Löws schonungslose WM-Analyse: "Fast schon arrogant"

Bevor Joachim Löw den 23-köpfigen Kader für den Nations-League-Auftakt gegen Weltmeister Frankreich am 6. September (ab 20.45 Uhr, live im ZDF) in München und das Länderspiel gegen Peru am 9. September (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) in Sinsheim bekanntgab, analysierte er das allzu frühe WM-Aus nach der Vorrunde - in einer überaus selbstkritischen, schonungslosen Manier. DFB.de protokolliert die WM-Aufarbeitung des Bundestrainers.

Joachim Löw über...

... die Zeit nach dem WM-Aus: Das war für mich und für uns alle ein absoluter Tiefschlag, da gibt es nichts zu beschönigen. Wir sind bei dem Turnier in Russland weit unter unseren Möglichkeiten geblieben und haben dafür auch die Quittung bekommen. Die ersten drei Tage nach dem Aus waren bei mir geprägt von einem großen Frust, einer großen Niedergeschlagenheit, einer großen Enttäuschung und auch einer großen Portion Wut. Am vierten Tag haben Oliver Bierhoff und ich uns getroffen und ausgetauscht. Am Ende des Tages war für uns beide das Wichtigste, dass wir weiterhin - nach 14 Jahren, nach dieser langen Zeit - die große Motivation, Energie und Kraft haben, um das, was wir in Russland verbockt haben, wieder auf ein gutes Fundament, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen.

... den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Analyseresultate: Wir haben uns ganz bewusst diese Zeit genommen, damit wir uns mit einigen wichtigen Spielern austauschen konnten, nachdem diese aus dem Urlaub zurück waren. Wir haben dann auch das Ende der WM abgewartet, um zu sehen, was die Trends bei dieser WM sind. Wir haben uns alle möglichen Daten und Erkenntnisse der WM-Turniere 2010 und 2014 angeschaut, um das auch vergleichen zu können. Bei der WM 2010 hatten wir mehr auf Konter gesetzt. 2018 sind wir immer mehr eine Mannschaft geworden, die über Ballbesitz, über totale Dominanz ihre Spiele zu gewinnen versucht. Bei allen Daten haben wir festgestellt, dass wir 2014 in der goldenen Mitte lagen.

... die Spielweise der Nationalmannschaft: Generell stand bei der WM die Defensive viel mehr im Vordergrund. Das Konterspiel war wieder viel wichtiger, es wurden viel mehr Tore aus Kontersituationen geschossen. Zudem haben Standards eine viel größere Rolle bei dieser WM gespielt. Auf Strecke gesehen in einer Meisterschaft ist Ballbesitzfußball nach wie vor wichtig. In einem K.o.-Turnier muss man diese Spielweise aber anpassen. Das war meine größte Fehleinschätzung, dass wir mit diesem dominanten Spiel zumindest die Vorrunde überstehen. Das war fast schon arrogant, ich wollte das auf die Spitze treiben und noch weiter perfektionieren. Ich habe die Mannschaft nicht auf eine sichere Spielweise eingestellt. 2014 hingegen gab es eine Balance.

... die Leistungsdaten bei der WM in Russland: Wir haben viel weniger in intensive Läufe und Sprints investiert, wie das noch bei den vergangenen Turnieren der Fall war. Wir haben zwar eine hohe Laufleistung gehabt, aber die hohe Intensität hat gefehlt. Wir haben viel weniger gradlinig gespielt und auch viel langsamer als noch 2010 oder 2014. Wir haben im Passspiel viel zu lange gebraucht, das gab dem Gegner die Möglichkeit, sich zu organisieren.

... die mangelhafte Chancenverwertung: Wir hatten auch große Probleme in der Chancenverwertung. Wir hatten 24 Torabschlüsse pro Spiel, wir haben 30 Schüsse mehr für ein Tor benötigt als 2014, so viele wie noch nie zuvor. Daraus können wir wichtige Erkenntnisse für unsere künftige Spielweise ziehen.

... weitere wichtige Erkenntnisse: Wir müssen unsere Spielweise adaptieren, um wieder flexibler und variabler zu sein. Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man viel Enthusiasmus, das Feuer, das von Runde zu Runde mehr wird. Wir haben es nicht geschafft, neue Schlüsselreize zu setzen. Wir hatten schon eine kleine Flamme, und meine Spieler haben normalerweise Feuer. Es wäre natürlich meine Aufgabe gewesen, das mehr einzufordern. Wenn wir diese Dinge, eine gute Ausgewogenheit, das Feuer und die Leidenschaft wieder entfachen, haben wir ein gutes Fundament.

... die Veränderungen in der Mannschaft: Was die nahe Zukunft betrifft, ist es auch wichtig, dass wir in der Mannschaft Veränderungen vornehmen. Wir müssen nun den richtigen Mix finden zwischen erfahrenen und jungen, dynamischen, hungrigen Spielern. Wir haben wichtige Aufgaben vor uns mit der Nations League, und wir werden die Mannschaft auf diese Herausforderungen vorbereiten. Mit der guten Mischung zwischen Erfahrung und Jugend werden wir dieses "Jetzt erst recht"-Gefühl wieder hinbekommen. Die Mannschaft wird ganz anders auftreten.

... Mesut Özil: Sein Berater hat mich angerufen und informiert, dass Mesut die Erklärung rausgibt und dann auch von der Nationalmannschaft zurücktritt. Normalerweise ruft mich der Spieler an, Mesut hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er hat mich bis heute nicht angerufen. Ich versuche, ihn seit zwei Wochen zu erreichen. Ich muss die Situation nun so akzeptieren, wie sie ist. Ich habe die Situation mit den Fotos ( mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan; Anm. d. Red.) unterschätzt. Dieses Thema war natürlich nervenaufreibend, aber das soll kein Alibi sein. Mesut hat es mit den Vorwürfen zum Rassismus im DFB übertrieben. Ich habe in meiner gesamten Zeit beim DFB nie so etwas festgestellt. Und es hat in unseren Mannschaft nie rassistische Aussagen gegeben.

... die Veränderungen im Betreuerteam: Wir hatten ein sehr großes Team hinter dem Team, nun haben wir entschieden, dass weniger manchmal mehr ist, dass wir kürzere Wege brauchen. Thomas Schneider übernimmt die Leitung der Scoutingabteilung, Urs Siegenthaler wird weiterhin in diesem Bereich tätig sein, bekommt eine eher übergeordnete Rolle.

[dfb]

Bevor Joachim Löw den 23-köpfigen Kader für den Nations-League-Auftakt gegen Weltmeister Frankreich am 6. September (ab 20.45 Uhr, live im ZDF) in München und das Länderspiel gegen Peru am 9. September (ab 20.45 Uhr, live bei RTL) in Sinsheim bekanntgab, analysierte er das allzu frühe WM-Aus nach der Vorrunde - in einer überaus selbstkritischen, schonungslosen Manier. DFB.de protokolliert die WM-Aufarbeitung des Bundestrainers.

Joachim Löw über...

... die Zeit nach dem WM-Aus: Das war für mich und für uns alle ein absoluter Tiefschlag, da gibt es nichts zu beschönigen. Wir sind bei dem Turnier in Russland weit unter unseren Möglichkeiten geblieben und haben dafür auch die Quittung bekommen. Die ersten drei Tage nach dem Aus waren bei mir geprägt von einem großen Frust, einer großen Niedergeschlagenheit, einer großen Enttäuschung und auch einer großen Portion Wut. Am vierten Tag haben Oliver Bierhoff und ich uns getroffen und ausgetauscht. Am Ende des Tages war für uns beide das Wichtigste, dass wir weiterhin - nach 14 Jahren, nach dieser langen Zeit - die große Motivation, Energie und Kraft haben, um das, was wir in Russland verbockt haben, wieder auf ein gutes Fundament, um das Schiff wieder auf Kurs zu bringen.

... den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Analyseresultate: Wir haben uns ganz bewusst diese Zeit genommen, damit wir uns mit einigen wichtigen Spielern austauschen konnten, nachdem diese aus dem Urlaub zurück waren. Wir haben dann auch das Ende der WM abgewartet, um zu sehen, was die Trends bei dieser WM sind. Wir haben uns alle möglichen Daten und Erkenntnisse der WM-Turniere 2010 und 2014 angeschaut, um das auch vergleichen zu können. Bei der WM 2010 hatten wir mehr auf Konter gesetzt. 2018 sind wir immer mehr eine Mannschaft geworden, die über Ballbesitz, über totale Dominanz ihre Spiele zu gewinnen versucht. Bei allen Daten haben wir festgestellt, dass wir 2014 in der goldenen Mitte lagen.

... die Spielweise der Nationalmannschaft: Generell stand bei der WM die Defensive viel mehr im Vordergrund. Das Konterspiel war wieder viel wichtiger, es wurden viel mehr Tore aus Kontersituationen geschossen. Zudem haben Standards eine viel größere Rolle bei dieser WM gespielt. Auf Strecke gesehen in einer Meisterschaft ist Ballbesitzfußball nach wie vor wichtig. In einem K.o.-Turnier muss man diese Spielweise aber anpassen. Das war meine größte Fehleinschätzung, dass wir mit diesem dominanten Spiel zumindest die Vorrunde überstehen. Das war fast schon arrogant, ich wollte das auf die Spitze treiben und noch weiter perfektionieren. Ich habe die Mannschaft nicht auf eine sichere Spielweise eingestellt. 2014 hingegen gab es eine Balance.

... die Leistungsdaten bei der WM in Russland: Wir haben viel weniger in intensive Läufe und Sprints investiert, wie das noch bei den vergangenen Turnieren der Fall war. Wir haben zwar eine hohe Laufleistung gehabt, aber die hohe Intensität hat gefehlt. Wir haben viel weniger gradlinig gespielt und auch viel langsamer als noch 2010 oder 2014. Wir haben im Passspiel viel zu lange gebraucht, das gab dem Gegner die Möglichkeit, sich zu organisieren.

... die mangelhafte Chancenverwertung: Wir hatten auch große Probleme in der Chancenverwertung. Wir hatten 24 Torabschlüsse pro Spiel, wir haben 30 Schüsse mehr für ein Tor benötigt als 2014, so viele wie noch nie zuvor. Daraus können wir wichtige Erkenntnisse für unsere künftige Spielweise ziehen.

... weitere wichtige Erkenntnisse: Wir müssen unsere Spielweise adaptieren, um wieder flexibler und variabler zu sein. Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man viel Enthusiasmus, das Feuer, das von Runde zu Runde mehr wird. Wir haben es nicht geschafft, neue Schlüsselreize zu setzen. Wir hatten schon eine kleine Flamme, und meine Spieler haben normalerweise Feuer. Es wäre natürlich meine Aufgabe gewesen, das mehr einzufordern. Wenn wir diese Dinge, eine gute Ausgewogenheit, das Feuer und die Leidenschaft wieder entfachen, haben wir ein gutes Fundament.

... die Veränderungen in der Mannschaft: Was die nahe Zukunft betrifft, ist es auch wichtig, dass wir in der Mannschaft Veränderungen vornehmen. Wir müssen nun den richtigen Mix finden zwischen erfahrenen und jungen, dynamischen, hungrigen Spielern. Wir haben wichtige Aufgaben vor uns mit der Nations League, und wir werden die Mannschaft auf diese Herausforderungen vorbereiten. Mit der guten Mischung zwischen Erfahrung und Jugend werden wir dieses "Jetzt erst recht"-Gefühl wieder hinbekommen. Die Mannschaft wird ganz anders auftreten.

... Mesut Özil: Sein Berater hat mich angerufen und informiert, dass Mesut die Erklärung rausgibt und dann auch von der Nationalmannschaft zurücktritt. Normalerweise ruft mich der Spieler an, Mesut hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er hat mich bis heute nicht angerufen. Ich versuche, ihn seit zwei Wochen zu erreichen. Ich muss die Situation nun so akzeptieren, wie sie ist. Ich habe die Situation mit den Fotos ( mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan; Anm. d. Red.) unterschätzt. Dieses Thema war natürlich nervenaufreibend, aber das soll kein Alibi sein. Mesut hat es mit den Vorwürfen zum Rassismus im DFB übertrieben. Ich habe in meiner gesamten Zeit beim DFB nie so etwas festgestellt. Und es hat in unseren Mannschaft nie rassistische Aussagen gegeben.

... die Veränderungen im Betreuerteam: Wir hatten ein sehr großes Team hinter dem Team, nun haben wir entschieden, dass weniger manchmal mehr ist, dass wir kürzere Wege brauchen. Thomas Schneider übernimmt die Leitung der Scoutingabteilung, Urs Siegenthaler wird weiterhin in diesem Bereich tätig sein, bekommt eine eher übergeordnete Rolle.

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