"Fußball ist eine große gemeinsame Erzählung"

"Im Osten geht die Sonne auf" – unter diesem Motto reisen bekannte Schriftsteller aus Polen, der Ukraine und Deutschland von Berlin über Krakau nach Lwiw. Abends sind dreisprachige Lesungen angesetzt, tagsüber fußballerische Begegnungen. Die übrigens meistens die deutschen Autoren gewinnen.

DFB.de-Redakteur Thomas Hackbarth befragte beim Auftakt im Ballhaus Ost am Prenzlauer Berg Zbigniew Masternak (polnischer Kapitän), Sherjih Zhadan (ukrainischer Kapitän) und den 'WELT-Literaturpreisträger' Albert Ostermaier (deutscher Torwart).

DFB.de: Herr Zhadan, wie sehr freuen sich die Ukrainer auf die EM?

Sherjih Zhadan: Fußball ist die beliebteste Sportart bei uns, mit Abstand. Dazu haben wir mit Oleg Blochin einen charismatischen Trainer und eine junge, hungrige Mannschaft. Unser Kapitän Anatoli Timotschuk ist bei Euch bestens bekannt. Viele Ukrainer fiebern dem Turnier entgegen. So weit ich weiß, sind alle Spiele ausverkauft. Im Fernsehen wird alles live übertragen, dazu gibt es in den Turnierstädten Public Viewings. Kritische Stimmen fragen, ob wir uns einen teuren Spaß wie die EM wirklich leisten können. Dazu kam die politische Debatte. Aber die EM ist in erster Linie eine Fußballfeier, erst dann ein Ereignis, dass unsere ökonomischen und politischen Probleme verdeutlicht. Fußball, auch in der Ukraine, wird nicht für den Präsidenten gespielt.

DFB.de: Und wie steht es um die Fußballbegeisterung der Polen, Herr Masternak?

Zbigniew Masternak: Na ja, wie jemand mal sagte, "Fußball ist die neue Religion". Noch vor zwanzig Jahren waren eher nur untere Bevölkerungsschichten fußballbegeistert. Heute fasziniert der Fußball alle Polen. Das sieht man übrigens auch daran, dass nicht nur wir Autoren Fußball spielen, heute gibt es auch eine polnische Schauspieler- und Politiker-Nationalmannschaft.

DFB.de: Sie selbst können beides, schreiben und Fußball spielen. Ihr neuestes Buch trägt autobiographische Züge.

Masternak: Das stimmt, es wurde gerade in Polen verfilmt. Der Roman geht um einen jungen Mann, der als Fußballer scheitert, aber als Mensch gewinnt. Ich hatte mit jungen Jahren eine schwere Knieverletzung. Mit 19 Jahren spielte ich in der 2. Liga, dann war Schluss. Ich habe immer gesagt, dass Fußballer anfangen sollten zu schreiben. Schließlich haben sie jeden Tag ein paar freie Stunden.

DFB.de: Lothar Matthäus hat mal ein Buch geschrieben.

Masternak: Jürgen Klinsmann auch, Eric Cantona war Schauspieler und hat Gedichte veröffentlicht. Mich interessieren diese Schnittstellen zwischen Sport und den Künsten. Dort werden Vorurteile sichtbar und dadurch im besten Fall überwunden, etwa das Stereotyp vom einfältigen Fußballer. Auch ein durchtrainierter sportlicher Schriftsteller irritiert viele.

DFB.de: Herr Ostermaier, erreicht der Fußball, im Gegensatz zu früher, heute alle?

Albert Ostermaier: Der Fußball war immer schon eine große gemeinsame Erzählung, eine Kommunikationswährung. Mit welchem anderen Thema kann man denn heute sofort, über alle Klassen, sozialen Schichten und Bildungsniveaus hinweg, ins Gespräch kommen? Diese Vorbehalte gegen den Fußball, dass er primitiv sei, gehören der Vergangenheit an. Gerade durch die WM in Deutschland, aber auch durch die Arbeit der DFB-Kulturstiftung, hat sich da einiges gedreht. Jüdische Klubs haben den Fußball schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so verstanden, dass er die Persönlichkeit prägt, dass er Teamgeist und Fairplay zusammen bringt. Dieses Denken stand im Kontrast zu der Ideologie, die etwa durch Turnvater Jahn verbreitet wurde, also Ertüchtigung, Drill, Befehlsgehorsam. Arbeiter und Künstler spielten und schauten damals genauso begeistert Fußball.

DFB.de: Und heute?

Ostermaier: Heute wird der Fußball in Deutschland in den Stadien von Menschen aller Herkunft und Couleur gefeiert. Auch deshalb hat der Fußball eine ungeheure Wirkungsmacht.

DFB.de: Darf man beim Literaten-Treff ganz profan über das Spiel von gestern Abend reden?

Ostermaier: Problemlos. Eher im Gegenteil, es nervt doch schon, dass alle meinen, sie müssten sich jetzt über Fußball äußern, obwohl sie nun wirklich keinen blassen Schimmer haben. Fußball heute ist common sense. Das Gemeinschaftserlebnis ist aufgrund unserer Geschichte mit Problemen beladen, aber da hat die WM 2006 für eine positive Entspannung gesorgt.

DFB.de: Herr Zhadan, in Deutschland erscheint gerade ihre Anthologie "Total Fußball". Was reizt Schriftsteller, über Fußball zu schreiben?

Zhadan: Mir gefällt die Emotionalität des Spiels. Da gibt es Fairplay und Intrigen, Kameradschaft und Konkurrenz. Der Fußball bietet viel, viel bessere Unterhaltung als etwa das Theater und das Kino. Spannender ist es ohnehin, denn der Ausgang ist immer ungewiss.

DFB.de: Für welche Werte steht die ukrainische Nationalmannschaft?

Zhadan: Die Nationalmannschaft vereint das Land, sie ist der große gemeinsame Nenner. Für uns als relativ junges Land ist das sehr wichtig. 2006 haben es die Gelb-Blauen bis ins Viertelfinale geschafft und nach jedem Sieg standen die Menschen auf den Straßen, von Donezk bis Lwiw. Obwohl wir etwa mit Schachtar Donezk und Metalist Charkiw starke Vereine haben, kann der Klubfußball dieses Gemeinschaftsgefühl nicht vermitteln.

DFB.de: Und wofür steht die polnische Nationalmannschaft?

Masternak: Die polnische Nationalmannschaft ist eine schlechtere Version der deutschen. Auch unser Nationaltrainer Franciszek Smuda versucht jetzt eine multikulturelle Truppe aufzubauen, dafür sucht er auch im Ausland Spieler mit polnischen Wurzeln.

DFB.de: Sind Sie BVB-Fan?

Masternak: Ja, natürlich, auch wenn Dortmund ein eher untypischer polnischer Klub ist (lacht). Jürgen Klopp, Michael Zorc und Wolfgang Watzke haben konsequent ihren Plan verfolgt, nämlich junge Spieler einzukaufen und auszubilden. Wer weiß, wo die Borussia in einigen Jahren steht, in Deutschland, aber auch im europäischen Vergleich. Vielleicht sogar vor Bayern München.

DFB.de: In Prozenten, wie groß ist die Chance, dass Polen Europameister wird?

Masternak: Griechenland, Russland und Tschechien sind in unserer Gruppe, das sollten wir schaffen. Danach hängt viel davon ab, auf wen wir im Viertelfinale treffen. Ich halte große Stücke auf unseren jungen Torwart Wojciech Szczesny. Wir haben andere gute Spieler wie etwa Marcin Wasilewski vom RSC Anderlecht oder die Dortmunder Jakub Blaszczykowski, Robert Lewandowski und Lukasz Piszczek.

DFB.de: Wie groß ist die Chance, dass die Gelb-Blauen Europameister werden?

Zhadan: (lacht): Eine hinterhältige Frage. Wir haben England, Frankreich und Schweden, für uns wäre es ein großer Erfolg, die Gruppenphase zu überstehen. Aber wenn uns das glückt, wer weiß, wir spielen im eigenen Land...

DFB.de: Und die deutschen Chancen, wie stehen die?

Ostermaier: Bei neunzig Prozent. 1972 und 1974 wurden wir Europa- und Weltmeister. Wir stehen unmittelbar vor der historischen Wiederholung. Unsere Mannschaft hat das Leistungsvermögen, verdient hätte sie den Titel auch. Leider ist das Schöne am Fußball: es kann immer wieder völlig anders kommen.

DFB.de: Herr Ostermaier, welche Geschichte erzählt die deutsche Nationalmannschaft?

Ostermaier: Eine ganz ähnliche wie die französische Mannschaft 1998. Die Nationalmannschaft ist heute ein echtes Abbild der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Die Spieler bringen ihre unterschiedlichen kulturelle Wurzeln zu einem herzerfrischenden Offensivfußball zusammen. Dieses monolithische Bild von Deutschland, gerade auch im Ausland, wird dadurch aufgesprengt. In einigen Punkten ist die Nationalmannschaft in der Umsetzung weiter als etwa die Politik.

DFB.de: Sollte es eine Singpflicht bei der Nationalhymne geben?

Ostermaier: So wie die meisten Leute singen, bin ich kategorisch gegen jede Singpflicht. Andererseits ist die deutsche Hymne, komponiert von Hoffmann von Fallersleben, ein Plädoyer für Freiheitsrechte und ein vereintes Deutschland. Das kann man also durchaus singen. Aber die individuelle Entscheidung gilt es zu beschützen.

DFB.de: Herr Masternak, welche Werte vermittelt der Fußball?

Masternak: Jeder kennt das berühmte Zitat von Albert Camus, der gesagt hat, dass er alles, was er über Moral weiß, durch den Fußball gelernt hat. In die brasilianische Nationalmannschaft schaffen es immer wieder Talente aus den Slums von Rio de Janeiro, aber Kaka stammt aus einer reichen Familie. Der Fußball ist eine Chance für Alle.

DFB.de: Welches Fußball-Buch sollte man gelesen haben?

Masternak: Die Autobiografie von Maradona.

DFB.de: Herr Ostermaier, ihr Fußball-Lesetipp?

Ostermaier: Alles von Jorge Valdano, der 1982 und 1986 in der argentinischen Nationalmannschaft spielte und später Trainer und Fußballdirektor von Real Madrid war. (Valdanos Buch ‚Über Fußball’ wurde 2006 als ‚Fußballbuch des Jahres’ ausgezeichnet).

DFB.de: Die US-Literatur kennt eine Reihe großer Sportromane, etwa Malamuds 'The Natural' oder 'Underworld' und 'Endzone' von DeLilo. Warum fehlt noch der große deutsche Fußballroman?

Ostermaier: Baseball und Football haben mit Urmythen der amerikanischen Gesellschaft zu tun, mit dem Pastoralen oder der 'Frontier', der Gewinnung des Westens. Dazu sind beide Sportarten hochgradig demokratisch, sie bieten allen möglichen Körperformen einen Platz zum Mitspielen. Vielleicht liegt das Vakuum hinsichtlich eines großen deutschen Fußballromans auch einfach daran, dass nur Männer sich für Fußball interessieren, aber nur Frauen lesen.

DFB.de: Sie waren Hausautor am Wiener Burgtheater, zuletzt wurde ihr literarisches Gesamtwerk mit dem Literaturpreis der 'WELT' ausgezeichnet. Seit Gründung der Autonama stehen sie im deutschen Tor. Immer noch Lust am Kicken, Herr Ostermaier?

Ostermaier: Natürlich ist es völlig unvernünftig, als über 40-Jähriger sich immer noch zwischen die Füße zu werfen. Es ist einfach eine wunderbare Verlängerung der Kindheit. Schriftsteller sind bedingt durch die Aufgabe Einzelgänger, aber durch die Autonama bietet sich uns ein wunderschönes Gemeinschaftserlebnis. Wenn man zusammen in kurzen Hosen Fußball gespielt hat, ist die Diskussion, auch über Literatur und Politik, danach eine ganz andere. Fußball schafft Herzlichkeit und Unmittelbarkeit, das kann der Kulturbetrieb nicht in der Art leisten.

DFB.de: Und das Streitgespräch auf dem Platz – nach einem Fehlpass oder einem Torwartfehler – ist dann auf rhetorisch hohem Niveau?

Ostermaier: Ich komme eher aus der Kahn-Schule und bevorzuge die direkte Ansprache.

Zur Person: Der ehemalige Fußballprofi Masternak hat sich in Polen als Schriftsteller einen Namen gemacht, die Verfilmung seines neuesten Buches kommt dort gerade in die Kinos. Außerdem ist er polnischer Meister im Matschfußball, einer schmutzigen Angelegenheit im knöcheltiefen Schlamm. Zhadan gehört zu den prägenden Lyrikern und Autoren der Ukraine. Der Fußballfan aus Leidenschaft zählt sich zur "Generation, die ihre Lebensweisheit von Maradonas Spiel gelernt hat". Er lebt in Charkiw, ist Anhänger von Metallist, und wird natürlich im Stadion sein, wenn die deutsche Mannschaft am 13. Juni im zweiten Gruppenspiel auf die Niederlande trifft. Albert Ostermaier, zwischen 2003 und 2009 Hausautor am Wiener Burgtheater, steht seit 2005 im Tor der Autonama. Seine "Ode an Oliver Kahn" dürfte das bekannteste deutsche Fußball-Gedicht sein.

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"Im Osten geht die Sonne auf" – unter diesem Motto reisen bekannte Schriftsteller aus Polen, der Ukraine und Deutschland von Berlin über Krakau nach Lwiw. Abends sind dreisprachige Lesungen angesetzt, tagsüber fußballerische Begegnungen. Die übrigens meistens die deutschen Autoren gewinnen.

DFB.de-Redakteur Thomas Hackbarth befragte beim Auftakt im Ballhaus Ost am Prenzlauer Berg Zbigniew Masternak (polnischer Kapitän), Sherjih Zhadan (ukrainischer Kapitän) und den 'WELT-Literaturpreisträger' Albert Ostermaier (deutscher Torwart).

DFB.de: Herr Zhadan, wie sehr freuen sich die Ukrainer auf die EM?

Sherjih Zhadan: Fußball ist die beliebteste Sportart bei uns, mit Abstand. Dazu haben wir mit Oleg Blochin einen charismatischen Trainer und eine junge, hungrige Mannschaft. Unser Kapitän Anatoli Timotschuk ist bei Euch bestens bekannt. Viele Ukrainer fiebern dem Turnier entgegen. So weit ich weiß, sind alle Spiele ausverkauft. Im Fernsehen wird alles live übertragen, dazu gibt es in den Turnierstädten Public Viewings. Kritische Stimmen fragen, ob wir uns einen teuren Spaß wie die EM wirklich leisten können. Dazu kam die politische Debatte. Aber die EM ist in erster Linie eine Fußballfeier, erst dann ein Ereignis, dass unsere ökonomischen und politischen Probleme verdeutlicht. Fußball, auch in der Ukraine, wird nicht für den Präsidenten gespielt.

DFB.de: Und wie steht es um die Fußballbegeisterung der Polen, Herr Masternak?

Zbigniew Masternak: Na ja, wie jemand mal sagte, "Fußball ist die neue Religion". Noch vor zwanzig Jahren waren eher nur untere Bevölkerungsschichten fußballbegeistert. Heute fasziniert der Fußball alle Polen. Das sieht man übrigens auch daran, dass nicht nur wir Autoren Fußball spielen, heute gibt es auch eine polnische Schauspieler- und Politiker-Nationalmannschaft.

DFB.de: Sie selbst können beides, schreiben und Fußball spielen. Ihr neuestes Buch trägt autobiographische Züge.

Masternak: Das stimmt, es wurde gerade in Polen verfilmt. Der Roman geht um einen jungen Mann, der als Fußballer scheitert, aber als Mensch gewinnt. Ich hatte mit jungen Jahren eine schwere Knieverletzung. Mit 19 Jahren spielte ich in der 2. Liga, dann war Schluss. Ich habe immer gesagt, dass Fußballer anfangen sollten zu schreiben. Schließlich haben sie jeden Tag ein paar freie Stunden.

DFB.de: Lothar Matthäus hat mal ein Buch geschrieben.

Masternak: Jürgen Klinsmann auch, Eric Cantona war Schauspieler und hat Gedichte veröffentlicht. Mich interessieren diese Schnittstellen zwischen Sport und den Künsten. Dort werden Vorurteile sichtbar und dadurch im besten Fall überwunden, etwa das Stereotyp vom einfältigen Fußballer. Auch ein durchtrainierter sportlicher Schriftsteller irritiert viele.

DFB.de: Herr Ostermaier, erreicht der Fußball, im Gegensatz zu früher, heute alle?

Albert Ostermaier: Der Fußball war immer schon eine große gemeinsame Erzählung, eine Kommunikationswährung. Mit welchem anderen Thema kann man denn heute sofort, über alle Klassen, sozialen Schichten und Bildungsniveaus hinweg, ins Gespräch kommen? Diese Vorbehalte gegen den Fußball, dass er primitiv sei, gehören der Vergangenheit an. Gerade durch die WM in Deutschland, aber auch durch die Arbeit der DFB-Kulturstiftung, hat sich da einiges gedreht. Jüdische Klubs haben den Fußball schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so verstanden, dass er die Persönlichkeit prägt, dass er Teamgeist und Fairplay zusammen bringt. Dieses Denken stand im Kontrast zu der Ideologie, die etwa durch Turnvater Jahn verbreitet wurde, also Ertüchtigung, Drill, Befehlsgehorsam. Arbeiter und Künstler spielten und schauten damals genauso begeistert Fußball.

DFB.de: Und heute?

Ostermaier: Heute wird der Fußball in Deutschland in den Stadien von Menschen aller Herkunft und Couleur gefeiert. Auch deshalb hat der Fußball eine ungeheure Wirkungsmacht.

DFB.de: Darf man beim Literaten-Treff ganz profan über das Spiel von gestern Abend reden?

Ostermaier: Problemlos. Eher im Gegenteil, es nervt doch schon, dass alle meinen, sie müssten sich jetzt über Fußball äußern, obwohl sie nun wirklich keinen blassen Schimmer haben. Fußball heute ist common sense. Das Gemeinschaftserlebnis ist aufgrund unserer Geschichte mit Problemen beladen, aber da hat die WM 2006 für eine positive Entspannung gesorgt.

DFB.de: Herr Zhadan, in Deutschland erscheint gerade ihre Anthologie "Total Fußball". Was reizt Schriftsteller, über Fußball zu schreiben?

Zhadan: Mir gefällt die Emotionalität des Spiels. Da gibt es Fairplay und Intrigen, Kameradschaft und Konkurrenz. Der Fußball bietet viel, viel bessere Unterhaltung als etwa das Theater und das Kino. Spannender ist es ohnehin, denn der Ausgang ist immer ungewiss.

DFB.de: Für welche Werte steht die ukrainische Nationalmannschaft?

Zhadan: Die Nationalmannschaft vereint das Land, sie ist der große gemeinsame Nenner. Für uns als relativ junges Land ist das sehr wichtig. 2006 haben es die Gelb-Blauen bis ins Viertelfinale geschafft und nach jedem Sieg standen die Menschen auf den Straßen, von Donezk bis Lwiw. Obwohl wir etwa mit Schachtar Donezk und Metalist Charkiw starke Vereine haben, kann der Klubfußball dieses Gemeinschaftsgefühl nicht vermitteln.

DFB.de: Und wofür steht die polnische Nationalmannschaft?

Masternak: Die polnische Nationalmannschaft ist eine schlechtere Version der deutschen. Auch unser Nationaltrainer Franciszek Smuda versucht jetzt eine multikulturelle Truppe aufzubauen, dafür sucht er auch im Ausland Spieler mit polnischen Wurzeln.

DFB.de: Sind Sie BVB-Fan?

Masternak: Ja, natürlich, auch wenn Dortmund ein eher untypischer polnischer Klub ist (lacht). Jürgen Klopp, Michael Zorc und Wolfgang Watzke haben konsequent ihren Plan verfolgt, nämlich junge Spieler einzukaufen und auszubilden. Wer weiß, wo die Borussia in einigen Jahren steht, in Deutschland, aber auch im europäischen Vergleich. Vielleicht sogar vor Bayern München.

DFB.de: In Prozenten, wie groß ist die Chance, dass Polen Europameister wird?

Masternak: Griechenland, Russland und Tschechien sind in unserer Gruppe, das sollten wir schaffen. Danach hängt viel davon ab, auf wen wir im Viertelfinale treffen. Ich halte große Stücke auf unseren jungen Torwart Wojciech Szczesny. Wir haben andere gute Spieler wie etwa Marcin Wasilewski vom RSC Anderlecht oder die Dortmunder Jakub Blaszczykowski, Robert Lewandowski und Lukasz Piszczek.

DFB.de: Wie groß ist die Chance, dass die Gelb-Blauen Europameister werden?

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Zhadan: (lacht): Eine hinterhältige Frage. Wir haben England, Frankreich und Schweden, für uns wäre es ein großer Erfolg, die Gruppenphase zu überstehen. Aber wenn uns das glückt, wer weiß, wir spielen im eigenen Land...

DFB.de: Und die deutschen Chancen, wie stehen die?

Ostermaier: Bei neunzig Prozent. 1972 und 1974 wurden wir Europa- und Weltmeister. Wir stehen unmittelbar vor der historischen Wiederholung. Unsere Mannschaft hat das Leistungsvermögen, verdient hätte sie den Titel auch. Leider ist das Schöne am Fußball: es kann immer wieder völlig anders kommen.

DFB.de: Herr Ostermaier, welche Geschichte erzählt die deutsche Nationalmannschaft?

Ostermaier: Eine ganz ähnliche wie die französische Mannschaft 1998. Die Nationalmannschaft ist heute ein echtes Abbild der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Die Spieler bringen ihre unterschiedlichen kulturelle Wurzeln zu einem herzerfrischenden Offensivfußball zusammen. Dieses monolithische Bild von Deutschland, gerade auch im Ausland, wird dadurch aufgesprengt. In einigen Punkten ist die Nationalmannschaft in der Umsetzung weiter als etwa die Politik.

DFB.de: Sollte es eine Singpflicht bei der Nationalhymne geben?

Ostermaier: So wie die meisten Leute singen, bin ich kategorisch gegen jede Singpflicht. Andererseits ist die deutsche Hymne, komponiert von Hoffmann von Fallersleben, ein Plädoyer für Freiheitsrechte und ein vereintes Deutschland. Das kann man also durchaus singen. Aber die individuelle Entscheidung gilt es zu beschützen.

DFB.de: Herr Masternak, welche Werte vermittelt der Fußball?

Masternak: Jeder kennt das berühmte Zitat von Albert Camus, der gesagt hat, dass er alles, was er über Moral weiß, durch den Fußball gelernt hat. In die brasilianische Nationalmannschaft schaffen es immer wieder Talente aus den Slums von Rio de Janeiro, aber Kaka stammt aus einer reichen Familie. Der Fußball ist eine Chance für Alle.

DFB.de: Welches Fußball-Buch sollte man gelesen haben?

Masternak: Die Autobiografie von Maradona.

DFB.de: Herr Ostermaier, ihr Fußball-Lesetipp?

Ostermaier: Alles von Jorge Valdano, der 1982 und 1986 in der argentinischen Nationalmannschaft spielte und später Trainer und Fußballdirektor von Real Madrid war. (Valdanos Buch ‚Über Fußball’ wurde 2006 als ‚Fußballbuch des Jahres’ ausgezeichnet).

DFB.de: Die US-Literatur kennt eine Reihe großer Sportromane, etwa Malamuds 'The Natural' oder 'Underworld' und 'Endzone' von DeLilo. Warum fehlt noch der große deutsche Fußballroman?

Ostermaier: Baseball und Football haben mit Urmythen der amerikanischen Gesellschaft zu tun, mit dem Pastoralen oder der 'Frontier', der Gewinnung des Westens. Dazu sind beide Sportarten hochgradig demokratisch, sie bieten allen möglichen Körperformen einen Platz zum Mitspielen. Vielleicht liegt das Vakuum hinsichtlich eines großen deutschen Fußballromans auch einfach daran, dass nur Männer sich für Fußball interessieren, aber nur Frauen lesen.

DFB.de: Sie waren Hausautor am Wiener Burgtheater, zuletzt wurde ihr literarisches Gesamtwerk mit dem Literaturpreis der 'WELT' ausgezeichnet. Seit Gründung der Autonama stehen sie im deutschen Tor. Immer noch Lust am Kicken, Herr Ostermaier?

Ostermaier: Natürlich ist es völlig unvernünftig, als über 40-Jähriger sich immer noch zwischen die Füße zu werfen. Es ist einfach eine wunderbare Verlängerung der Kindheit. Schriftsteller sind bedingt durch die Aufgabe Einzelgänger, aber durch die Autonama bietet sich uns ein wunderschönes Gemeinschaftserlebnis. Wenn man zusammen in kurzen Hosen Fußball gespielt hat, ist die Diskussion, auch über Literatur und Politik, danach eine ganz andere. Fußball schafft Herzlichkeit und Unmittelbarkeit, das kann der Kulturbetrieb nicht in der Art leisten.

DFB.de: Und das Streitgespräch auf dem Platz – nach einem Fehlpass oder einem Torwartfehler – ist dann auf rhetorisch hohem Niveau?

Ostermaier: Ich komme eher aus der Kahn-Schule und bevorzuge die direkte Ansprache.

Zur Person: Der ehemalige Fußballprofi Masternak hat sich in Polen als Schriftsteller einen Namen gemacht, die Verfilmung seines neuesten Buches kommt dort gerade in die Kinos. Außerdem ist er polnischer Meister im Matschfußball, einer schmutzigen Angelegenheit im knöcheltiefen Schlamm. Zhadan gehört zu den prägenden Lyrikern und Autoren der Ukraine. Der Fußballfan aus Leidenschaft zählt sich zur "Generation, die ihre Lebensweisheit von Maradonas Spiel gelernt hat". Er lebt in Charkiw, ist Anhänger von Metallist, und wird natürlich im Stadion sein, wenn die deutsche Mannschaft am 13. Juni im zweiten Gruppenspiel auf die Niederlande trifft. Albert Ostermaier, zwischen 2003 und 2009 Hausautor am Wiener Burgtheater, steht seit 2005 im Tor der Autonama. Seine "Ode an Oliver Kahn" dürfte das bekannteste deutsche Fußball-Gedicht sein.