Gumbrecht: "Die Faszination des Fußballs ist nicht das Ergebnis"

Thomas Tuchel und der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht redeten 90 Minuten über Fußball und nichts als Fußball. Aber eben so ganz anders, als man es in Deutschland kennt. Es war der Auftakt zur neuen Talkreihe SPIELKULTUR der DFB-Kulturstiftung. Die Moderation hatte Christoph Biermann, Redakteur bei 11Freunde und selbst Autor von zwei Fußballbüchern des Jahres. In zwei Halbzeiten präsentieren wir Ihnen nun also noch einmal das (fast) komplette Gespräch aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund am vergangenen Sonntag.

Vorstellung der neuen Talkreihe "Spielkultur"

Christoph Biermann: Ich begrüße Sie recht herzlich und gestehe gleich, ich bin ein wenig nervös. Wir machen heute etwas Neues. Wir feiern heute Premiere einer Veranstaltungsreihe, die "Spielkultur" heißt. Ich begrüße Sie im Namen der DFB-Kulturstiftung. Der eine oder andere von ihnen denkt jetzt vielleicht: Wat soll dat denn sein? Der DFB ist der einzige Fußballverband der Welt, der es sich leistet, Kulturprojekte zu unterstützen. Theaterstücke, Buchprojekte oder das Fußballfilmfestival "11mm" gehören zum Förderkatalog der Stiftung. Irgendwann tauchte die Idee auf, wir als DFB-Kulturstiftung könnten auch selbst eine Veranstaltung auf die Beine stellen und dann sind wir dem verrückten Gedanken gefolgt, dass das Fußballspiel selbst auch Kultur ist. Schließlich reden wir über Spielkultur. Diesen Begriff wollten wir ernst nehmen. Das war der Ausgangspunkt.

Vorstellung der Gäste: Hans Ulrich Gumbrecht und Thomas Tuchel

Biermann: Wir haben heute Abend hier im Fußballmuseum zwei Gäste. Der eine heißt Hans Ulrich Gumbrecht. Er lebt in Kalifornien und hat an der University of Stanford einen Lehrstuhl für Komparatistik. Aber eigentlich ist er ein freischweifender Intellektueller, der lehrt, der publiziert, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch populär in Zeitungen und Zeitschriften. Und er ist nicht nur ein Sportfan, sondern sogar Anhänger von Borussia Dortmund. All the way from San Francisco. Herzlich willkommen, Sepp Gumbrecht. Der zweite Gast, das muss man sich kurz vergegenwärtigen, ist gerade in seinem 17. Arbeitsjahr als Fußballtrainer. Er stammt aus Krumbach im schwäbischen Allgäu. Er war Jugendtrainer beim VfB Stuttgart, beim FC Augsburg und Mainz 05. Dort wurde er 2009 Deutscher A-Jugend-Meister. Im Jahr darauf wurde er Cheftrainer und blieb es bis 2014. Es war die sportlich erfolgreichste Zeit des Klubs. 2015 kam er zum BVB, wurde in der letzten Saison bester Zweiter aller Zeiten und ich freue mich sehr, dass er heute bei uns ist. Herzlich willkommen, Thomas Tuchel.

Die interessenlose Erfahrung und das Heischen um Konsensus

Biermann: Ich habe Ihnen gesagt, dass wir mit einem Theoretiker und einem Praktiker des Fußballs näher an den Fußball rücken wollen. Was wir nicht abfragen wollen, ist: Was war in Darmstadt los, was wird mit Götze, wohin wechselt Auba oder nicht? Diese Fragen werden wir heute nicht diskutieren. Stattdessen schlagen wir heute einen anderen Weg ein. Die erste Frage geht an Sepp Gumbrecht. Du hast geschrieben "Fußball ist eine Art von ästhetischer Erfahrung". Wo liegt der Unterschied zwischen der ästhetischen Erfahrung, ein Fußballspiel anzuschauen oder einen Roman zu lesen?

Hans Ulrich Gumbrecht: Beider Erfahrungen sind strukturell fast identisch. Die klassische Definition einer ästhetischen Erfahrung stammt von Kant. Sie hat drei Elemente. Erstens: Es sei eine interessenlose Erfahrung. Kant meint damit, dass diese ästhetische Erfahrung abgekoppelt ist von allen Alltagsinteressen. Zweitens: Es ist eine Erfahrung, bei der man beständig Urteile fällt. Für diese Urteile gibt es aber weder qualitative noch quantitative Kriterien. Wer will sagen, ob ein Spiel wie das 8:4 gegen Legia Warschau ein besseres Spiel als etwa ein 2:1 ist? Und drittens: Wenn wir erkennen, dass wir mit einem Gesprächspartner bei unserem ästhetischen Urteil nicht überein liegen, erheischen wir Konsensus. Das sind die drei klassischen Kriterien der ästhetischen Erfahrung, und die, das war für mich vor ein paar Jahren eine Entdeckung, treffen absolut zu auf das Anschauen eines Fußballspiels. Ich möchte die These noch verschärfen. Deswegen letztlich gehen die Leute ins Stadion. Die Faszination ist nicht das Ergebnis, sondern die ästhetische Erfahrung.

Biermann: Herr Tuchel, wenn Sie mit Ihrer Mannschaft arbeiten, ist für Sie das Schöne wichtig oder ist das Schöne nur ein Abfallprodukt der errungenen Punkte?

Thomas Tuchel: Ich glaube sogar, das Schöne ist der Kern. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Zuschauer nicht ausschließlich wegen des Ergebnisses kommt. Sondern dass er für den Spielzug kommt, für die Finte, für das spektakuläre Dribbling und die spektakuläre Abwehraktion. Ein Fan von Barcelona wird aber andere Momente des Spiels als schön empfinden, als etwa ein Fan von Manchester United. Ich trainiere genau dafür, für die Schönheit. Das Ergebnis steht viel zu sehr im Mittelpunkt der Betrachtung dessen, was letztendlich das Erlebnis Fußball ausmacht.

Biermann: Jogi Löw hat mal gesagt, dass der schöne Fußball letztendlich auch der erfolgreiche sein wird.

Tuchel: Eine mutige These. Das galt eine Weile. Johann Cruyff hat bewiesen, dass diese Gleichung stimmt, in dessen Tradition dann Pep Guardiola. Wir als BVB-Trainerstab ertappen uns selbst in Phasen, in denen es nicht so gut läuft, dass wir dann sagen: "Haben wir jetzt immer noch den hohen Anspruch an unser Spiel oder geht’s jetzt mal ums Gewinnen?" Am Ende kommen wir immer zu dem Schluss, dass der Weg zum Ergebnis viel zählt.

Biermann: Was ist Spielstil? Gibt es schöne und gibt es hässliche Spielstile?

Gumbrecht: Kant sagt, es gäbe keinen substantiellen Unterschied. Thomas Tuchel ist also berechtigt zu sagen, er findet es schön, wie Guardiola Fußball spielen lässt und ich kann mit dem gleichen Recht sagen, mir gefällt es wie Mourinho Fußball spielen lässt. Für das ästhetische Empfinden gibt es keine objektiven, keine qualitativen oder quantitativen Kriterien. Dortmunds Niederlage in Liverpool vergangenes Jahr war sicher schmerzhaft, aber es war gleichzeitig ein großartiges Spiel. Beide Mannschaften sehen für einen offensiven, riskanten, körperbetonten Fußball. Der unterscheidet sie von Bayern oder Arsenal. Eine Flamme, die durch die Jahrzehnte getragen wird.

Biermann: In einem Deiner Artikel über Fußball, stellst Du die These auf, dass Vereine so etwas wie eine Spielstilkontinuität kennzeichnet. Dass also der Fußball des FC Bayern, von Real Madrid oder Borussia Dortmund über die Jahre eine Kontinuität aufweist, obwohl ständig Spieler, Trainer und Vereinspräsidenten wechseln. Stimmt das oder konstruiert man sich diese Kontinuität als Fan?

Gumbrecht: Ich sage nicht, dass es nicht Brüche gäbe. Ich denke da an einen zentralen Bruch in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft, hin zu einem schöneren Spiel, das geschah während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010. Das Viertelfinale gegen England und das Halbfinale gegen Argentinien, da hat plötzlich Deutschland - dank Jogi Löw, wie ich meine - einen ganz anderen Stil gespielt, der dann vielleicht auch auf die Bundesliga einen Einfluss genommen hat. Wechsel des Spielstils in einem Klub sind nicht unmöglich, aber sie ereignen sich nicht ausgelöst durch einen Trainerwechsel.

Biermann: Herr Tuchel, haben Sie denn das Gefühl, dass Sie der Hüter einer BVB-Spielweise sind, also sozusagen einer Flamme, die durch die Jahrzehnte getragen wird? (Gelächter im Publikum) Okay, ich überzeichne…

Tuchel: Na ja, ist eine gute Frage. Die Flamme wurde hauptsächlich von Jürgen (Klopp, Anm.d.Red.) angezündet, mit diesem riskanten Offensivfußball. Ich persönlich habe den BVB vorher nicht so wahrgenommen. Die Bayern haben ihre Identität lange rein übers Gewinnen gezogen. Das wurde auch gepflegt, so nach dem Motto "Wir waren nicht so viel besser, aber wir haben halt in den letzten fünf Minuten noch ein Tor geschossen. Ätsch". Als Jugendlicher habe ich Werder Bremen an den Europapokalabenden als geradezu waghalsige Mannschaft erlebt, völlig verrückt offensiv, lieber 5:3 als 2:0. Als Trainer weckt man also eher etwas, was ohnehin schon zur DNA einer Mannschaft gehört. Ich glaube nicht, dass etwa ein Trainer von Atlético Madrid plötzlich den Anspruch entwickeln kann, wir spielen jetzt schönen Fußball. Es gibt also etwas, was ein Klub ausstrahlt, was die handelnden Personen ausstrahlen. Die Verantwortung des Trainers besteht darin, dieses Wesen des Klubs mit der eigenen Idee verschmelzen zu lassen.

Biermann: Was macht diese Idee in Dortmund aus?

Tuchel: Wir können nicht verhalten Fußball spielen. Nicht in einem Stadion mit über 80.000 Zuschauen. Ich glaube auch nicht, dass das mit vierzehn 1:0-Siegen in Folge zu befriedigen wäre. Die Leute kommen zu uns ins Stadion, weil sie eine aktive, aggressive Mannschaft leben und unterstützen wollen. So nehme ich Dortmund wahr. Unser Spiel ist darauf ausgerichtet, viele Tore zu schießen. Nach dem Abschlusstraining für das berühmte Spiel gegen Liverpool an der Anfield Road hatten, versammelten wir uns alle am Mittelkreis. Ich habe versucht, nochmal klar zu machen, wo wir gerade stehen, was es bedeutet, morgen ein Pflichtspiel gegen Liverpool zu bestreiten, vollkommen unerheblich in welchem Wettbewerb, und dass die Überschrift für dieses Spiel lautet: "Wie viele Tore können wir hier schießen?" Wir haben dann drei geschossen, aber leider auch vier kassiert. Aber mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dort im Mittelkreis zu stehen und zu sagen: "Wie können wir hier zu-Null spielen?"

Gumbrecht: Ästhetik umfasst ja nicht nur den schönen Stil. Ich finde es übrigens sehr schön, den Bayern-Stil als "Ätsch-Stil" zu bezeichnen. Das kann man auch schätzen. Als Mourinho mit dem sehr abgekochten Inter Mailand die Champions League gewonnen hat, das war eine Ästhetik des Zynismus.

Tuchel: Wenn wir darüber reden, dass Klubs einen klar erkennbaren Stil vertreten, auch über einzelne Trainer hinweg, dann denke ich zuerst an Ajax Amsterdam und den FC Barcelona. Darüber steht der Anspruch, ein schönes Spiel zu bestreiten und fair zu gewinnen. Aber genauso gibt es den legitimen Ansatz, das alles wegzulassen und zu sagen, das Spiel zu gewinnen, dafür bin ich hier. Das Verteidigen ist mit Sicherheit einfacher zu organisieren, als anzugreifen.

Guardiola-Fußball: Abenteuerlust versus höchste Rationalität

Biermann: Ist Pep Guardiolas Fußball streng rational?

Tuchel: Das würde ich gar nicht sagen! Das sage ich basierend auf meinen Gesprächen mit Guardiola und auch meinem Studium seiner Zeit in Barcelona, wo man damals Bescheidenheit, Angriffslust und Erfolg vereinbart hat, wie es vielleicht keiner Mannschaft zuvor gelungen war. In meinem ersten Jahr in Dortmund habe ich gelernt, dass diese Gegenüberstellung von Angriffslust versus Absicherung so nicht stimmt. Wenn Du angreifst, musst Du Dich gegen Konter absichern, und zwar sehr, sehr hoch im Feld. Das habe ich erst in meinem sechsten Jahr als Bundesligatrainer gelernt.

Biermann: In Mainz haben Sie das nicht gelernt?

Tuchel: Wir waren ja gar nicht so oft in der gegnerischen Hälfte (Gelächter). Du versuchst schnell vors Tor zu kommen, schnell abzuschließen und dann schnell wieder kompakt zu stehen. Fußball ist sehr, sehr komplex, das Lernen hört niemals auf. Es kann mutig sein, tief zu verteidigen. Es kann auch abenteuerlustig sein, zu kontern. Selbst Peps offensivster Ansatz, der sich aus einem strukturierten Fußball entwickelt, passt zu einem sehr rationalen Ansatz, nämlich sich so abzusichern, dass vorne niemand gehemmt angreifen muss, also kein attackierender Spieler mit dem Gefühl rumrennen muss, "Oh, wenn ich jetzt einen Fehler mache, ist hinten alles offen". Man gibt den Offensivspielern eine große Sicherheit.

Gumbrecht: Im klassischen Repertoire ähnelt das Drama am ehesten dem Fußball. Aber Drama bedeutet Komplexität, dass verschiedene Spielarten aufeinandertreffen, dass das Böse als Geste einen Platz hat. Der größte Protagonist in der Geschichte des deutschen Theaters ist nicht Faust, sondern Mephistopheles. Der Zynismus, Fußball rein erfolgsorientiert zu spielen, und meinetwegen in Ingolstadt in den letzten zwei Minuten noch zwei Tore zu schießen, das ist für mich mephistophelisch.

Tuchel: Peps Fußball bei den Bayern war ein anderer als der bei Barcelona. Auch für meinen ästhetischen Geschmack war es nicht mehr so fließend, so rhythmisch. In seinem allerersten Jahr in Bayern war er ganz nah dran. Da spielten sie in Manchester City, ich schaute mir das Spiel an und dachte: "Du glaubst es nicht. Jetzt ist es schon wieder so weit. Niemand kann an den Ball kommen und wir haben einen Rhythmus, da kannst Du Musik drauf laufen lassen." In der ständigen Weiterentwicklung und Risikominimierung, ist glaube ich etwas passiert, dass es irgendwann nicht mehr so schön anzuschauen war. Die Bayern haben weiter gewonnen und gewonnen und haben 90 Punkte geholt, es war aberwitzig, alles war krass durchgeplant, der Gegner wurde praktisch erdrückt. Die Grundordnung hatte sich verändert, es war nicht mehr 4-3-3, es war 4-1-4-1, es wurde noch unmöglicher gegen Bayern zu kontern, dir wurde noch mehr die Luft abgedrückt. Es hatte etwas Klinisches und unfassbar Konstantes, aber eben nicht mehr die Angriffsromantik wie bei Barcelona oder bei den Bayern im ersten halben Jahr.

Biermann: Irgendwann haben die Bayern auch mit langen Bällen operiert. Da dachte ich mir: "Was für ein Kaninchen zieht er denn jetzt aus dem Zylinder?"

Tuchel: Guardiola ist sich letztendlich auch für nichts zu schade. Das finde ich super.

Biermann: Weil es letztendlich ums Gewinnen geht.

Gumbrecht: Nein! (Gelächter)

Tuchel: Es geht darum, alles auszuschöpfen. Beim BVB lagen die Bayern mal hinten, da hat Pep Pizarro zu Mandzukic eingewechselt und mit zwei Mittelstürmern gespielt. Da hatte man so das Gefühl gehabt, in Barcelona hätte er letztendlich jetzt lieber verloren, als zwei Mittelstürmer einzuwechseln.

Die "Dark Ages" und die tolle Sequenz

Biermann: Ich bin mit dem Fußball der siebziger Jahre aufgewachsen, der noch wunderschön war. Dann folgten die "Dark Ages".

Tuchel: Da bin ich aufgewachsen. (großes Gelächter)

Gumbrecht: Also mal zur Jetztzeit. Diese Kombination "Klinsmann vorbereiten, Löw übernehmen", das war für den DFB eine tolle Sequenz. Ich glaube im Prinzip nicht, dass Fußballspiele etwas ausdrücken, dass etwa der schweißtreibende Fußball der fünfziger Jahre so gut zu Wirtschaftswunder und Wiederaufbau passte. Ein Beispiel: Der geizigste Fußball überhaupt ist der italienische, aber das ist bestimmt nicht die italienische Nationalmentalität. Wenn man in die Gesichter unserer heutigen Nationalspieler schaut, dann sind das nicht mehr die Gesichter der Generation '54. Dahinter stehen ja ganz unterschiedliche kulturelle Stile. Dass damit eine ganz andere Dynamik entsteht, und ein anderes Spiel möglich wurde, mag für den Erfolg 2010 wesentlich gewesen sein. Und dass Cacau heute im DFB eine große Rolle spielt, passt dann eben auch sehr gut.

[dfb]

Thomas Tuchel und der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht redeten 90 Minuten über Fußball und nichts als Fußball. Aber eben so ganz anders, als man es in Deutschland kennt. Es war der Auftakt zur neuen Talkreihe SPIELKULTUR der DFB-Kulturstiftung. Die Moderation hatte Christoph Biermann, Redakteur bei 11Freunde und selbst Autor von zwei Fußballbüchern des Jahres. In zwei Halbzeiten präsentieren wir Ihnen nun also noch einmal das (fast) komplette Gespräch aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund am vergangenen Sonntag.

Vorstellung der neuen Talkreihe "Spielkultur"

Christoph Biermann: Ich begrüße Sie recht herzlich und gestehe gleich, ich bin ein wenig nervös. Wir machen heute etwas Neues. Wir feiern heute Premiere einer Veranstaltungsreihe, die "Spielkultur" heißt. Ich begrüße Sie im Namen der DFB-Kulturstiftung. Der eine oder andere von ihnen denkt jetzt vielleicht: Wat soll dat denn sein? Der DFB ist der einzige Fußballverband der Welt, der es sich leistet, Kulturprojekte zu unterstützen. Theaterstücke, Buchprojekte oder das Fußballfilmfestival "11mm" gehören zum Förderkatalog der Stiftung. Irgendwann tauchte die Idee auf, wir als DFB-Kulturstiftung könnten auch selbst eine Veranstaltung auf die Beine stellen und dann sind wir dem verrückten Gedanken gefolgt, dass das Fußballspiel selbst auch Kultur ist. Schließlich reden wir über Spielkultur. Diesen Begriff wollten wir ernst nehmen. Das war der Ausgangspunkt.

Vorstellung der Gäste: Hans Ulrich Gumbrecht und Thomas Tuchel

Biermann: Wir haben heute Abend hier im Fußballmuseum zwei Gäste. Der eine heißt Hans Ulrich Gumbrecht. Er lebt in Kalifornien und hat an der University of Stanford einen Lehrstuhl für Komparatistik. Aber eigentlich ist er ein freischweifender Intellektueller, der lehrt, der publiziert, nicht nur wissenschaftlich, sondern auch populär in Zeitungen und Zeitschriften. Und er ist nicht nur ein Sportfan, sondern sogar Anhänger von Borussia Dortmund. All the way from San Francisco. Herzlich willkommen, Sepp Gumbrecht. Der zweite Gast, das muss man sich kurz vergegenwärtigen, ist gerade in seinem 17. Arbeitsjahr als Fußballtrainer. Er stammt aus Krumbach im schwäbischen Allgäu. Er war Jugendtrainer beim VfB Stuttgart, beim FC Augsburg und Mainz 05. Dort wurde er 2009 Deutscher A-Jugend-Meister. Im Jahr darauf wurde er Cheftrainer und blieb es bis 2014. Es war die sportlich erfolgreichste Zeit des Klubs. 2015 kam er zum BVB, wurde in der letzten Saison bester Zweiter aller Zeiten und ich freue mich sehr, dass er heute bei uns ist. Herzlich willkommen, Thomas Tuchel.

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Biermann: Ich habe Ihnen gesagt, dass wir mit einem Theoretiker und einem Praktiker des Fußballs näher an den Fußball rücken wollen. Was wir nicht abfragen wollen, ist: Was war in Darmstadt los, was wird mit Götze, wohin wechselt Auba oder nicht? Diese Fragen werden wir heute nicht diskutieren. Stattdessen schlagen wir heute einen anderen Weg ein. Die erste Frage geht an Sepp Gumbrecht. Du hast geschrieben "Fußball ist eine Art von ästhetischer Erfahrung". Wo liegt der Unterschied zwischen der ästhetischen Erfahrung, ein Fußballspiel anzuschauen oder einen Roman zu lesen?

Hans Ulrich Gumbrecht: Beider Erfahrungen sind strukturell fast identisch. Die klassische Definition einer ästhetischen Erfahrung stammt von Kant. Sie hat drei Elemente. Erstens: Es sei eine interessenlose Erfahrung. Kant meint damit, dass diese ästhetische Erfahrung abgekoppelt ist von allen Alltagsinteressen. Zweitens: Es ist eine Erfahrung, bei der man beständig Urteile fällt. Für diese Urteile gibt es aber weder qualitative noch quantitative Kriterien. Wer will sagen, ob ein Spiel wie das 8:4 gegen Legia Warschau ein besseres Spiel als etwa ein 2:1 ist? Und drittens: Wenn wir erkennen, dass wir mit einem Gesprächspartner bei unserem ästhetischen Urteil nicht überein liegen, erheischen wir Konsensus. Das sind die drei klassischen Kriterien der ästhetischen Erfahrung, und die, das war für mich vor ein paar Jahren eine Entdeckung, treffen absolut zu auf das Anschauen eines Fußballspiels. Ich möchte die These noch verschärfen. Deswegen letztlich gehen die Leute ins Stadion. Die Faszination ist nicht das Ergebnis, sondern die ästhetische Erfahrung.

Biermann: Herr Tuchel, wenn Sie mit Ihrer Mannschaft arbeiten, ist für Sie das Schöne wichtig oder ist das Schöne nur ein Abfallprodukt der errungenen Punkte?

Thomas Tuchel: Ich glaube sogar, das Schöne ist der Kern. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Zuschauer nicht ausschließlich wegen des Ergebnisses kommt. Sondern dass er für den Spielzug kommt, für die Finte, für das spektakuläre Dribbling und die spektakuläre Abwehraktion. Ein Fan von Barcelona wird aber andere Momente des Spiels als schön empfinden, als etwa ein Fan von Manchester United. Ich trainiere genau dafür, für die Schönheit. Das Ergebnis steht viel zu sehr im Mittelpunkt der Betrachtung dessen, was letztendlich das Erlebnis Fußball ausmacht.

Biermann: Jogi Löw hat mal gesagt, dass der schöne Fußball letztendlich auch der erfolgreiche sein wird.

Tuchel: Eine mutige These. Das galt eine Weile. Johann Cruyff hat bewiesen, dass diese Gleichung stimmt, in dessen Tradition dann Pep Guardiola. Wir als BVB-Trainerstab ertappen uns selbst in Phasen, in denen es nicht so gut läuft, dass wir dann sagen: "Haben wir jetzt immer noch den hohen Anspruch an unser Spiel oder geht’s jetzt mal ums Gewinnen?" Am Ende kommen wir immer zu dem Schluss, dass der Weg zum Ergebnis viel zählt.

Biermann: Was ist Spielstil? Gibt es schöne und gibt es hässliche Spielstile?

Gumbrecht: Kant sagt, es gäbe keinen substantiellen Unterschied. Thomas Tuchel ist also berechtigt zu sagen, er findet es schön, wie Guardiola Fußball spielen lässt und ich kann mit dem gleichen Recht sagen, mir gefällt es wie Mourinho Fußball spielen lässt. Für das ästhetische Empfinden gibt es keine objektiven, keine qualitativen oder quantitativen Kriterien. Dortmunds Niederlage in Liverpool vergangenes Jahr war sicher schmerzhaft, aber es war gleichzeitig ein großartiges Spiel. Beide Mannschaften sehen für einen offensiven, riskanten, körperbetonten Fußball. Der unterscheidet sie von Bayern oder Arsenal. Eine Flamme, die durch die Jahrzehnte getragen wird.

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Biermann: In einem Deiner Artikel über Fußball, stellst Du die These auf, dass Vereine so etwas wie eine Spielstilkontinuität kennzeichnet. Dass also der Fußball des FC Bayern, von Real Madrid oder Borussia Dortmund über die Jahre eine Kontinuität aufweist, obwohl ständig Spieler, Trainer und Vereinspräsidenten wechseln. Stimmt das oder konstruiert man sich diese Kontinuität als Fan?

Gumbrecht: Ich sage nicht, dass es nicht Brüche gäbe. Ich denke da an einen zentralen Bruch in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft, hin zu einem schöneren Spiel, das geschah während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010. Das Viertelfinale gegen England und das Halbfinale gegen Argentinien, da hat plötzlich Deutschland - dank Jogi Löw, wie ich meine - einen ganz anderen Stil gespielt, der dann vielleicht auch auf die Bundesliga einen Einfluss genommen hat. Wechsel des Spielstils in einem Klub sind nicht unmöglich, aber sie ereignen sich nicht ausgelöst durch einen Trainerwechsel.

Biermann: Herr Tuchel, haben Sie denn das Gefühl, dass Sie der Hüter einer BVB-Spielweise sind, also sozusagen einer Flamme, die durch die Jahrzehnte getragen wird? (Gelächter im Publikum) Okay, ich überzeichne…

Tuchel: Na ja, ist eine gute Frage. Die Flamme wurde hauptsächlich von Jürgen (Klopp, Anm.d.Red.) angezündet, mit diesem riskanten Offensivfußball. Ich persönlich habe den BVB vorher nicht so wahrgenommen. Die Bayern haben ihre Identität lange rein übers Gewinnen gezogen. Das wurde auch gepflegt, so nach dem Motto "Wir waren nicht so viel besser, aber wir haben halt in den letzten fünf Minuten noch ein Tor geschossen. Ätsch". Als Jugendlicher habe ich Werder Bremen an den Europapokalabenden als geradezu waghalsige Mannschaft erlebt, völlig verrückt offensiv, lieber 5:3 als 2:0. Als Trainer weckt man also eher etwas, was ohnehin schon zur DNA einer Mannschaft gehört. Ich glaube nicht, dass etwa ein Trainer von Atlético Madrid plötzlich den Anspruch entwickeln kann, wir spielen jetzt schönen Fußball. Es gibt also etwas, was ein Klub ausstrahlt, was die handelnden Personen ausstrahlen. Die Verantwortung des Trainers besteht darin, dieses Wesen des Klubs mit der eigenen Idee verschmelzen zu lassen.

Biermann: Was macht diese Idee in Dortmund aus?

Tuchel: Wir können nicht verhalten Fußball spielen. Nicht in einem Stadion mit über 80.000 Zuschauen. Ich glaube auch nicht, dass das mit vierzehn 1:0-Siegen in Folge zu befriedigen wäre. Die Leute kommen zu uns ins Stadion, weil sie eine aktive, aggressive Mannschaft leben und unterstützen wollen. So nehme ich Dortmund wahr. Unser Spiel ist darauf ausgerichtet, viele Tore zu schießen. Nach dem Abschlusstraining für das berühmte Spiel gegen Liverpool an der Anfield Road hatten, versammelten wir uns alle am Mittelkreis. Ich habe versucht, nochmal klar zu machen, wo wir gerade stehen, was es bedeutet, morgen ein Pflichtspiel gegen Liverpool zu bestreiten, vollkommen unerheblich in welchem Wettbewerb, und dass die Überschrift für dieses Spiel lautet: "Wie viele Tore können wir hier schießen?" Wir haben dann drei geschossen, aber leider auch vier kassiert. Aber mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dort im Mittelkreis zu stehen und zu sagen: "Wie können wir hier zu-Null spielen?"

Gumbrecht: Ästhetik umfasst ja nicht nur den schönen Stil. Ich finde es übrigens sehr schön, den Bayern-Stil als "Ätsch-Stil" zu bezeichnen. Das kann man auch schätzen. Als Mourinho mit dem sehr abgekochten Inter Mailand die Champions League gewonnen hat, das war eine Ästhetik des Zynismus.

Tuchel: Wenn wir darüber reden, dass Klubs einen klar erkennbaren Stil vertreten, auch über einzelne Trainer hinweg, dann denke ich zuerst an Ajax Amsterdam und den FC Barcelona. Darüber steht der Anspruch, ein schönes Spiel zu bestreiten und fair zu gewinnen. Aber genauso gibt es den legitimen Ansatz, das alles wegzulassen und zu sagen, das Spiel zu gewinnen, dafür bin ich hier. Das Verteidigen ist mit Sicherheit einfacher zu organisieren, als anzugreifen.

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Guardiola-Fußball: Abenteuerlust versus höchste Rationalität

Biermann: Ist Pep Guardiolas Fußball streng rational?

Tuchel: Das würde ich gar nicht sagen! Das sage ich basierend auf meinen Gesprächen mit Guardiola und auch meinem Studium seiner Zeit in Barcelona, wo man damals Bescheidenheit, Angriffslust und Erfolg vereinbart hat, wie es vielleicht keiner Mannschaft zuvor gelungen war. In meinem ersten Jahr in Dortmund habe ich gelernt, dass diese Gegenüberstellung von Angriffslust versus Absicherung so nicht stimmt. Wenn Du angreifst, musst Du Dich gegen Konter absichern, und zwar sehr, sehr hoch im Feld. Das habe ich erst in meinem sechsten Jahr als Bundesligatrainer gelernt.

Biermann: In Mainz haben Sie das nicht gelernt?

Tuchel: Wir waren ja gar nicht so oft in der gegnerischen Hälfte (Gelächter). Du versuchst schnell vors Tor zu kommen, schnell abzuschließen und dann schnell wieder kompakt zu stehen. Fußball ist sehr, sehr komplex, das Lernen hört niemals auf. Es kann mutig sein, tief zu verteidigen. Es kann auch abenteuerlustig sein, zu kontern. Selbst Peps offensivster Ansatz, der sich aus einem strukturierten Fußball entwickelt, passt zu einem sehr rationalen Ansatz, nämlich sich so abzusichern, dass vorne niemand gehemmt angreifen muss, also kein attackierender Spieler mit dem Gefühl rumrennen muss, "Oh, wenn ich jetzt einen Fehler mache, ist hinten alles offen". Man gibt den Offensivspielern eine große Sicherheit.

Gumbrecht: Im klassischen Repertoire ähnelt das Drama am ehesten dem Fußball. Aber Drama bedeutet Komplexität, dass verschiedene Spielarten aufeinandertreffen, dass das Böse als Geste einen Platz hat. Der größte Protagonist in der Geschichte des deutschen Theaters ist nicht Faust, sondern Mephistopheles. Der Zynismus, Fußball rein erfolgsorientiert zu spielen, und meinetwegen in Ingolstadt in den letzten zwei Minuten noch zwei Tore zu schießen, das ist für mich mephistophelisch.

Tuchel: Peps Fußball bei den Bayern war ein anderer als der bei Barcelona. Auch für meinen ästhetischen Geschmack war es nicht mehr so fließend, so rhythmisch. In seinem allerersten Jahr in Bayern war er ganz nah dran. Da spielten sie in Manchester City, ich schaute mir das Spiel an und dachte: "Du glaubst es nicht. Jetzt ist es schon wieder so weit. Niemand kann an den Ball kommen und wir haben einen Rhythmus, da kannst Du Musik drauf laufen lassen." In der ständigen Weiterentwicklung und Risikominimierung, ist glaube ich etwas passiert, dass es irgendwann nicht mehr so schön anzuschauen war. Die Bayern haben weiter gewonnen und gewonnen und haben 90 Punkte geholt, es war aberwitzig, alles war krass durchgeplant, der Gegner wurde praktisch erdrückt. Die Grundordnung hatte sich verändert, es war nicht mehr 4-3-3, es war 4-1-4-1, es wurde noch unmöglicher gegen Bayern zu kontern, dir wurde noch mehr die Luft abgedrückt. Es hatte etwas Klinisches und unfassbar Konstantes, aber eben nicht mehr die Angriffsromantik wie bei Barcelona oder bei den Bayern im ersten halben Jahr.

Biermann: Irgendwann haben die Bayern auch mit langen Bällen operiert. Da dachte ich mir: "Was für ein Kaninchen zieht er denn jetzt aus dem Zylinder?"

Tuchel: Guardiola ist sich letztendlich auch für nichts zu schade. Das finde ich super.

Biermann: Weil es letztendlich ums Gewinnen geht.

Gumbrecht: Nein! (Gelächter)

Tuchel: Es geht darum, alles auszuschöpfen. Beim BVB lagen die Bayern mal hinten, da hat Pep Pizarro zu Mandzukic eingewechselt und mit zwei Mittelstürmern gespielt. Da hatte man so das Gefühl gehabt, in Barcelona hätte er letztendlich jetzt lieber verloren, als zwei Mittelstürmer einzuwechseln.

Die "Dark Ages" und die tolle Sequenz

Biermann: Ich bin mit dem Fußball der siebziger Jahre aufgewachsen, der noch wunderschön war. Dann folgten die "Dark Ages".

Tuchel: Da bin ich aufgewachsen. (großes Gelächter)

Gumbrecht: Also mal zur Jetztzeit. Diese Kombination "Klinsmann vorbereiten, Löw übernehmen", das war für den DFB eine tolle Sequenz. Ich glaube im Prinzip nicht, dass Fußballspiele etwas ausdrücken, dass etwa der schweißtreibende Fußball der fünfziger Jahre so gut zu Wirtschaftswunder und Wiederaufbau passte. Ein Beispiel: Der geizigste Fußball überhaupt ist der italienische, aber das ist bestimmt nicht die italienische Nationalmentalität. Wenn man in die Gesichter unserer heutigen Nationalspieler schaut, dann sind das nicht mehr die Gesichter der Generation '54. Dahinter stehen ja ganz unterschiedliche kulturelle Stile. Dass damit eine ganz andere Dynamik entsteht, und ein anderes Spiel möglich wurde, mag für den Erfolg 2010 wesentlich gewesen sein. Und dass Cacau heute im DFB eine große Rolle spielt, passt dann eben auch sehr gut.

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