie die Nominierung überrascht?

Mertesacker: Komplett. Ich war ja gerade erst Bundesligaspieler geworden. Zudem hatte ich nach dem Abitur parallel zum Fußball mit dem Zivildienst begonnen, ich fühlte mich ganz gut ausgelastet. Die Nationalmannschaft - das war wirklich ganz weit weg.

DFB.de: Sie haben damals Ihren Zivildienst in einem Fachkrankenhaus für geistig Behinderte geleistet. Welche Aufgaben hatten Sie dort?

Mertesacker: Das volle Programm. Ich habe die Patienten betreut, mit allem, was dazugehört. Soweit dies möglich war, habe ich mit ihnen gespielt, aber eigentlich war es mehr ein Beschäftigen. Ich habe für sie gekocht, habe sie gewaschen, habe sie auch auf die Toilette begleitet. Jeder Mitarbeiter war für fünf Patienten zuständig, wir haben Intensivpflege gemacht, und es war eine intensive Zeit. Vor allem war es eine lehrreiche Zeit. Auf mich prasselte damals ja ziemlich viel ein, mit der Bundesliga, dann mit der Nominierung.

DFB.de: Sie haben neben der Bundesliga Intensivpflege betrieben. Wie sehr hat dies an den Kräften gezehrt?

Mertesacker: Es war fordernd. Am Anfang war es auch für mich spannend zu sehen, wie ich damit klarkomme. Die Patienten waren geistig Behinderte, nur einer von ihnen konnte sich halbwegs artikulieren. Es kam nicht selten vor, dass die Patienten unvermittelt schreiend auf mich zugerannt sind. Wenn es Essen gab, kam es hin und wieder zu Aggressionen. Damit muss man erstmal umgehen lernen. Für mich war es eine Schule fürs Leben. Gerade zu Beginn meiner Karriere hat es mir geholfen, ich wurde aus der Welt des Fußballs katapultiert. Ich war dort nicht der Fußballer, ich war Pfleger, für die Erdung war das sehr nützlich. Diese Zeit hat mich geprägt, die Erinnerung daran habe ich mir bis heute bewahrt.

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DFB.de: In eine neue Welt katapultiert wurden Sie auch bei der Nationalmannschaft. Erinnern Sie sich noch an die Minuten und Stunden nach Ihrer Ankunft im Teamhotel in München? Welche ersten Eindrücke hatten Sie im Kreis der DFB-Auswahl?

Mertesacker: Ich hatte Glück, dass Thomas Brdaric mit dabei war. Er hat damals für Wolfsburg gespielt, ich kannte ihn aber aus Hannover. Er war meine Bezugsperson, das hat vieles erleichtert. Ich bin mit ihm gemeinsam zum Essen, zu den Besprechungen, zu allen Terminen. Wobei es damals so war, wie es heute noch ist: Man kann sich in diesem Kreis im Grunde nur wohlfühlen. Die Betreuer sind alle großartig, jeder hilft, wo er kann, alle sind freundlich und kümmern sich. Auch die Mitspieler und Trainer. Das hat mich sofort beeindruckt. Was ich in dieser Hinsicht zehn Jahre lang erlebt habe, war wirklich sensationell.

DFB.de: Aus München ging es in den Iran. Die Ankunft am Flughafen war für alle ein beinahe unbegreifliches Erlebnis. Die Nationalmannschaft wurde von Tausenden von Fans empfangen, die Spieler wurden mit Blumen behangen, es haben sich unbeschreibliche Szenen abgespielt. Wie unwirklich waren diese ersten Eindrücke für Sie?

Mertesacker: Ich war einfach nur überwältigt, und das ging nicht nur mir so. Heute ist mein Bild dieser Minuten diffus. Die Menschenmassen, die Begeisterung, überall Staub, die Hitze, die Schwüle, das Chaos auf den Straßen. Es kamen so viele Menschen auf einen zu, mit einer Herzlichkeit - das war Wahnsinn. Aber es war fast zu viel für mich, es war sehr surreal.

DFB.de: Wie groß war Ihre Hoffnung, gegen den Iran tatsächlich zum Einsatz zu kommen?

Mertesacker: Wenn man dabei ist, will man auch spielen. Aber ich habe es genommen, wie es kommt. Es gab vorher auch kein Gespräch mit Jürgen Klinsmann. Im Spiel hat es sich dann so ergeben, dass ich noch ein paar Minuten mitwirken konnte. Für mich war das natürlich gigantisch.

DFB.de: Mindestens 100.000 Zuschauer waren in Teheran im Stadion, fast ausschließlich Männer. Wie haben Sie die Atmosphäre erlebt?

Mertesacker: Es gab bei diesem Spiel mehrere Besonderheiten. Zum Beispiel die freie Sitzplatzwahl, ruhiger wurde es dadurch nicht. Erstaunlich war auch, wie früh das Stadion voll war. In Europa ist es ja oft so, dass sich die Ränge erst in den letzten Minuten füllen, in Teheran war das Stadion schon Stunden vorher bis auf den letzten Platz besetzt. Als wir zum Warmmachen auf den Platz kamen, war die Stimmung schon so, wie sie sonst während des Spiels ist.

DFB.de: Haben Sie noch detaillierte Erinnerungen an die ersten 81 Minuten des Spiels?

Mertesacker: Nicht an einzelne Szenen. Ich weiß aber noch, dass Fabian Ernst und Thomas Brdaric die Tore gemacht haben. Und ich erinnere mich, dass Ali Karimi damals ohne Ende aufgezogen hat, er hat uns schwindelig gespielt.

DFB.de: Vor Ihrer Einwechslung für Christian Wörns gab es letzte Worte von Jürgen Klinsmann. Haben Sie noch im Ohr, was der Trainer damals gesagt hat?

Mertesacker: Das geht unter. Bei der Lautstärke in diesem Stadion sowieso, aber auch sonst. "Geh' raus", "Mach' Deine Erfahrungen", "Bleib' ruhig", "Spiel' Dein Spiel" - etwas in dieser Richtung wird es gewesen sein.

DFB.de: Wie sehr wünscht man sich gleich eine gelungene, auffallende Aktion? Oder dominiert der Gedanke: bloß keinen Fehler machen?

Mertesacker: Man spielt auf Sicherheit, einfache Bälle. Es geht ja auch darum, sich bei den Teamkollegen Respekt zu verschaffen. Sie müssen die Erfahrung machen, dass sie sich auf dich verlassen können. Man will souverän wirken, der Fokus liegt darauf, Ruhe auszustrahlen.

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DFB.de: Nach neun Minuten war alles vorbei. Jetzt waren Sie deutscher Nationalspieler. Haben Sie sofort realisiert, was das bedeutet?

Mertesacker: Weiß ich nicht, was bedeutet das denn? Aber es ist schon so, dass man nicht übersehen kann, dass das etwas Großes ist. Alle gratulieren einem, die Mitspieler, Trainer, Betreuer, zu Hause sind alle aus dem Häuschen - und das ist ja nicht ohne Grund so.

DFB.de: Gab es 2004 schon die Tradition, dass die Debütanten beim Bankett nach dem Spiel eine Ansprache halten müssen?

Mertesacker: Ja.

DFB.de: Wie herausfordernd war das für Sie?

Mertesacker: Die Situation ist durchaus speziell. Eine andere Hausnummer als ein Referat vor der Klasse.

DFB.de: Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben?

Mertesacker: Ich vermute, dass es nicht sonderlich tiefgründig war. Es ist nicht so, dass man in dieser Situation philosophische Gedanken äußert. Ich habe "Danke" gesagt. Für die gute Aufnahme, für das Vertrauen. Was habe ich noch gesagt? Die Standards: Dass ich mich in dem Kreis sehr wohlfühle. Dass es eine tolle Erfahrung war. Und dass ich gerne wiederkommen würde. So ähnlich halten es ja die meisten Nationalspieler.

DFB.de: Nach Teheran ging es zurück nach Deutschland und damit auch in Ihren Alltag in der Arbeit mit geistig Behinderten. Wurden Sie dort fortan anders behandelt?

Mertesacker: Nein, gar nicht. Die Patienten waren ja auch nicht in der Lage, das einzuordnen. Für mich war das auch sehr gut so.

DFB.de: Warum war das gut?

Mertesacker: Weil sich einiges ändert, wenn man Nationalspieler ist. Vor allem die eigene Erwartungshaltung. Man will die Leistungen bestätigen, will wieder eingeladen werden. Auf einmal war die WM 2006 für mich ein Thema, und das nicht nur als Zuschauer. Die Medien sind neugierig, jeder will etwas wissen. Es sind viele Dinge passiert, die ich nicht kannte. Da tat ein Stück Normalität sehr gut.

DFB.de: Und das haben Sie gefunden - ausgerechnet in einer Anstalt mit Patienten, die von der Norm abweichen.

Mertesacker: Kann man so sagen, ja. Wie gesagt: Ich war dort nicht der Fußballer, nicht der Nationalspieler, ich war Pfleger. Für mich war es eine Sonderbehandlung, dort keine Sonderbehandlung zu erfahren - das war wirklich lehrreich.

DFB.de: Gab es nach dem Spiel ein Feedback durch Jürgen Klinsmann?

Mertesacker: Das wichtigste Feedback war: Er hat mich wieder eingeladen. Und er hat in dieser Zeit ein Treffen mit meinen Eltern vereinbart. Er hat uns als Familie darauf vorbereitet, was auf uns alles einprasseln könnte - auch mit Blick auf die WM 2006. Mir hat das gezeigt, dass er wirklich mit mir plant. Und das war eine schöne Bestätigung.

DFB.de: Ist es im Rückblick für Sie von Bedeutung, dass Ihr erstes Länderspiel ein so spezielles Spiel im Rahmen einer speziellen Reise war?

Mertesacker: Ich finde das schön. Bei den folgenden 103 Länderspielen waren unfassbare Erlebnisse dabei. Ich habe eine Heim-WM erlebt, in Brasilien dann eine WM gewonnen. Aber so speziell und so eindrucksvoll wie mein erstes Länderspiel - das gab es danach nicht wieder.

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