Heute vor 80 Jahren: das "Wunder von Neapel"

[bild1]

Heute vor 80 Jahren erreichte Deutschland bei seiner ersten WM-Teilnahme auf Anhieb den dritten Platz. Das 3:2 gegen Österreich ging als "Wunder von Neapel" in die Annalen ein. Historiker Udo Muras blickt zurück auf die deutsche WM-Premiere.

Am Tag des WM-Finales standen sie auch auf dem Feld, in Trikots und Fußballschuhen. Und einer hielt die Hakenkreuzfahne. Doch antreten durften sie nicht, damals in Rom. Vor 80 Jahren war die deutsche Fußballnationalmannschaft nur Staffage und musste, so wollte es das Protokoll, der Siegerehrung durch Italiens Diktator Benito Mussolini beiwohnen. Denn auch der Dritte der WM 1934 wurde geehrt und für Fußball-Deutschland war es ja irgendwie auch ein Sieg. Der kicker jubilierte nach der ersten WM-Teilnahme über "Deutschlands Sprung in die Weltklasse" und in internationalen Gazetten war vom "Weltmeister der Amateure" die Rede.

Amateure waren sie wirklich unter all den Profis, die schon bei der zweiten FIFA-Weltmeisterschaft in der Überzahl gewesen waren. In Deutschland durfte mit Fußball aber noch kein Geld verdient werden, das änderte sich auch nicht im Nationalsozialismus. Und so kann der dritte Platz bei der WM 1934 mit der jüngsten Mannschaft, die der DFB jemals auf ein Turnier geschickt hat – 24 Jahre im Schnitt – als ein großer Erfolg gewertet werden, der etwas zu Unrecht verblasst angesichts der drei Titelgewinne und vier zweiten Plätzen, die folgen sollten.

Schnitt 5,82 Länderspiele

Der Mannschaft von Reichstrainer Otto Nerz hatte kaum jemand etwas zugetraut, es fehlte allen an Erfahrung. Im Schnitt kamen die 18 jungen Männer, die Ende Mai in einem nagelneuen Mercedes-Omnibus von Singen am Bodensee über den Brenner fuhren, auf 5,82 Länderspiele. Vier blieben auf Abruf zuhause.

Otto Nerz ging hohes Risiko und sortierte in aufwändigen Tests im Frühjahr noch 20 Spieler aus, darunter manch großer Name wie der des Dresdeners Richard Hofmann oder Schalkes Ernst Kuzorra. Nerz wollte das in England populäre WM-System mit fünf Stürmern einüben – und das schien ihm mit jungen Leuten leichter zu gehen.

Die Fachleute blieben pessimistisch und die Qualifikation war kein Gradmesser. Es war die leichteste aller Zeiten, ein 9:1 gegen Luxemburg reichte, um dabei zu sein. Dabei sein war für die deutschen Spieler schon fast alles. Ihre Erfahrungsberichte lesen sich wie Briefe von Pennälern auf Klassenfahrt an die Eltern. Mit großen Augen bestaunten sie die herrliche Natur, die meisten waren zum ersten Mal im Ausland. "Das war es aber, was uns den Süden am allergreifbarsten machte, dass wir eigenhändig goldene Orangen und brennendgelbe Zitronen von den Bäumen pflücken konnten", schwärmte Augsburgs Ernst Lehner, durch Rom seien sie "vergnügt wie amerikanische Touristen auf Europa-Trip" spaziert.

Nur ein Glas Orangensaft, Weckdienst mit der Trillerpfeife

Fußball wurde aber auch gespielt und die Vorbereitung auf die Spiele war nicht so vergnüglich. Otto Nerz hatte heute seltsam anmutende Vorstellungen von den Bedürfnissen eines Leistungssportlers. Er gestattete den Spielern auch bei Temperaturen bis zu 35 Grad am Tag nur ein Glas Orangensaft, bis Kapitän Fritz Szepan ein zweites aushandelte. In der Halbzeit gab es nur warme Milch und Zitronen. Auch sonst waltete Strenge und Drill; Nerz weckte das Team im Hotel Mira Lago am Comersee morgens mit der Trillerpfeife. Presse hatte keinen Zutritt und den Aufenthaltsort durften die Spieler nicht mal ihren Ehefrauen mitteilen. Ob seiner Methoden war Nerz mit Assistent Sepp Herberger in Streit geraten und so hatte dieser zuhause bleiben müssen.

Die Spieler bekamen nur fünf Reichsmark am Tag Spesen und als Sigmund Haringer vom FC Bayern in Rom auf dem Bahnsteig eine Apfelsine aß, kam es zum Krach mit Nerz. Dass er deshalb heim geschickt worden sei, wie oft zu lesen ist, stimmt nicht. Haringer bestand selbst darauf, weil er sich krank fühlte und mit Fieber hatte spielen müssen. Darüber kam es zum Streit, denn der Reichssportführer hatte "gemeinsame Rückfahrt" befohlen. Haringer scherte es nicht, war doch schon ein Spieler auf eigene Faust abgereist. Der Frankfurter Rudi Gramlich, ein Lederwaren-Kaufmann, folgte einem Hilferuf seines jüdischen Arbeitgebers. Den hatten staatliche Repressalien in Schwierigkeiten gebracht, weshalb er seinen Angestellten telegrafisch aufforderte: "Sofort heimkommen! Brauchen Sie dringend geschäftlich!" Dunkle Vorboten.

Nachnominierung per Telegraf

Nerz fiel aus allen Wolken, auch dank Gramlichs Vorlagen war das DFB-Team gerade ins Halbfinale eingezogen. Dem nur dem Ergebnis nach lockeren 5:2 in Florenz bei der WM-Premiere gegen Belgien war ein besseres 2:1 im Mailänder Dauerregen über die Schweden gefolgt – und nun musste er umstellen. Was tun? Eiligst wurde der Aachener Reinhold Münzenberg telegrafisch nachnominiert, doch der wollte heiraten, das Aufgebot war schon bestellt. Er verschob die Hochzeit, aber bis zum Halbfinale gegen die Tschechen schaffte er es nicht rechtzeitig.

Er hätte auch nichts bewirken können, denn dieser Tag stand im Zeichen der Torhüter. Während der tschechische Wundermann Planicka alles hielt, erwischte der Dresdener Willibald Kreß einen rabenschwarzen Tag. Der kicker zeterte: "Kreß hat uns dieses Spiel verloren. Dieser Satz liest sich ohne Zweifel hart, aber wir haben gar keine Möglichkeit, irgendeinen Grund für Milde zu finden." Angeblich hatte er Liebeskummer, eine "italienische Gräfin" habe ihm den Kopf verdreht, plauderte Torjäger Edmund Conen später aus.

Ausfallgrund Liebeskummer

Kreß wollte auch gar nicht spielen und bat Szepan, es Nerz auszurichten. Der stimmte zu, musste aber die Aufstellung noch von der Delegationsleitung genehmigen lassen – heute undenkbar – und wurde von DFB-Präsident Felix Linnemann abgefertigt mit den Worten: "Kennen Sie nicht den Spruch 'never change a winning team'?".

Das bis dahin siegreiche Team unterlag aufgrund ihres konfusen Torwarts in Rom prompt mit 1:3 und bekam dennoch gute Kritiken. Schier überschwänglich wurden sie gar nach dem 3:2 über Österreich im Spiel um Platz drei, das als "Wunder von Neapel" in die Annalen einging. Es fand heute vor exakt 80 Jahren statt.

Das Wunder bestand darin, dass die Österreicher jener Epoche eine Profi-Truppe waren und zuletzt 6:0 und 5:0 gegen Deutschland gewonnen hatten. Am 7. Juni 1934 stießen sie an ihre Grenzen und die Heimat jubelte mit – noch am "Volksempfänger", der in jenem Sommer in Mode gekommen war. Wegen der großen Hitze wurde die Partie auf den frühen Abend verlegt (17.30 Uhr) und das lohnte sich. Zumindest in der ersten Hälfte sahen die nur 8000 Zuschauer im Schatten des Vesuv ein hochklassiges Spiel.

Führung nach 24 Sekunden

Es begann mit einem Rekord: Ernst Lehners 1:0 nach nur 24 Sekunden war der bis dahin schnellste WM-Treffer. Er wurde auch von falscher Seite bejubelt, manche Zuschauer hielten die Deutschen für die Österreicher, die sonst auch in Schwarz-Weiß spielten und per Los zum Trikotwechsel gezwungen worden waren. So bestritten sie in hellblauen Hemden des örtlichen SSC Neapel ein WM-Spiel.

Die Deutschen, bei denen nun auch der verhinderte Bräutigam Münzenberg als Mittelläufer mitwirkte, waren schlichtweg euphorisiert durch diesen Start. "Diese Überrumpelung dürfte der entscheidende Moment des ganzen Spiels gewesen sein", stand im Fachblatt Fußball, "denn wer weiß, ob unsere Spieler sonst in den folgenden 89 Minuten dieses unerhörte Selbstvertrauen aufgebracht hätten!" Überragender Spieler auf dem Platz war der Schalker Fritz Szepan, dem "die italienischen Zuschauer auf offener Szene Beifall klatschten". Für Tore war bei der deutschen WM-Premiere aber ein 19-Jähriger zuständig. Edmund Conens 2:0 in der 28.Minute war bereits sein viertes Turnier-Tor, das so ausgiebig gefeiert wurde, dass Österreich schon im Gegenzug durch Horvath verkürzte.

[bild2]

Deutschland sah aus wie Österreich - und spielt auch so

Auf der Tribüne herrschte immer noch Verwirrung wegen der Trikotfarben. Deutschland sah nicht nur aus wie Österreich, es spielte auch so wie das "Wunderteam". Der Fußball-Reporter berichtete: "Hinter uns sitzen einige Ausländer, die nach einer halben Stunde verwundert fragen, ob denn die Schwarz-Weißen nicht die Österreicher seien", auch weil sie den blonden Szepan für den genialen Matthias Sindelar hielten.

Doch an diesem Tag zog Deutschland an Österreich vorbei, nach Neapel ging die DFB-Elf nie mehr als Außenseiter ins Nachbarschaftsduell. In der 42. Minute schoss der Augsburger Ernst Lehner, obwohl Rechtsaußen, mit dem schwachen linken Fuß aus zehn Metern das 3:1. Gegenspieler Karl Sesta, nach dem "Anschluss" 1938 selbst deutscher Nationalspieler, verlor die Nerven und foulte Lehner bei nächster Gelegenheit rüde. Der Schiedsrichter ließ es ungeahndet, bezeichnend für die Leistungen seiner Zunft bei der ersten WM.

Die 2. Halbzeit: "Alles atmet erleichtert auf, als Lehner dabei ist, allerdings mit stark bandagierter Hand", schrieb der Fußball. Das Spiel litt zunehmend unter dem Schiedsrichter aus Italien, der "grundfalsche Abseitsentscheidungen" fällte, angeblich wusste er nicht, "dass die Ballabgabe, nicht die Ballannahme entscheidend ist."

Fouls prägten die zweite Hälfte, "das Spiel sinkt sportlich von Stufe zu Stufe", Höhepunkte waren nun rar. Als Sesta aus 25 Metern auf 3:2 verkürzte (55.), bangten die deutschen Schlachtenbummler um den doch so verdienten Sieg. Denn die Profis aus Wien wollten die Blamage, die es für sie war, mit aller Macht verhindern. Horvath traf noch den Pfosten, Sesta köpfte aus zwei Metern übers Tor. Der Rest war eine Beute von Torwart-Hüne Hans Jakob aus Regensburg, der nun endlich Kreß ablösen durfte und den umjubelten Sieg festhielt. Bestnoten vergab Friedebert Becker im Fußball an Lehner und Szepan, "die das Spiel ihres Lebens machten."

19 Freunde, die zusammenhielten

In seinem Fazit schrieb Becker den Erfolg der Kameradschaft zu. "Sie machte aus 19 Spielern aller deutschen Stämme 19 Freunde, die zusammenhielten." Der Völkische Beobachter fand seine eigene Deutung der Ereignisse: "Ein Erfolg, der in erster Linie dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen Lebensgefühl der Bereitschaft und des Kampfes zuzuschreiben ist."

Tatsächlich brachte der Nationalsozialismus seinen ballspielenden Vertretern in Italien vor allem Antipathien ein, in allen vier vor stets erschreckend leeren Rängen ausgetragenen Partien wurden die Gegner mehr angefeuert. "Italiens Bevölkerung schien uns Deutschen wenig Sympathien entgegenzubringen", notierte Lehner. Die Heimat störte das nicht, bei der Rückkehr wurden die Helden – in Maßen, und jeder für sich – gefeiert. Lehner, als Arbeitsloser nach Italien gefahren, erhielt prompt eine Anstellung bei der Stadt Augsburg. Und der deutsche Fußball ungeheuren Auftrieb. Der Fußball übertrieb nicht mit seiner Schlagzeile: "Von ihnen spricht die Welt."

[um]

[bild1]

Heute vor 80 Jahren erreichte Deutschland bei seiner ersten WM-Teilnahme auf Anhieb den dritten Platz. Das 3:2 gegen Österreich ging als "Wunder von Neapel" in die Annalen ein. Historiker Udo Muras blickt zurück auf die deutsche WM-Premiere.

Am Tag des WM-Finales standen sie auch auf dem Feld, in Trikots und Fußballschuhen. Und einer hielt die Hakenkreuzfahne. Doch antreten durften sie nicht, damals in Rom. Vor 80 Jahren war die deutsche Fußballnationalmannschaft nur Staffage und musste, so wollte es das Protokoll, der Siegerehrung durch Italiens Diktator Benito Mussolini beiwohnen. Denn auch der Dritte der WM 1934 wurde geehrt und für Fußball-Deutschland war es ja irgendwie auch ein Sieg. Der kicker jubilierte nach der ersten WM-Teilnahme über "Deutschlands Sprung in die Weltklasse" und in internationalen Gazetten war vom "Weltmeister der Amateure" die Rede.

Amateure waren sie wirklich unter all den Profis, die schon bei der zweiten FIFA-Weltmeisterschaft in der Überzahl gewesen waren. In Deutschland durfte mit Fußball aber noch kein Geld verdient werden, das änderte sich auch nicht im Nationalsozialismus. Und so kann der dritte Platz bei der WM 1934 mit der jüngsten Mannschaft, die der DFB jemals auf ein Turnier geschickt hat – 24 Jahre im Schnitt – als ein großer Erfolg gewertet werden, der etwas zu Unrecht verblasst angesichts der drei Titelgewinne und vier zweiten Plätzen, die folgen sollten.

Schnitt 5,82 Länderspiele

Der Mannschaft von Reichstrainer Otto Nerz hatte kaum jemand etwas zugetraut, es fehlte allen an Erfahrung. Im Schnitt kamen die 18 jungen Männer, die Ende Mai in einem nagelneuen Mercedes-Omnibus von Singen am Bodensee über den Brenner fuhren, auf 5,82 Länderspiele. Vier blieben auf Abruf zuhause.

Otto Nerz ging hohes Risiko und sortierte in aufwändigen Tests im Frühjahr noch 20 Spieler aus, darunter manch großer Name wie der des Dresdeners Richard Hofmann oder Schalkes Ernst Kuzorra. Nerz wollte das in England populäre WM-System mit fünf Stürmern einüben – und das schien ihm mit jungen Leuten leichter zu gehen.

Die Fachleute blieben pessimistisch und die Qualifikation war kein Gradmesser. Es war die leichteste aller Zeiten, ein 9:1 gegen Luxemburg reichte, um dabei zu sein. Dabei sein war für die deutschen Spieler schon fast alles. Ihre Erfahrungsberichte lesen sich wie Briefe von Pennälern auf Klassenfahrt an die Eltern. Mit großen Augen bestaunten sie die herrliche Natur, die meisten waren zum ersten Mal im Ausland. "Das war es aber, was uns den Süden am allergreifbarsten machte, dass wir eigenhändig goldene Orangen und brennendgelbe Zitronen von den Bäumen pflücken konnten", schwärmte Augsburgs Ernst Lehner, durch Rom seien sie "vergnügt wie amerikanische Touristen auf Europa-Trip" spaziert.

Nur ein Glas Orangensaft, Weckdienst mit der Trillerpfeife

Fußball wurde aber auch gespielt und die Vorbereitung auf die Spiele war nicht so vergnüglich. Otto Nerz hatte heute seltsam anmutende Vorstellungen von den Bedürfnissen eines Leistungssportlers. Er gestattete den Spielern auch bei Temperaturen bis zu 35 Grad am Tag nur ein Glas Orangensaft, bis Kapitän Fritz Szepan ein zweites aushandelte. In der Halbzeit gab es nur warme Milch und Zitronen. Auch sonst waltete Strenge und Drill; Nerz weckte das Team im Hotel Mira Lago am Comersee morgens mit der Trillerpfeife. Presse hatte keinen Zutritt und den Aufenthaltsort durften die Spieler nicht mal ihren Ehefrauen mitteilen. Ob seiner Methoden war Nerz mit Assistent Sepp Herberger in Streit geraten und so hatte dieser zuhause bleiben müssen.

Die Spieler bekamen nur fünf Reichsmark am Tag Spesen und als Sigmund Haringer vom FC Bayern in Rom auf dem Bahnsteig eine Apfelsine aß, kam es zum Krach mit Nerz. Dass er deshalb heim geschickt worden sei, wie oft zu lesen ist, stimmt nicht. Haringer bestand selbst darauf, weil er sich krank fühlte und mit Fieber hatte spielen müssen. Darüber kam es zum Streit, denn der Reichssportführer hatte "gemeinsame Rückfahrt" befohlen. Haringer scherte es nicht, war doch schon ein Spieler auf eigene Faust abgereist. Der Frankfurter Rudi Gramlich, ein Lederwaren-Kaufmann, folgte einem Hilferuf seines jüdischen Arbeitgebers. Den hatten staatliche Repressalien in Schwierigkeiten gebracht, weshalb er seinen Angestellten telegrafisch aufforderte: "Sofort heimkommen! Brauchen Sie dringend geschäftlich!" Dunkle Vorboten.

Nachnominierung per Telegraf

Nerz fiel aus allen Wolken, auch dank Gramlichs Vorlagen war das DFB-Team gerade ins Halbfinale eingezogen. Dem nur dem Ergebnis nach lockeren 5:2 in Florenz bei der WM-Premiere gegen Belgien war ein besseres 2:1 im Mailänder Dauerregen über die Schweden gefolgt – und nun musste er umstellen. Was tun? Eiligst wurde der Aachener Reinhold Münzenberg telegrafisch nachnominiert, doch der wollte heiraten, das Aufgebot war schon bestellt. Er verschob die Hochzeit, aber bis zum Halbfinale gegen die Tschechen schaffte er es nicht rechtzeitig.

Er hätte auch nichts bewirken können, denn dieser Tag stand im Zeichen der Torhüter. Während der tschechische Wundermann Planicka alles hielt, erwischte der Dresdener Willibald Kreß einen rabenschwarzen Tag. Der kicker zeterte: "Kreß hat uns dieses Spiel verloren. Dieser Satz liest sich ohne Zweifel hart, aber wir haben gar keine Möglichkeit, irgendeinen Grund für Milde zu finden." Angeblich hatte er Liebeskummer, eine "italienische Gräfin" habe ihm den Kopf verdreht, plauderte Torjäger Edmund Conen später aus.

Ausfallgrund Liebeskummer

Kreß wollte auch gar nicht spielen und bat Szepan, es Nerz auszurichten. Der stimmte zu, musste aber die Aufstellung noch von der Delegationsleitung genehmigen lassen – heute undenkbar – und wurde von DFB-Präsident Felix Linnemann abgefertigt mit den Worten: "Kennen Sie nicht den Spruch 'never change a winning team'?".

Das bis dahin siegreiche Team unterlag aufgrund ihres konfusen Torwarts in Rom prompt mit 1:3 und bekam dennoch gute Kritiken. Schier überschwänglich wurden sie gar nach dem 3:2 über Österreich im Spiel um Platz drei, das als "Wunder von Neapel" in die Annalen einging. Es fand heute vor exakt 80 Jahren statt.

Das Wunder bestand darin, dass die Österreicher jener Epoche eine Profi-Truppe waren und zuletzt 6:0 und 5:0 gegen Deutschland gewonnen hatten. Am 7. Juni 1934 stießen sie an ihre Grenzen und die Heimat jubelte mit – noch am "Volksempfänger", der in jenem Sommer in Mode gekommen war. Wegen der großen Hitze wurde die Partie auf den frühen Abend verlegt (17.30 Uhr) und das lohnte sich. Zumindest in der ersten Hälfte sahen die nur 8000 Zuschauer im Schatten des Vesuv ein hochklassiges Spiel.

Führung nach 24 Sekunden

Es begann mit einem Rekord: Ernst Lehners 1:0 nach nur 24 Sekunden war der bis dahin schnellste WM-Treffer. Er wurde auch von falscher Seite bejubelt, manche Zuschauer hielten die Deutschen für die Österreicher, die sonst auch in Schwarz-Weiß spielten und per Los zum Trikotwechsel gezwungen worden waren. So bestritten sie in hellblauen Hemden des örtlichen SSC Neapel ein WM-Spiel.

Die Deutschen, bei denen nun auch der verhinderte Bräutigam Münzenberg als Mittelläufer mitwirkte, waren schlichtweg euphorisiert durch diesen Start. "Diese Überrumpelung dürfte der entscheidende Moment des ganzen Spiels gewesen sein", stand im Fachblatt Fußball, "denn wer weiß, ob unsere Spieler sonst in den folgenden 89 Minuten dieses unerhörte Selbstvertrauen aufgebracht hätten!" Überragender Spieler auf dem Platz war der Schalker Fritz Szepan, dem "die italienischen Zuschauer auf offener Szene Beifall klatschten". Für Tore war bei der deutschen WM-Premiere aber ein 19-Jähriger zuständig. Edmund Conens 2:0 in der 28.Minute war bereits sein viertes Turnier-Tor, das so ausgiebig gefeiert wurde, dass Österreich schon im Gegenzug durch Horvath verkürzte.

[bild2]

Deutschland sah aus wie Österreich - und spielt auch so

Auf der Tribüne herrschte immer noch Verwirrung wegen der Trikotfarben. Deutschland sah nicht nur aus wie Österreich, es spielte auch so wie das "Wunderteam". Der Fußball-Reporter berichtete: "Hinter uns sitzen einige Ausländer, die nach einer halben Stunde verwundert fragen, ob denn die Schwarz-Weißen nicht die Österreicher seien", auch weil sie den blonden Szepan für den genialen Matthias Sindelar hielten.

Doch an diesem Tag zog Deutschland an Österreich vorbei, nach Neapel ging die DFB-Elf nie mehr als Außenseiter ins Nachbarschaftsduell. In der 42. Minute schoss der Augsburger Ernst Lehner, obwohl Rechtsaußen, mit dem schwachen linken Fuß aus zehn Metern das 3:1. Gegenspieler Karl Sesta, nach dem "Anschluss" 1938 selbst deutscher Nationalspieler, verlor die Nerven und foulte Lehner bei nächster Gelegenheit rüde. Der Schiedsrichter ließ es ungeahndet, bezeichnend für die Leistungen seiner Zunft bei der ersten WM.

Die 2. Halbzeit: "Alles atmet erleichtert auf, als Lehner dabei ist, allerdings mit stark bandagierter Hand", schrieb der Fußball. Das Spiel litt zunehmend unter dem Schiedsrichter aus Italien, der "grundfalsche Abseitsentscheidungen" fällte, angeblich wusste er nicht, "dass die Ballabgabe, nicht die Ballannahme entscheidend ist."

Fouls prägten die zweite Hälfte, "das Spiel sinkt sportlich von Stufe zu Stufe", Höhepunkte waren nun rar. Als Sesta aus 25 Metern auf 3:2 verkürzte (55.), bangten die deutschen Schlachtenbummler um den doch so verdienten Sieg. Denn die Profis aus Wien wollten die Blamage, die es für sie war, mit aller Macht verhindern. Horvath traf noch den Pfosten, Sesta köpfte aus zwei Metern übers Tor. Der Rest war eine Beute von Torwart-Hüne Hans Jakob aus Regensburg, der nun endlich Kreß ablösen durfte und den umjubelten Sieg festhielt. Bestnoten vergab Friedebert Becker im Fußball an Lehner und Szepan, "die das Spiel ihres Lebens machten."

19 Freunde, die zusammenhielten

In seinem Fazit schrieb Becker den Erfolg der Kameradschaft zu. "Sie machte aus 19 Spielern aller deutschen Stämme 19 Freunde, die zusammenhielten." Der Völkische Beobachter fand seine eigene Deutung der Ereignisse: "Ein Erfolg, der in erster Linie dem durch den Nationalsozialismus geschaffenen Lebensgefühl der Bereitschaft und des Kampfes zuzuschreiben ist."

Tatsächlich brachte der Nationalsozialismus seinen ballspielenden Vertretern in Italien vor allem Antipathien ein, in allen vier vor stets erschreckend leeren Rängen ausgetragenen Partien wurden die Gegner mehr angefeuert. "Italiens Bevölkerung schien uns Deutschen wenig Sympathien entgegenzubringen", notierte Lehner. Die Heimat störte das nicht, bei der Rückkehr wurden die Helden – in Maßen, und jeder für sich – gefeiert. Lehner, als Arbeitsloser nach Italien gefahren, erhielt prompt eine Anstellung bei der Stadt Augsburg. Und der deutsche Fußball ungeheuren Auftrieb. Der Fußball übertrieb nicht mit seiner Schlagzeile: "Von ihnen spricht die Welt."