Erster Sieg in Wembley: Die Geburtsstunde der Jahrhundertelf

Heute vor 50 Jahren gewann die deutsche Nationalmannschaft im Wembley-Stadion gegen England. Mit 3:1. In einem berauschenden Stil. Die Art und Weise in Verbindung mit dem Fakt, dass es der erste Sieg überhaupt im Mutterland des Fußballs war, machte den Abend des 29. April 1972 zum Mythos. DFB.de blickt zurück auf eins der größten Länderspiele der DFB-Geschichte.

Auf dem Weg zum ersten EM-Titel 1972 musste Deutschland als letzte Hürde die Engländer nehmen. Das Viertelfinale wurde in Hin- und Rückspiel ausgetragen. Als es am 12. Januar in Zürich ausgelost wurde und Deutschland auf England erwischte, war der Aufschrei groß: "Schlimmer ging's nicht, England!", titelte der kicker entsetzt. Denn im Mutterland des Fußballs hatte die Nationalmannschaft noch nie gewonnen - fünf Spiele, fünf Niederlagen, darunter die höchste überhaupt, ein 0:9 in Oxford anno 1909. Auch hatten die Engländer in ihrer Historie erst vier Heimspiele verloren, alles eher unbedeutende Testspiele. Die Heimspiele fanden regelmäßig im Londoner Wembley-Stadion statt, in dem sie 1966 Weltmeister geworden waren. Diese Festung galt bis in jene Tage als schier uneinnehmbar.

Es war das Los, das keiner wollte. Auch weil sich manche diese Paarung besser als Finale vorstellen konnten. Bei der Endrunde in Belgien sah man später jedenfalls trotz eines weiteren Glanzauftritts der Deutschen im Finale kein besseres Spiel mehr. Es prickelte gewaltig vor diesem Viertelfinale, allein schon wegen der Rivalität, die durch die beiden zurückliegenden WM-Endrunden entstanden war. Revanche wollten beide - Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970.

"Lasst die Angst zuhause"

Doch mit einer Sternstunde rechnete im DFB-Lager niemand. Der Pessimismus wuchs in den Monaten nach der Auslosung bis zum Anpfiff geradezu täglich. Personal- und Formprobleme bei den "Block-Mächten" aus München und Mönchengladbach drückten die Stimmung. Der kicker titelte über seinen Vorschaubericht beinahe flehentlich: "Lasst die Angst zu Hause!" Leicht gesagt. Bezeichnend ist der von ihm selbst oft bestätigte Satz von Regisseur Günter Netzer, der in der Kabine zu Franz Beckenbauer sagte: "Du, wenn wir heute keine fünf Tore kriegen, haben wir ein gutes Resultat erzielt."

Nach 13 Spielen binnen 36 Tagen gingen die Münchner auf dem Zahnfleisch, Torjäger Gerd Müller sprach von "verbrauchten Kraftreserven" und die Zahlen logen ohnehin nicht. Angesichts deftiger Packungen (1:5 im Pokal in Köln, 0:3 in Duisburg, 0:2 in Glasgow) war die Stimmung der dominanten Bayern-Fraktion, sie stellten sechs Spieler, am Boden. Zu allem Übel hatte sich Torwart Sepp Maier beim Europacup-Aus in Glasgow verletzt. Er wachte am Spieltag mit dickem Ellenbogen auf und musste in Wembley mit Schaumverband auflaufen, was die Ärzte geheim hielten.

Lange Ausfallliste für Bundestrainer Schön

Bundestrainer Helmut Schön hatte Sorgen genug und wieder mal seine Magenschmerzen, auf der Ausfallliste standen die Stammkräfte Berti Vogts, Wolfgang Overath und Wolfgang Weber sowie die Schalker Skandal-Sünder Klaus Fichtel und Stan Libuda. Und so nahm Schön zwei gänzlich unerfahrene Spieler mit nach London: Gladbachs Rainer Bonhof und Duisburgs Michael Bella "drohte" ausgerechnet in Wembley ihr Länderspiel-Debüt.

So weit kam es zwar nicht, aber Risiko ging Schön dennoch: In der Not setzte er auf die Jugend aus dem Stall des FC Bayern. Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Hoeneß bestritt erst sein zweites Länderspiel, Breitner sein viertes, Stopper Schwarzenbeck gab zum neunten Mal den "Putzer des Kaisers".

Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister von 1966: Gordon Banks, Bobby Moore, Alan Ball, Martin Peters und der gefürchtete Geoff Hurst, der gegen Horst-Dieter Höttges im Finale drei Tore erzielt hatte. Höttges war auch wieder dabei, er und Linksaußen Siggi Held von Regionalligist Kickers Offenbach schraubten den Altersschnitt noch etwas in die Höhe. Dennoch waren die Deutschen (25 Jahre im Schnitt) fast vier Jahre jünger. Da passte das Trikot ganz gut zu ihrer jugendlichen Frische: Sie trugen Grün an diesem regnerischen April-Samstag, was fortan als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machte die deutsche Nationalmannschaft eines ihrer besten Spiele überhaupt, manche sagen: das beste.

96.000 Fans im Wembley-Stadion

Es bekommt die Kulisse, die es verdient. 96.000 Zuschauer*innen haben ein Ticket ergattert, darunter 12.000 Deutsche. In der Heimat sitzen 22 Millionen vor den Bildschirmen und ärgern sich zunächst mal über eine Tonstörung, die während der Nationalhymnen und der ersten fünf Minuten herrscht. So bleibt den Zuschauern ein Kommentar von Werner Schneider zu den turbulenten Szenen vor dem deutschen Tor erspart. Ausgerechnet Beckenbauer hat mit einem Fehlpass eine unbeschreibliche Szene eingeleitet, fast 30 Sekunden herrscht Gefahr vor Maiers Tor. Auch der zweite Star des Abends, Günter Netzer, hat einen Fehlstart. Der erste Ball springt ihm weg. In beiden Fällen ist es kein schlechtes Omen, wie sich zeigen wird. Der Ball läuft fortan wie am Schnürchen. Es wird ein Abend für Künstler. Günter Netzer erinnert sich: "Die Bedingungen an diesem Abend waren perfekt. Dieser einzigartige Rasen, wie ein Billardtisch. Leichter Nieselregen, und dazu die unglaubliche Atmosphäre dieses Stadions."

In der 14. Minute feuert der Frankfurter Jürgen Grabowski aus 20 Metern drauf, es gibt Ecke. Deren drei in Folge erhalten danach die Engländer, die zumindest diese Disziplin gewinnen werden (14:4). Doch das Spiel machen die Gäste. Libero Beckenbauer stößt immer wieder nach vorne, prüft Banks mit einem Aufsetzer (20.). Kommentator Schneider sagt schon nach einer Viertelstunde: "Die deutsche Mannschaft ist bisher sehr gut, muss ich sagen, sie spielt mit." Und das schien mehr zu sein, als allgemein erwartet worden ist. Auch Englands Trainer Sir Alf Ramsey staunt: "Ich war überrascht, dass die Deutschen uns sofort angriffen."

Nach einem Missverständnis in der englischen Abwehr setzt Siggi Held Uli Hoeneß ein, und der zieht mit rechts aus zehn Metern ab. Leicht abgefälscht fliegt der Ball ins linke Eck aus Sicht des Schützen (26.). Reporter Schneider wird immer euphorischer: "Die deutsche Mannschaft spielt ganz hervorragend. Das Mittelfeld gehört der deutschen Mannschaft." Dort wirbeln zwei von fünf im Aufgebot stehende Spieler von Meister Mönchengladbach, Netzer und sein "Wasserträger" Herbert Wimmer. Der Dritte im Bunde ist Hoeneß.

Beckenbauer und Netzer zelebrieren "Ramba-Zamba-Fußball"

Unterstützt werden sie von Beckenbauer, dessen Wechselspiel mit Netzer nicht abgesprochen ist mit Schön, sondern der Intuition zweier Genies des Weltfußballs entspringt. Man wird es "Ramba-Zamba-Fußball" nennen, nach einer Schlagzeile einer Boulevardzeitung. Weil Maier einen Hurst-Kopfball aus kürzester Distanz pariert (30.), geht es mit 0:1 in die Kabinen. Wembley ist vom Donner gerührt, es herrscht die Stille wie in einer Kathedrale. Nur die Deutschen machen sich bemerkbar und "haben den Engländern Gesangsunterricht gegeben", wie Schneider anmerkt.

In der 53. Minute sind die Deutschen empört. Schiedsrichter Robert Helies aus Frankreich ignoriert ein Foul von Hunter an Gerd Müller, das hätte Elfmeter geben müssen. England macht nun Druck, tauscht Geoff Hurst gegen Marsh aus und hat Pech: Hughes' abgefälschter Schuss landet auf der Latte (62.). England hat nun mehr Ballbesitz, aber das Spiel der Briten ist zu einfallslos. Wissenschaftler*innen werden 2010 ermitteln, dass die Pässe der Deutschen eine Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde haben, die englischen nur 1,64. Moderne trifft Vergangenheit.

"Netzer schwang den Taktstock, und alle tanzten nach seiner Melodie"

Dennoch: Sepp Maier wird in der zweiten Hälfte häufiger geprüft als Gordon Banks. Aber wenn Netzer mit Riesenschritten durchs Mittelfeld marschiert, ist mehr Gefahr im Verzug, als wenn die englischen Verteidiger stupide ihre Flanken vors Tor schlagen. Der bekannte Sportautor Ulfert Schröder schrieb: "Wenn Fußball etwas mit Intelligenz zu tun hat – und das möchte man doch wohl voraussetzen –, dann war nach diesem Spiel festzustellen, dass die Engländer in der letzten Zeit viel weniger gelernt hatten als die Deutschen. In kaum einem Bundesligaspiel hat dieser Netzer so viel Spielraum, wie er es im Wembley-Stadion hatte." Das war Alf Ramseys Kardinalfehler.

"Netzer schwang den Taktstock, und alle tanzten nach seiner Melodie, auch Franz Beckenbauer an diesem Tag", schrieb der Sportjournalist Ludger Schulze in seinem Buch "Die Mannschaft". Das Faszinierende an dieser Partie ist auch in der Rückschau nach fast 50 Jahren das Tempo. Wie in einem typischen englischen Ligaspiel geht es unentwegt rauf und runter, es gibt keine Unterbrechungen und keine Ruhephasen. Niemand tritt auf den Ball um zu signalisieren: Macht mal langsam! Es gibt in 90 Minuten nur eine einzige Abseitsposition, keine Mannschaft kommt auf den Gedanken, das Publikum mit dem taktischen Mittel einer Abseitsfalle zu verärgern.

Müller verzichtet auf Elfmeter

Es regiert die pure Lust am Spiel. Und so fallen noch drei Tore in der letzten Viertelstunde. Zunächst gleicht England durch Francis Lee aus, weil Sepp Maier einen Schuss von Colin Bell aus kurzer Distanz nicht festhalten kann. Doch für Maier gelten wegen seiner Verletzung – immer wieder greift er sich an den Ellenbogen – mildernde Umstände.

1:1 also nach 77 Minuten, und Kommentator Schneider sagt der Heimat: "Wenn man gerecht ist, muss man sagen: Es ist sicherlich nicht unverdient." Die Deutschen wollen aber einen höheren Lohn für ihren Glanzauftritt. Die Engländer können gar nicht anders, als auf Sieg zu spielen, und so geht die wilde Hatz weiter. Gerd Müller schickt Linksaußen Siggi Held steil, der große Bobby Moore kann ihn nur mit einem Foul bremsen. Auf der Strafraumlinie, die bekanntlich zum Strafraum gehört –  also Elfmeter (84.). Müller ist der festgelegte Schütze, aber der "Bomber der Nation" bekommt weiche Knie und signalisiert Netzer: "Mach du!"

Netzer schießt in Gladbach stets die Elfmeter, und da ihm alles gelungen ist an diesem Tag, an dem ihn die Fans in Sprechchören feiern, traut er sich den Schuss zu. Gordon Banks ahnt seine Ecke, aber zu Netzers Glück ist der Schuss scharf genug. Vom Innenpfosten prallt der Ball ins Netz – 1:2. Es ist das Glück des Tüchtigen. Man wird hinterher vom besten der 37 Netzer-Länderspiele sprechen.

Netzer kommt "aus der Tiefe des Raumes"

Der FAZ-Feuilletonist Karl-Heinz Bohrer setzte sich mit seiner Formulierung vom "aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßenden Netzer" selbst ein Denkmal. Hier noch einmal zum Nachlesen der Wortlaut: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley."

38 Jahre später liefern Wissenschaftler*innen der Kölner Sporthochschule weitere Belege von Netzers Extraklasse an jenem Tag. Im Auftrag einer Zeitschrift sezieren sie das Spiel und stellen fest: Netzer hat 99 Ballkontakte, davon 88 Offensivaktionen und 64 angekommene Pässe – jeweils Bestwerte aller 23 eingesetzten Spieler. Die Werte von Gerd Müller sind in jenen Tagen nur in Ordnung, wenn er ein Tor schießt. Er hebt es sich bis zur 89. Minute auf, als er sich nach Hoeneß' Pass um seine Gegenspieler dreht und flach einschießt. "Müller – ein typisches Müller-Tor. Drehen und schießen, das ist eins", huldigt Werner Schneider seiner Handlungsschnelligkeit. Nun ist es Fakt: Der erste deutsche Sieg in Wembley ist vollbracht. Auf und neben dem Platz bestimmen die Deutschen die Szenerie. Deutsches Liedgut ("So ein Tag, so wunderschön wie heute") dringt in die Wohnstuben.

Als es vorbei ist, sind die Künstler überwältigt von ihrem eigenen Werk. "Unfassbar" stammelt Netzer unentwegt, DFB-Präsident Hermann Neuberger fühlte sich "wie im Traum". Im Rückspiel von Berlin reichte mit einem 0:0 eine weniger traumhafte Leistung zum Erreichen der Endrunde, aus der Deutschland als Sieger hervorging. Danach war vom "Fußball 2000" die Rede.

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Heute vor 50 Jahren gewann die deutsche Nationalmannschaft im Wembley-Stadion gegen England. Mit 3:1. In einem berauschenden Stil. Die Art und Weise in Verbindung mit dem Fakt, dass es der erste Sieg überhaupt im Mutterland des Fußballs war, machte den Abend des 29. April 1972 zum Mythos. DFB.de blickt zurück auf eins der größten Länderspiele der DFB-Geschichte.

Auf dem Weg zum ersten EM-Titel 1972 musste Deutschland als letzte Hürde die Engländer nehmen. Das Viertelfinale wurde in Hin- und Rückspiel ausgetragen. Als es am 12. Januar in Zürich ausgelost wurde und Deutschland auf England erwischte, war der Aufschrei groß: "Schlimmer ging's nicht, England!", titelte der kicker entsetzt. Denn im Mutterland des Fußballs hatte die Nationalmannschaft noch nie gewonnen - fünf Spiele, fünf Niederlagen, darunter die höchste überhaupt, ein 0:9 in Oxford anno 1909. Auch hatten die Engländer in ihrer Historie erst vier Heimspiele verloren, alles eher unbedeutende Testspiele. Die Heimspiele fanden regelmäßig im Londoner Wembley-Stadion statt, in dem sie 1966 Weltmeister geworden waren. Diese Festung galt bis in jene Tage als schier uneinnehmbar.

Es war das Los, das keiner wollte. Auch weil sich manche diese Paarung besser als Finale vorstellen konnten. Bei der Endrunde in Belgien sah man später jedenfalls trotz eines weiteren Glanzauftritts der Deutschen im Finale kein besseres Spiel mehr. Es prickelte gewaltig vor diesem Viertelfinale, allein schon wegen der Rivalität, die durch die beiden zurückliegenden WM-Endrunden entstanden war. Revanche wollten beide - Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970.

"Lasst die Angst zuhause"

Doch mit einer Sternstunde rechnete im DFB-Lager niemand. Der Pessimismus wuchs in den Monaten nach der Auslosung bis zum Anpfiff geradezu täglich. Personal- und Formprobleme bei den "Block-Mächten" aus München und Mönchengladbach drückten die Stimmung. Der kicker titelte über seinen Vorschaubericht beinahe flehentlich: "Lasst die Angst zu Hause!" Leicht gesagt. Bezeichnend ist der von ihm selbst oft bestätigte Satz von Regisseur Günter Netzer, der in der Kabine zu Franz Beckenbauer sagte: "Du, wenn wir heute keine fünf Tore kriegen, haben wir ein gutes Resultat erzielt."

Nach 13 Spielen binnen 36 Tagen gingen die Münchner auf dem Zahnfleisch, Torjäger Gerd Müller sprach von "verbrauchten Kraftreserven" und die Zahlen logen ohnehin nicht. Angesichts deftiger Packungen (1:5 im Pokal in Köln, 0:3 in Duisburg, 0:2 in Glasgow) war die Stimmung der dominanten Bayern-Fraktion, sie stellten sechs Spieler, am Boden. Zu allem Übel hatte sich Torwart Sepp Maier beim Europacup-Aus in Glasgow verletzt. Er wachte am Spieltag mit dickem Ellenbogen auf und musste in Wembley mit Schaumverband auflaufen, was die Ärzte geheim hielten.

Lange Ausfallliste für Bundestrainer Schön

Bundestrainer Helmut Schön hatte Sorgen genug und wieder mal seine Magenschmerzen, auf der Ausfallliste standen die Stammkräfte Berti Vogts, Wolfgang Overath und Wolfgang Weber sowie die Schalker Skandal-Sünder Klaus Fichtel und Stan Libuda. Und so nahm Schön zwei gänzlich unerfahrene Spieler mit nach London: Gladbachs Rainer Bonhof und Duisburgs Michael Bella "drohte" ausgerechnet in Wembley ihr Länderspiel-Debüt.

So weit kam es zwar nicht, aber Risiko ging Schön dennoch: In der Not setzte er auf die Jugend aus dem Stall des FC Bayern. Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Hoeneß bestritt erst sein zweites Länderspiel, Breitner sein viertes, Stopper Schwarzenbeck gab zum neunten Mal den "Putzer des Kaisers".

Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister von 1966: Gordon Banks, Bobby Moore, Alan Ball, Martin Peters und der gefürchtete Geoff Hurst, der gegen Horst-Dieter Höttges im Finale drei Tore erzielt hatte. Höttges war auch wieder dabei, er und Linksaußen Siggi Held von Regionalligist Kickers Offenbach schraubten den Altersschnitt noch etwas in die Höhe. Dennoch waren die Deutschen (25 Jahre im Schnitt) fast vier Jahre jünger. Da passte das Trikot ganz gut zu ihrer jugendlichen Frische: Sie trugen Grün an diesem regnerischen April-Samstag, was fortan als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machte die deutsche Nationalmannschaft eines ihrer besten Spiele überhaupt, manche sagen: das beste.

96.000 Fans im Wembley-Stadion

Es bekommt die Kulisse, die es verdient. 96.000 Zuschauer*innen haben ein Ticket ergattert, darunter 12.000 Deutsche. In der Heimat sitzen 22 Millionen vor den Bildschirmen und ärgern sich zunächst mal über eine Tonstörung, die während der Nationalhymnen und der ersten fünf Minuten herrscht. So bleibt den Zuschauern ein Kommentar von Werner Schneider zu den turbulenten Szenen vor dem deutschen Tor erspart. Ausgerechnet Beckenbauer hat mit einem Fehlpass eine unbeschreibliche Szene eingeleitet, fast 30 Sekunden herrscht Gefahr vor Maiers Tor. Auch der zweite Star des Abends, Günter Netzer, hat einen Fehlstart. Der erste Ball springt ihm weg. In beiden Fällen ist es kein schlechtes Omen, wie sich zeigen wird. Der Ball läuft fortan wie am Schnürchen. Es wird ein Abend für Künstler. Günter Netzer erinnert sich: "Die Bedingungen an diesem Abend waren perfekt. Dieser einzigartige Rasen, wie ein Billardtisch. Leichter Nieselregen, und dazu die unglaubliche Atmosphäre dieses Stadions."

In der 14. Minute feuert der Frankfurter Jürgen Grabowski aus 20 Metern drauf, es gibt Ecke. Deren drei in Folge erhalten danach die Engländer, die zumindest diese Disziplin gewinnen werden (14:4). Doch das Spiel machen die Gäste. Libero Beckenbauer stößt immer wieder nach vorne, prüft Banks mit einem Aufsetzer (20.). Kommentator Schneider sagt schon nach einer Viertelstunde: "Die deutsche Mannschaft ist bisher sehr gut, muss ich sagen, sie spielt mit." Und das schien mehr zu sein, als allgemein erwartet worden ist. Auch Englands Trainer Sir Alf Ramsey staunt: "Ich war überrascht, dass die Deutschen uns sofort angriffen."

Nach einem Missverständnis in der englischen Abwehr setzt Siggi Held Uli Hoeneß ein, und der zieht mit rechts aus zehn Metern ab. Leicht abgefälscht fliegt der Ball ins linke Eck aus Sicht des Schützen (26.). Reporter Schneider wird immer euphorischer: "Die deutsche Mannschaft spielt ganz hervorragend. Das Mittelfeld gehört der deutschen Mannschaft." Dort wirbeln zwei von fünf im Aufgebot stehende Spieler von Meister Mönchengladbach, Netzer und sein "Wasserträger" Herbert Wimmer. Der Dritte im Bunde ist Hoeneß.

Beckenbauer und Netzer zelebrieren "Ramba-Zamba-Fußball"

Unterstützt werden sie von Beckenbauer, dessen Wechselspiel mit Netzer nicht abgesprochen ist mit Schön, sondern der Intuition zweier Genies des Weltfußballs entspringt. Man wird es "Ramba-Zamba-Fußball" nennen, nach einer Schlagzeile einer Boulevardzeitung. Weil Maier einen Hurst-Kopfball aus kürzester Distanz pariert (30.), geht es mit 0:1 in die Kabinen. Wembley ist vom Donner gerührt, es herrscht die Stille wie in einer Kathedrale. Nur die Deutschen machen sich bemerkbar und "haben den Engländern Gesangsunterricht gegeben", wie Schneider anmerkt.

In der 53. Minute sind die Deutschen empört. Schiedsrichter Robert Helies aus Frankreich ignoriert ein Foul von Hunter an Gerd Müller, das hätte Elfmeter geben müssen. England macht nun Druck, tauscht Geoff Hurst gegen Marsh aus und hat Pech: Hughes' abgefälschter Schuss landet auf der Latte (62.). England hat nun mehr Ballbesitz, aber das Spiel der Briten ist zu einfallslos. Wissenschaftler*innen werden 2010 ermitteln, dass die Pässe der Deutschen eine Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde haben, die englischen nur 1,64. Moderne trifft Vergangenheit.

"Netzer schwang den Taktstock, und alle tanzten nach seiner Melodie"

Dennoch: Sepp Maier wird in der zweiten Hälfte häufiger geprüft als Gordon Banks. Aber wenn Netzer mit Riesenschritten durchs Mittelfeld marschiert, ist mehr Gefahr im Verzug, als wenn die englischen Verteidiger stupide ihre Flanken vors Tor schlagen. Der bekannte Sportautor Ulfert Schröder schrieb: "Wenn Fußball etwas mit Intelligenz zu tun hat – und das möchte man doch wohl voraussetzen –, dann war nach diesem Spiel festzustellen, dass die Engländer in der letzten Zeit viel weniger gelernt hatten als die Deutschen. In kaum einem Bundesligaspiel hat dieser Netzer so viel Spielraum, wie er es im Wembley-Stadion hatte." Das war Alf Ramseys Kardinalfehler.

"Netzer schwang den Taktstock, und alle tanzten nach seiner Melodie, auch Franz Beckenbauer an diesem Tag", schrieb der Sportjournalist Ludger Schulze in seinem Buch "Die Mannschaft". Das Faszinierende an dieser Partie ist auch in der Rückschau nach fast 50 Jahren das Tempo. Wie in einem typischen englischen Ligaspiel geht es unentwegt rauf und runter, es gibt keine Unterbrechungen und keine Ruhephasen. Niemand tritt auf den Ball um zu signalisieren: Macht mal langsam! Es gibt in 90 Minuten nur eine einzige Abseitsposition, keine Mannschaft kommt auf den Gedanken, das Publikum mit dem taktischen Mittel einer Abseitsfalle zu verärgern.

Müller verzichtet auf Elfmeter

Es regiert die pure Lust am Spiel. Und so fallen noch drei Tore in der letzten Viertelstunde. Zunächst gleicht England durch Francis Lee aus, weil Sepp Maier einen Schuss von Colin Bell aus kurzer Distanz nicht festhalten kann. Doch für Maier gelten wegen seiner Verletzung – immer wieder greift er sich an den Ellenbogen – mildernde Umstände.

1:1 also nach 77 Minuten, und Kommentator Schneider sagt der Heimat: "Wenn man gerecht ist, muss man sagen: Es ist sicherlich nicht unverdient." Die Deutschen wollen aber einen höheren Lohn für ihren Glanzauftritt. Die Engländer können gar nicht anders, als auf Sieg zu spielen, und so geht die wilde Hatz weiter. Gerd Müller schickt Linksaußen Siggi Held steil, der große Bobby Moore kann ihn nur mit einem Foul bremsen. Auf der Strafraumlinie, die bekanntlich zum Strafraum gehört –  also Elfmeter (84.). Müller ist der festgelegte Schütze, aber der "Bomber der Nation" bekommt weiche Knie und signalisiert Netzer: "Mach du!"

Netzer schießt in Gladbach stets die Elfmeter, und da ihm alles gelungen ist an diesem Tag, an dem ihn die Fans in Sprechchören feiern, traut er sich den Schuss zu. Gordon Banks ahnt seine Ecke, aber zu Netzers Glück ist der Schuss scharf genug. Vom Innenpfosten prallt der Ball ins Netz – 1:2. Es ist das Glück des Tüchtigen. Man wird hinterher vom besten der 37 Netzer-Länderspiele sprechen.

Netzer kommt "aus der Tiefe des Raumes"

Der FAZ-Feuilletonist Karl-Heinz Bohrer setzte sich mit seiner Formulierung vom "aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßenden Netzer" selbst ein Denkmal. Hier noch einmal zum Nachlesen der Wortlaut: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley."

38 Jahre später liefern Wissenschaftler*innen der Kölner Sporthochschule weitere Belege von Netzers Extraklasse an jenem Tag. Im Auftrag einer Zeitschrift sezieren sie das Spiel und stellen fest: Netzer hat 99 Ballkontakte, davon 88 Offensivaktionen und 64 angekommene Pässe – jeweils Bestwerte aller 23 eingesetzten Spieler. Die Werte von Gerd Müller sind in jenen Tagen nur in Ordnung, wenn er ein Tor schießt. Er hebt es sich bis zur 89. Minute auf, als er sich nach Hoeneß' Pass um seine Gegenspieler dreht und flach einschießt. "Müller – ein typisches Müller-Tor. Drehen und schießen, das ist eins", huldigt Werner Schneider seiner Handlungsschnelligkeit. Nun ist es Fakt: Der erste deutsche Sieg in Wembley ist vollbracht. Auf und neben dem Platz bestimmen die Deutschen die Szenerie. Deutsches Liedgut ("So ein Tag, so wunderschön wie heute") dringt in die Wohnstuben.

Als es vorbei ist, sind die Künstler überwältigt von ihrem eigenen Werk. "Unfassbar" stammelt Netzer unentwegt, DFB-Präsident Hermann Neuberger fühlte sich "wie im Traum". Im Rückspiel von Berlin reichte mit einem 0:0 eine weniger traumhafte Leistung zum Erreichen der Endrunde, aus der Deutschland als Sieger hervorging. Danach war vom "Fußball 2000" die Rede.

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