Jorginho: "Geduld zahlt sich immer aus"

Jorginho (53) wurde mit Brasilien 1994 Weltmeister, führte die Nationalmannschaft als Kapitän an, spielte für Bayer 04 Leverkusen und Bayern München in der Bundesliga, war bei der WM 2010 Assistent von Nationaltrainer Carlos Dunga und ist aktuell Trainer des brasilianischen Traditionsvereins Vasco da Gama aus Rio de Janeiro. Im DFB.de-Interview mit Tobias Käufer beschreibt er seine Eindrücke von der Weltmeisterschaft in Russland, er erklärt, wie er zu Neymar steht - und warum ihn der Fußball an "Zurück in die Zukunft" erinnert.

DFB.de: Jorginho, die Weltmeisterschaft in Russland ist Geschichte. Weltmeister Deutschland ist wie seine Vorgänger Spanien und Italien bei den vorangegangenen Turnieren überraschend in der Vorrunde gescheitert. Warum ist es für einen amtierenden Weltmeister so schwer, die Form über vier Jahre zu halten?

Jorginho: Wenn du glaubst, du bist der Beste und dich vielleicht nicht mehr 100 Prozent auf diese Spiele konzentrierst, dann ist das ein großes Problem. Das ist menschlich nach so einem großen Erfolg. Hinzu kommt: In vier Jahren verändert sich der Fußball ungemein. Der Fußball von einer WM zur nächsten ist ein anderer. Brasilien hatte dieses Problem auch, wir sind nach dem WM-Sieg 2002 vier Jahre später als großer Favorit in Deutschland im Viertelfinale ausgeschieden. Man muss bei jeder WM zu 100 Prozent auf das Ziel konzentriert und hungrig sein. Wenn eine Mannschaft das nicht ist, kommt es zu diesen Überraschungen.

DFB.de: Brasilien ist im Viertelfinale ausgeschieden, wie bewerten Sie das Abschneiden Ihres Heimatlandes? 

Jorginho: Es ist diesmal eine ganz andere Atmosphäre als nach dem 1:7 gegen Deutschland. Die Brasilianer haben gesehen, dass diese Mannschaft es schaffen wollte, dass sie alles versucht hat. Man hat in den Augen der Spieler den unbedingten Siegeswillen gesehen. Das ist das Verdienst von Trainer Tite, dem es gelungen ist, dass der Rest der Fußballwelt die brasilianische Nationalmannschaft wieder respektiert. Brasilien hat sich erhobenen Hauptes verabschiedet.

DFB.de: Was bedeutet so ein Ausscheiden, sei es nach der Vorrunde oder im Viertelfinale, für einen Trainer?

Jorginho: Wissen Sie, weder Joachim Löw noch Tite brauchen von mir großartige Ratschläge. Sie sind erfahren genug und absolute Fachleute. Aber was ich als Außenstehender sagen kann, ist, dass der DFB mit seiner Vorgehensweise in den vergangenen Jahren großen Erfolg hatte. Der Weltmeister-Titel fiel nicht vom Himmel, sondern kam zustande, weil der Verband Trainer Löw die Zeit gab, sich und die Mannschaft zu entwickeln. Er hat 2004 erst als Co-Trainer und ab 2006 dann als Trainer sehr gute Arbeit geleistet. Aber es brauchte eben auch acht Jahre bis zum Titel. Das sind fast immer Entwicklungsprozesse, die auch mal von Rückschlägen gekennzeichnet sind. Deutschland hat Geduld gehabt und Geduld zahlt sich immer aus. Das wünsche ich mir auch für Brasilien, dass es einmal Kontinuität gibt. Darum finde ich es gut, dass der Vertrag mit Tite verlängert worden ist. Im brasilianischen Vereinsfußball verlierst du drei Spiele als Trainer in Folge und dann bist du weg. Der Nationalmannschaft wird ein Turnier-Aus nicht verziehen, aber diesmal scheint es anders zu sein. Die großen Erfolge gibt es nur mit Geduld, mit einer nachhaltigen Entwicklung.

DFB.de: Und wo sehen Sie die konkreten Ursachen für das frühe deutsche Aus bei der WM in Russland?

Jorginho: Deutschland hat einige sehr wichtige Spieler verloren, die ganz entscheidend für den Titelgewinn 2014 waren. Ich nenne da vor allem Bastian Schweinsteiger, der – nachdem er vom offensiven ins defensive Mittelfeld wechselte – zu einem überragenden Schlüsselspieler wurde. Er hatte einen riesigen Anteil am WM-Erfolg, weil er das deutsche Mittelfeld organisiert hat. Hinzu kommt, dass Deutschland versucht hat, in Russland wie 2014 bei der WM in Brasilien zu spielen. Wenn du so ein System spielst, brauchst du überragende Spieler, die in Topform sind, um gegen die tief und dicht gestaffelten Mannschaften den entscheidenden Pass zu spielen. Man muss aber auch sagen, dass Deutschland nicht wirklich schlecht gespielt hat, aber es hat der letzte Pass, die letzte Konsequenz gefehlt.

DFB.de: Frankreich und Kroatien haben dem WM-Turnier den Stempel aufgedrückt. Was haben sie besser gemacht als die anderen Mannschaften? Welche Spieler haben Sie begeistert?

Jorginho: Ein WM-Turnier ist keine Bundesliga-Saison, keine Premier League oder keine Serie A. Wenn du nur einen Fehler machst, bist du weg. In einer langen Meisterschaft kannst du Fehler ausbügeln, in einem WM-Turnier geht das nicht. Das ist uns 2010 mit Brasilien passiert, als Dunga und ich auf der Bank saßen. Eine schwache Halbzeit und es ist vorbei. So ging es diesmal Brasilien und Deutschland. Frankreich und Kroatien haben das besser gemacht, sie waren mannschaftlich geschlossen, hatten die richtige Mischung aus einer starken Offensive und Defensive, verfügten mit Mbappé oder Modric über überragende Einzelspieler, die den Unterschied ausmachen können. Das Gesamtpaket stimmt und sie spielen den richtigen Fußball zur richtigen Zeit. In vier Jahren kann das schon wieder ganz anders aussehen.



Jorginho (53) wurde mit Brasilien 1994 Weltmeister, führte die Nationalmannschaft als Kapitän an, spielte für Bayer 04 Leverkusen und Bayern München in der Bundesliga, war bei der WM 2010 Assistent von Nationaltrainer Carlos Dunga und ist aktuell Trainer des brasilianischen Traditionsvereins Vasco da Gama aus Rio de Janeiro. Im DFB.de-Interview mit Tobias Käufer beschreibt er seine Eindrücke von der Weltmeisterschaft in Russland, er erklärt, wie er zu Neymar steht - und warum ihn der Fußball an "Zurück in die Zukunft" erinnert.

DFB.de: Jorginho, die Weltmeisterschaft in Russland ist Geschichte. Weltmeister Deutschland ist wie seine Vorgänger Spanien und Italien bei den vorangegangenen Turnieren überraschend in der Vorrunde gescheitert. Warum ist es für einen amtierenden Weltmeister so schwer, die Form über vier Jahre zu halten?

Jorginho: Wenn du glaubst, du bist der Beste und dich vielleicht nicht mehr 100 Prozent auf diese Spiele konzentrierst, dann ist das ein großes Problem. Das ist menschlich nach so einem großen Erfolg. Hinzu kommt: In vier Jahren verändert sich der Fußball ungemein. Der Fußball von einer WM zur nächsten ist ein anderer. Brasilien hatte dieses Problem auch, wir sind nach dem WM-Sieg 2002 vier Jahre später als großer Favorit in Deutschland im Viertelfinale ausgeschieden. Man muss bei jeder WM zu 100 Prozent auf das Ziel konzentriert und hungrig sein. Wenn eine Mannschaft das nicht ist, kommt es zu diesen Überraschungen.

DFB.de: Brasilien ist im Viertelfinale ausgeschieden, wie bewerten Sie das Abschneiden Ihres Heimatlandes? 

Jorginho: Es ist diesmal eine ganz andere Atmosphäre als nach dem 1:7 gegen Deutschland. Die Brasilianer haben gesehen, dass diese Mannschaft es schaffen wollte, dass sie alles versucht hat. Man hat in den Augen der Spieler den unbedingten Siegeswillen gesehen. Das ist das Verdienst von Trainer Tite, dem es gelungen ist, dass der Rest der Fußballwelt die brasilianische Nationalmannschaft wieder respektiert. Brasilien hat sich erhobenen Hauptes verabschiedet.

DFB.de: Was bedeutet so ein Ausscheiden, sei es nach der Vorrunde oder im Viertelfinale, für einen Trainer?

Jorginho: Wissen Sie, weder Joachim Löw noch Tite brauchen von mir großartige Ratschläge. Sie sind erfahren genug und absolute Fachleute. Aber was ich als Außenstehender sagen kann, ist, dass der DFB mit seiner Vorgehensweise in den vergangenen Jahren großen Erfolg hatte. Der Weltmeister-Titel fiel nicht vom Himmel, sondern kam zustande, weil der Verband Trainer Löw die Zeit gab, sich und die Mannschaft zu entwickeln. Er hat 2004 erst als Co-Trainer und ab 2006 dann als Trainer sehr gute Arbeit geleistet. Aber es brauchte eben auch acht Jahre bis zum Titel. Das sind fast immer Entwicklungsprozesse, die auch mal von Rückschlägen gekennzeichnet sind. Deutschland hat Geduld gehabt und Geduld zahlt sich immer aus. Das wünsche ich mir auch für Brasilien, dass es einmal Kontinuität gibt. Darum finde ich es gut, dass der Vertrag mit Tite verlängert worden ist. Im brasilianischen Vereinsfußball verlierst du drei Spiele als Trainer in Folge und dann bist du weg. Der Nationalmannschaft wird ein Turnier-Aus nicht verziehen, aber diesmal scheint es anders zu sein. Die großen Erfolge gibt es nur mit Geduld, mit einer nachhaltigen Entwicklung.

DFB.de: Und wo sehen Sie die konkreten Ursachen für das frühe deutsche Aus bei der WM in Russland?

Jorginho: Deutschland hat einige sehr wichtige Spieler verloren, die ganz entscheidend für den Titelgewinn 2014 waren. Ich nenne da vor allem Bastian Schweinsteiger, der – nachdem er vom offensiven ins defensive Mittelfeld wechselte – zu einem überragenden Schlüsselspieler wurde. Er hatte einen riesigen Anteil am WM-Erfolg, weil er das deutsche Mittelfeld organisiert hat. Hinzu kommt, dass Deutschland versucht hat, in Russland wie 2014 bei der WM in Brasilien zu spielen. Wenn du so ein System spielst, brauchst du überragende Spieler, die in Topform sind, um gegen die tief und dicht gestaffelten Mannschaften den entscheidenden Pass zu spielen. Man muss aber auch sagen, dass Deutschland nicht wirklich schlecht gespielt hat, aber es hat der letzte Pass, die letzte Konsequenz gefehlt.

DFB.de: Frankreich und Kroatien haben dem WM-Turnier den Stempel aufgedrückt. Was haben sie besser gemacht als die anderen Mannschaften? Welche Spieler haben Sie begeistert?

Jorginho: Ein WM-Turnier ist keine Bundesliga-Saison, keine Premier League oder keine Serie A. Wenn du nur einen Fehler machst, bist du weg. In einer langen Meisterschaft kannst du Fehler ausbügeln, in einem WM-Turnier geht das nicht. Das ist uns 2010 mit Brasilien passiert, als Dunga und ich auf der Bank saßen. Eine schwache Halbzeit und es ist vorbei. So ging es diesmal Brasilien und Deutschland. Frankreich und Kroatien haben das besser gemacht, sie waren mannschaftlich geschlossen, hatten die richtige Mischung aus einer starken Offensive und Defensive, verfügten mit Mbappé oder Modric über überragende Einzelspieler, die den Unterschied ausmachen können. Das Gesamtpaket stimmt und sie spielen den richtigen Fußball zur richtigen Zeit. In vier Jahren kann das schon wieder ganz anders aussehen.

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DFB.de: Es gab im Rest der Fußball-Welt Kritik an Brasiliens Stürmer Neymar, dem Theatralik vorgeworfen wurde. Wie bewerten Sie seine Vorstellung in Russland?

Jorginho: Zunächst einmal ist Neymar einer der besten Spieler dieser Welt, das ist ein Fakt. Ich habe großen Respekt vor ihm. Wir haben ihn 2010 noch nicht mit zur WM genommen, weil er mit seinen 18 Jahren noch nicht soweit war. Aber es war schon damals beim FC Santos abzusehen, wohin die Reise ging. Erstklassige Technik, starke Übersicht, gefährlich vor dem Tor. Man hat manchmal den Eindruck, dass er noch nicht endgültig erwachsen ist. Aber er ist kein Teenager, kein Talent mehr. Manchmal wird gesagt, er ist ja noch jung. Nein, er ist 26 Jahre alt, hat selbst einen Sohn. Er ist jetzt ein Mann. Er muss jetzt verantwortlich sein für das, was er tut. Er muss verstehen, dass die ganze Welt zuschaut. Ihm zugutehalten muss man, dass er auch sehr oft gefoult wird. Uruguays Abwehrspieler Diego Lugano hat mal gesagt, dass Neymar noch nicht den gleichen Respekt wie Messi oder Ronaldo genieße, weil er sich anders verhalte. Messi und Ronaldo stehen nach den Fouls meist relativ schnell wieder auf und spielen weiter. Wenn Neymar einen Fehler hat, dann dieses Verhalten auf dem Platz. Jemand aus seinem Umfeld muss ihm das klar sagen. Ich habe keine Angst, das so deutlich auszusprechen.

DFB.de: Welche Trends haben Sie bei diesem WM-Turnier erkennen können?

Jorginho: Viele Mannschaften haben im System 5-4-1 gespielt oder zumindest dicht gestaffelt, und dann wird es schwer, da durchzukommen. Es gab viele Teams, die defensiv orientiert waren. Zu meiner aktiven Zeit hätte man so in Brasilien nicht spielen dürfen, das hätten die Zuschauer dem Trainer nicht verziehen. Die taktische Organisation des Fußballs stand im Vordergrund. Die besten Spieler der Welt, Messi, Ronaldo, Neymar, haben bei dieser WM nicht so überragend gespielt, wie man das hätte erwarten können. Vielleicht fehlte dem Fußball diesmal deswegen etwas der entscheidende Kick.

DFB.de: Nicht wenige Beobachter glauben, dass mit diesem Turnier die Epoche von Messi und Ronaldo bei den Weltmeisterschaften zu Ende geht. Was kommt denn danach?

Jorginho: Ich glaube das nicht. Ronaldo ist körperlich so stark, dass er vielleicht noch eine WM spielen kann. Er ist ein absolutes Vorbild in Professionalität, in Körpersprache, in Lebensgestaltung und in Leistungsbereitschaft. Bei Messi ist es so, dass er sich auch mal von einem Spielgeschehen und der Stimmung beeinflussen und die Schultern hängen lässt. Ich glaube aber, dass beide noch einige starke und erfolgreiche Jahre vor sich haben. In Barcelona hat Messi überragende Mitspieler, in Argentinien aber nur gute. Das ist eine gute Mannschaft, aber eben keine überragende. Portugal hat einige gute junge Spieler, sodass von ihnen noch einiges zu erwarten ist.

DFB.de: Die Bundesliga war immer eine interessante Adresse für brasilianische Profis. Viele haben in Deutschland einen wichtigen Schritt hin zur Weltkarriere gemacht: etwa Jorginho, Dunga, Lúcio oder Zé Roberto. Warum hat es noch kein brasilianischer Trainer in die Bundesliga geschafft und wäre das nicht eine spannende Herausforderung – ein Bundesliga-Trainer Jorginho?

Jorginho: Ich glaube, den deutschen Vereinen fehlt ein wenig das Vertrauen in südamerikanische Trainer. Es hat auch ein paar Jahre gedauert, bis sich die brasilianischen Spieler in der Bundesliga durchgesetzt haben. Die Verpflichtung Titas 1987 von Bayer 04 Leverkusen war wegweisend. Er hat ja gleich den UEFA-Pokal gewonnen und dann ging es los mit den brasilianischen Spielern in der Bundesliga. Hinzu kommt: Unserer Trainergeneration hat das 1:7 vor vier Jahren nicht wirklich geholfen, viele haben gesagt, der brasilianische Fußball sei nicht gut organisiert. Ich wäre aber fast auf einer Bundesliga-Trainerbank gelandet. Mein Freund Dunga hatte einige Vorgespräche mit Stuttgart, aber ich habe ihm gesagt, ich bin jetzt selbst Cheftrainer und werde nicht mehr als Co-Trainer arbeiten. Vielleicht klappt es irgendwann. Mich würde das sehr reizen. Das fehlt noch in meiner Karriere.

DFB.de: Welche Veränderungen erwarten Sie in den nächsten Jahren, wie wird der Fußball der Zukunft aussehen?

Jorginho: Ich habe manchmal den Eindruck, der Fußball ist wie der Film "Zurück in die Zukunft". Es gibt immer Entwicklungen, die schon einmal da waren und dann wieder neu, in leicht veränderter taktischer Form auftauchen. Du kannst, wie Island das getan hat, den Fußball super organisieren, aber wenn dir ein überragender Spieler fehlt, mit starker Technik, dann wird man eben doch keinen Erfolg haben. Bayern München, FC Chelsea, Manchester City, Barcelona, Real Madrid sind deswegen erfolgreich, weil sie die besten Spieler haben und nicht, weil sie das beste System haben. Am Ende kommt es dann eben doch auf die Qualität der Spieler an. Organisieren ist wichtig, aber der Trainer muss die Spieler verstehen, das ist das Allerwichtigste. Er muss motivieren, für eine gute Atmosphäre sorgen, gutes Training.

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