Das Jahrhundertspiel wird 50

Millionen Fußballspiele hat es im 20. Jahrhundert gegeben auf diesem Globus, Hunderte tragen den Stempel der Unvergesslichkeit, auch Dutzende der bis dato 645 WM-Partien. Aber es kann nur ein Jahrhundertspiel geben, und auf der ganzen Welt weiß man, wovon die Rede ist: vom WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien am 17. Juni 1970 in Mexiko-Stadt - heute vor 50 Jahren. DFB.de blickt zurück.

Man schien es 1947 gesehen zu haben, als das Fußball-Mutterland England eine FIFA-Auswahl mit 6:1 bezwang und seine Überlegenheit demonstrierte. 1953 hatte man es ganz gewiss gesehen, als, wieder in Wembley, die Ungarn um den großen Ferenc Puskás den Tempel entweihten und als erste Mannschaft dort gewannen - mit 6:3. Dann kam die WM 1970 in Mexiko und das dramatische 3:2 nach Verlängerung der Deutschen gegen England.

Das musste es nun wirklich gewesen sein, das Spiel des Jahrhunderts. Doch drei Tage später landete das Etikett schon wieder im Papierkorb, denn dann fand im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien statt. Es endete nach 120 nervenzerfetzenden Minuten mit 4:3 für die Italiener. Zweimal wechselte die Führung, und wohl 50-mal hatten die Fans, ob Tifosi oder "Aleman", den Torschrei auf den Lippen. Bis heute sind fünf Treffer in einer Verlängerung eines WM-Spiels Rekord. Aber es waren nicht nur die erzielten Tore, es waren auch die Tore, die nicht fielen, die Elfmeter, die nicht gegeben wurden, die vielen kleinen Einzelschicksale, die dieses Spiel so einmalig machten. Und die Tatsache, dass es alle Erwartungen übertraf.

"Fast wie zu Hause, wenn es nicht so warm wäre"

Von den Italienern hatte man in Mexiko noch keine guten Spiele gesehen. Mit einem einzigen Tor waren sie durch die Gruppenspiele marschiert, es war die hohe Zeit des Catenaccios. Die Deutschen standen an der Schwelle zu ihrer größten Fußball-Ära. Sie mochten es geahnt haben, seit diesem 17. Juni wussten sie, dass sie zu Großem fähig waren - und die ganze Welt war Zeuge. Es gab auch danach noch Fußballdramen, aber niemand wagte mehr, am Ehrenplatz dieses Spiels zu rütteln. Schließlich war Jahre später eine Gedenktafel am Aztekenstadion angebracht worden, die alle Diskussionen verbat: "17 junio 1970. Italia - Alemania 4:3. Juego del siglio." Eine mexikanische Zeitung hatte dies schon am nächsten Tag gefordert. In Deutschland wurden damals vierfarbige Poster gedruckt zu Ehren dieses Spiels. Da verwundert es nicht, dass 50 der größten Fußballer aller Zeiten 30 Jahre später einstimmig diese Partie zu dem wählten, was sie schon mit dem Abpfiff geworden war - das Spiel des Jahrhunderts.

Erst wenige Stunden vor der Abreise nach Mexiko-Stadt erfuhren die Deutschen, wohin sie der Weg führen sollte. Der Spielort wurde erst nach den Viertelfinals festgelegt, eigentlich hatten sie mit Guadalajara gerechnet. Aber mit der Begründung, dass dann nur einer der vier Halbfinalisten reisen müsste, wurde das Spiel gegen Italien von der FIFA in die Hauptstadt gelegt. Die besagten Reisenden waren also die Deutschen, die von Leon drei Stunden nach Mexiko-Stadt flogen und dann zwei Stunden mit dem Bus weiter nach Puebla fuhren, wo sie im "Haus der Engel" Quartier bezogen. Gerd Müller freute sich über die schneebedeckten Berggipfel, die das Panorama bildeten. "Fast wie zu Hause, wenn es nicht so warm wäre", scherzte der Torjäger des FC Bayern München.

Schnellinger: Trikottausch schon vor dem Anpfiff

Am Spieltag waren es schon bei der Abfahrt 32 Grad Celsius, stickige Luft drückte im Bus auf die Stimmung. Mit einer Polizeieskorte traf die deutsche Auswahl um 12.15 Uhr Ortszeit an diesem Mittwoch in Mexiko-Stadt ein, wo die Italiener schon seit dem Viertelfinale gegen Mexiko Quartier bezogen hatten. Sie waren nicht nur deshalb im Vorteil: Ihr Spiel war nicht in die Verlängerung gegangen, und sie hatten sich schon akklimatisiert, denn Mexiko-Stadt liegt 600 Meter höher (2200 Meter) als León. Im Übrigen hatte der amtierende Europameister seit 1939 nicht mehr gegen die Deutschen verloren und war damals seit 17 Länderspielen ungeschlagen. Trainer Ferruccio Valcareggi freute sich schon: "Die Deutschen sind uns als Halbfinalgegner angenehmer als England."

Der Anpfiff war für 16 Uhr angesetzt, für die Zuschauer in der Heimat wurde es eine Nachtschicht - hier begann das Drama um 23 Uhr. Bundestrainer Helmut Schön baute die siegreiche Startelf auf drei Positionen um, wobei nur Schulz seinen Einsatz einer Verletzung verdankte - der von Höttges. Zudem spielte Patzke für Fichtel, und Grabowski, der bisher in allen Spielen als Joker zum Einsatz gekommen war, verdrängte Rechtsaußen Libuda. Bei den Italienern fehlte überraschend Gianni Rivera, Europas Fußballer des Jahres 1969, den Beckenbauer beschatten sollte. Für ihn spielte Sandro Mazzola. Ansonsten vertraute Valcareggi der Mannschaft, die die Mexikaner 4:1 besiegt hatte: Vier Profis von Überraschungsmeister Cagliari, sechs Mailänder und ein Turiner bildeten die "Squadra Azzurra".

Karl-Heinz Schnellinger kannte sie alle, auch er war 1970 ein Mailänder und musste schon vor dem Anpfiff sein Trikot tauschen. Es waren die letzten Herzlichkeiten, die die Italiener erfuhren an diesem Tag. Die große Mehrheit der Zuschauer, offiziell wurden 102.444 gezählt, buhte sie bei der Verlesung der Namen aus. Die Quittung für den Sieg gegen Mexiko und die schlechten Spiele zuvor. Für die Deutschen hatten sie nur Beifall übrig.

"Alemania willkommen!"

Auf einer Bande direkt neben der Eckfahne stand: "Alemania willkommen!" Einige Deutsche warfen zudem Blumen ins Publikum und eroberten weitere Herzen. Bei den Nationalhymnen sang keiner, weder hüben noch drüben. In Deutschland war die Zeit des linken Aufbruchs, der Studentenunruhen und der APO - und nicht die des Patriotismus. Aber es war der 17. Tag der Deutschen Einheit, und die Spieler wussten, dass ihnen auch in der DDR viele Menschen zusahen. Im Westen saßen rund 35 Millionen Menschen vor den TV-Geräten, um ARD-Reporter Ernst Huberty zu lauschen und dem Team um Kapitän Uwe Seeler die Daumen zu drücken. Zwei junge Männer aus Franken ließen dafür sogar ihr Unfallauto am Straßenrand stehen und rannten in die nächstbeste Kneipe mit Fernsehgerät. In Rom ließ ein Taxifahrer eine Schwangere im Wagen zurück, um die Übertragung sehen zu können. Als er zurückkam, waren sie zu dritt. Das gigantische Spiel rechtfertigte eben fast alle Sünden.

Es begann mit Donner, ein Gewitter kündigte sich an und die Journalisten registrierten besorgt, dass die Tropfen auch auf ihre Schreibmaschinen fielen. Auf dem Platz wurden 50 Grad gemessen, weshalb wohl in verschiedenen Rückblicken davon die Rede ist, man habe um zwölf Uhr mittags angepfiffen. Auch Uwe Seeler erlag in seinen Memoiren diesem Irrtum, und das Epos des kürzlich gestorbenen Schriftstellers Ror Wolf über dieses Spiel hat einen kleinen Schönheitsfehler. "Zwölf Uhr in Mexiko, in einer heißen / zerpfiffnen Schüssel: Celsius sechzig Grad. / Es kochte furchtbar, doch das Resultat / gilt als Bonbon in den Expertenkreisen", so beginnt Wolfs Gedicht.

Beckenbauer spielt mit Arm in der Schlinge

Und nun beginnt auch das Spiel. Wer alle Chancen nachlesen will, möge sich den kicker vom 18. Juni 1970 besorgen. Die Fachzeitschrift kam damals mit einer Seite nicht aus. Was aber ist wirklich geblieben von diesem "Kampf wie aus den Heldensagen", um mit Ror Wolf zu sprechen? Natürlich der frühe Rückstand durch Boninsegna nach acht Minuten, dem die Deutschen bis in die Nachspielzeit nachlaufen. Natürlich Schiedsrichter Arturo Yamasaki, der den Deutschen drei Elfmeter versagt, zwei an Beckenbauer und einen an Seeler. "Der Schiedsrichter ist immer dann energisch, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums begangen wurde. Innerhalb des Strafraums, da scheint ihn panische Angst zu überkommen", tadelt ihn Huberty. Für Radioreporter Oskar Klose wird Deutschland "offensichtlich benachteiligt."

Beckenbauer muss sich nach dem nur mit Freistoß geahndeten Foul fast eine Stunde mit einer schmerzhaften Schulterverletzung herumschlagen. Das eindringliche Bild vom jungen Kaiser mit dem Arm in der Schlinge, die ab der Verlängerung um seine Schulter hängt, gehört auch zum Erbe dieses Spiels. Es symbolisiert den unbedingten Kampf einer Mannschaft gegen das Pech - und das Unrecht, in das sie sich zusehends versetzt sieht. Die Italiener schinden Zeit, wo es nur geht, der Schiedsrichter tut nichts dagegen und die Sonne brennt unbarmherzig. Ganz besonders für die, die ein Tor aufholen müssen.

Nach der Halbzeit kommt Libuda für Löhr, der erstmals seine weißen Glückssocken nicht trägt, worauf er seine unglückliche Leistung später zurückführen wird. Abwehrchef Schnellinger bittet Co-Trainer Jupp Derwall in der Kabine um ein Zeichen, wenn er nach vorne gehen soll - Schön erfährt von dem Geheimabkommen nichts. Dann Wiederanpfiff: für einen einzigen Sturmlauf. Overath trifft die Latte, der Schuss des zweiten Jokers Held, der Patzke ablöst, wird von Facchetti artistisch aus dem Tor geschlagen. Als Seeler nachsetzt, wird er umgerissen. Es gibt wieder keinen Elfmeter. Die Massen spüren die Ungerechtigkeit, "Alemania" kommt es tausendfach von den Rängen. "Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück", sagt Kommentator Huberty.

"Ausgerechnet Schnellinger"

Als Italiens Torwart Albertosi Müller anschießt und der Ball auf der Linie tanzt, aber sich wieder vom Tor wegdreht, gibt auch Huberty auf: "Es soll nicht sein." Es läuft bereits die Nachspielzeit. Nun kommt Schnellinger, Derwall hat ihn mit Blicken nach vorne beordert. Schön hat es zwar gesehen, aber nicht verstanden und fragt seinen Assistenten pikiert: "Jupp, mit wem telefonierst du da?" In der 90. Minute, als Schön bereits dem Sport-Informations-Dienst an der Bank ein Interview gibt, macht sich das "Ferngespräch" bezahlt. Grabowski flankt von links vor das Tor, und der Mailänder wirft sich mit langem Bein in die Flugbahn des Balles. Er trifft, zum einzigen Mal in seinem Leben, für Deutschland. Hubertys Jubel ist Legende. "Schnellinger! Nein, nein, nein, nein. Schnellinger. 1:1. Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben."

In Deutschland schläft im Grunde niemand. Und wer es doch tut, wird gegen 0.45 Uhr vom Torjubel geweckt. Ein Kaufmann aus der Oberpfalz büßt dabei sein halbes Ohr ein, weil er vor Freude gegen eine Lampe gesprungen ist, die zersplittert. Ein Redakteur der Bild-Zeitung, der zu Testzwecken an ein EKG angeschlossen wurde, verzeichnet 139 Herzschläge in dieser Minute. "So erregt hatte sich noch nicht einmal der erste Mensch auf dem Mond gefühlt. Das Herz von Neil Armstrong schlug nur 120-mal in der Minute", stellt das Blatt fest.

Zweimal Müller in der Verlängerung

Dabei kommt das Beste erst noch. Die unglaubliche Verlängerung, vor der die auf dem Platz liegenden Spieler massiert werden. Einige haben Wadenkrämpfe. Kaum hat sie begonnen, da wird Müller, dessen unerbittlicher Bewacher Rosato ausgewechselt wurde, munter. Nach einer Ecke schießt er Deutschland in Führung, mit ganz wenig Kraft, aber umso mehr Instinkt. Sein Kullerball nach einem Missverständnis in der Abwehr der Italiener verendet schier hinter der Linie. "Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt", staunt Huberty, der eben noch gemutmaßt hat, dass eine Steigerung "ja wohl kaum noch möglich ist."

Doch lange währt die Freude nicht. Stürmer Held treibt sich bei einem Freistoß in der eigenen Abwehr herum und wehrt einen Ball mit der Brust vor die Beine von Burgnich ab - 2:2. Nun haben die Italiener wieder Oberwasser. Yamasaki übersieht ein Foul an Libuda, im Gegenzug erzielt Riva das 3:2. Da stehen sie nun am Anstoßkreis, Müller und Seeler, und Huberty bekommt Mitleid. "Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben." Fünf Minuten später sind sie es. Müller ist wieder zur Stelle, diesmal mit dem Haarschopf. Seeler hat mit seinem hochroten Kopf die Vorlage gegeben.

Vom 3:3 bis zum 3:4 dauert's nur 14 Sekunden

Doch wer sich beim 3:3 ein Bier aus der Küche geholt hat, nimmt den ersten Schluck, als es schon wieder 3:4 steht. Vom Anstoß weg schlagen die Italiener zu. 14 Sekunden dauert das nur, und kein Deutscher kommt an den Ball, ehe der eingewechselte Rivera den Vorhang für dieses Drama schließt. Nun kommt auch diese deutsche Mannschaft nicht mehr heran, sonst hätte es erstmals in der WM-Geschichte einen Losentscheid über einen Finalisten gegeben. Der Schlusspfiff bei mittlerweile angeschaltetem Flutlicht kommt für die entkräfteten Spieler einer Erlösung gleich, Domenghini muss sich sogar übergeben.

Die Zuschauer erheben sich von ihren Plätzen, applaudieren mit offenen Mündern. In Italien, wo man diese Partie nur "das verrückte Spiel" nennt, finden spontane Straßenfeste statt. In Wolfsburg ziehen 2000 italienische Arbeiter durch die Straßen und skandieren "Kartoffel kaputt - Spaghetti schmeckt gut." Sepp Maier dagegen will nie mehr Spaghetti essen, auch keine Pizza, so wütend ist er auf die Italiener. Bei anderen fließen die Tränen.

Im Kabinengang weint Ersatzspieler Wolfgang Weber, im Bus Berti Vogts - obwohl die jubelnden Mexikaner Spalier stehen. Alle spüren: Sie haben Großes geleistet, und nicht immer muss man dafür gewinnen. Als Helmut Schön zur Pressekonferenz kommt, applaudieren die Journalisten. Dann sagt er: "Ich habe unendlich viel erlebt im Fußball, aber diese Partie gegen Italien war an Spannung nicht zu überbieten." Kollege Valcareggi stöhnt: "Ich bin zu alt für solche Aufregungen." So oder so ähnlich sprachen sie alle. "Das hier war das Größte, was ich bisher erlebt habe", sagt Franz Beckenbauer. Und Sepp Maier ist vielleicht der Erste, der es ausspricht: "Das war das Spiel des Jahrhunderts."

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Millionen Fußballspiele hat es im 20. Jahrhundert gegeben auf diesem Globus, Hunderte tragen den Stempel der Unvergesslichkeit, auch Dutzende der bis dato 645 WM-Partien. Aber es kann nur ein Jahrhundertspiel geben, und auf der ganzen Welt weiß man, wovon die Rede ist: vom WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Italien am 17. Juni 1970 in Mexiko-Stadt - heute vor 50 Jahren. DFB.de blickt zurück.

Man schien es 1947 gesehen zu haben, als das Fußball-Mutterland England eine FIFA-Auswahl mit 6:1 bezwang und seine Überlegenheit demonstrierte. 1953 hatte man es ganz gewiss gesehen, als, wieder in Wembley, die Ungarn um den großen Ferenc Puskás den Tempel entweihten und als erste Mannschaft dort gewannen - mit 6:3. Dann kam die WM 1970 in Mexiko und das dramatische 3:2 nach Verlängerung der Deutschen gegen England.

Das musste es nun wirklich gewesen sein, das Spiel des Jahrhunderts. Doch drei Tage später landete das Etikett schon wieder im Papierkorb, denn dann fand im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien statt. Es endete nach 120 nervenzerfetzenden Minuten mit 4:3 für die Italiener. Zweimal wechselte die Führung, und wohl 50-mal hatten die Fans, ob Tifosi oder "Aleman", den Torschrei auf den Lippen. Bis heute sind fünf Treffer in einer Verlängerung eines WM-Spiels Rekord. Aber es waren nicht nur die erzielten Tore, es waren auch die Tore, die nicht fielen, die Elfmeter, die nicht gegeben wurden, die vielen kleinen Einzelschicksale, die dieses Spiel so einmalig machten. Und die Tatsache, dass es alle Erwartungen übertraf.

"Fast wie zu Hause, wenn es nicht so warm wäre"

Von den Italienern hatte man in Mexiko noch keine guten Spiele gesehen. Mit einem einzigen Tor waren sie durch die Gruppenspiele marschiert, es war die hohe Zeit des Catenaccios. Die Deutschen standen an der Schwelle zu ihrer größten Fußball-Ära. Sie mochten es geahnt haben, seit diesem 17. Juni wussten sie, dass sie zu Großem fähig waren - und die ganze Welt war Zeuge. Es gab auch danach noch Fußballdramen, aber niemand wagte mehr, am Ehrenplatz dieses Spiels zu rütteln. Schließlich war Jahre später eine Gedenktafel am Aztekenstadion angebracht worden, die alle Diskussionen verbat: "17 junio 1970. Italia - Alemania 4:3. Juego del siglio." Eine mexikanische Zeitung hatte dies schon am nächsten Tag gefordert. In Deutschland wurden damals vierfarbige Poster gedruckt zu Ehren dieses Spiels. Da verwundert es nicht, dass 50 der größten Fußballer aller Zeiten 30 Jahre später einstimmig diese Partie zu dem wählten, was sie schon mit dem Abpfiff geworden war - das Spiel des Jahrhunderts.

Erst wenige Stunden vor der Abreise nach Mexiko-Stadt erfuhren die Deutschen, wohin sie der Weg führen sollte. Der Spielort wurde erst nach den Viertelfinals festgelegt, eigentlich hatten sie mit Guadalajara gerechnet. Aber mit der Begründung, dass dann nur einer der vier Halbfinalisten reisen müsste, wurde das Spiel gegen Italien von der FIFA in die Hauptstadt gelegt. Die besagten Reisenden waren also die Deutschen, die von Leon drei Stunden nach Mexiko-Stadt flogen und dann zwei Stunden mit dem Bus weiter nach Puebla fuhren, wo sie im "Haus der Engel" Quartier bezogen. Gerd Müller freute sich über die schneebedeckten Berggipfel, die das Panorama bildeten. "Fast wie zu Hause, wenn es nicht so warm wäre", scherzte der Torjäger des FC Bayern München.

Schnellinger: Trikottausch schon vor dem Anpfiff

Am Spieltag waren es schon bei der Abfahrt 32 Grad Celsius, stickige Luft drückte im Bus auf die Stimmung. Mit einer Polizeieskorte traf die deutsche Auswahl um 12.15 Uhr Ortszeit an diesem Mittwoch in Mexiko-Stadt ein, wo die Italiener schon seit dem Viertelfinale gegen Mexiko Quartier bezogen hatten. Sie waren nicht nur deshalb im Vorteil: Ihr Spiel war nicht in die Verlängerung gegangen, und sie hatten sich schon akklimatisiert, denn Mexiko-Stadt liegt 600 Meter höher (2200 Meter) als León. Im Übrigen hatte der amtierende Europameister seit 1939 nicht mehr gegen die Deutschen verloren und war damals seit 17 Länderspielen ungeschlagen. Trainer Ferruccio Valcareggi freute sich schon: "Die Deutschen sind uns als Halbfinalgegner angenehmer als England."

Der Anpfiff war für 16 Uhr angesetzt, für die Zuschauer in der Heimat wurde es eine Nachtschicht - hier begann das Drama um 23 Uhr. Bundestrainer Helmut Schön baute die siegreiche Startelf auf drei Positionen um, wobei nur Schulz seinen Einsatz einer Verletzung verdankte - der von Höttges. Zudem spielte Patzke für Fichtel, und Grabowski, der bisher in allen Spielen als Joker zum Einsatz gekommen war, verdrängte Rechtsaußen Libuda. Bei den Italienern fehlte überraschend Gianni Rivera, Europas Fußballer des Jahres 1969, den Beckenbauer beschatten sollte. Für ihn spielte Sandro Mazzola. Ansonsten vertraute Valcareggi der Mannschaft, die die Mexikaner 4:1 besiegt hatte: Vier Profis von Überraschungsmeister Cagliari, sechs Mailänder und ein Turiner bildeten die "Squadra Azzurra".

Karl-Heinz Schnellinger kannte sie alle, auch er war 1970 ein Mailänder und musste schon vor dem Anpfiff sein Trikot tauschen. Es waren die letzten Herzlichkeiten, die die Italiener erfuhren an diesem Tag. Die große Mehrheit der Zuschauer, offiziell wurden 102.444 gezählt, buhte sie bei der Verlesung der Namen aus. Die Quittung für den Sieg gegen Mexiko und die schlechten Spiele zuvor. Für die Deutschen hatten sie nur Beifall übrig.

"Alemania willkommen!"

Auf einer Bande direkt neben der Eckfahne stand: "Alemania willkommen!" Einige Deutsche warfen zudem Blumen ins Publikum und eroberten weitere Herzen. Bei den Nationalhymnen sang keiner, weder hüben noch drüben. In Deutschland war die Zeit des linken Aufbruchs, der Studentenunruhen und der APO - und nicht die des Patriotismus. Aber es war der 17. Tag der Deutschen Einheit, und die Spieler wussten, dass ihnen auch in der DDR viele Menschen zusahen. Im Westen saßen rund 35 Millionen Menschen vor den TV-Geräten, um ARD-Reporter Ernst Huberty zu lauschen und dem Team um Kapitän Uwe Seeler die Daumen zu drücken. Zwei junge Männer aus Franken ließen dafür sogar ihr Unfallauto am Straßenrand stehen und rannten in die nächstbeste Kneipe mit Fernsehgerät. In Rom ließ ein Taxifahrer eine Schwangere im Wagen zurück, um die Übertragung sehen zu können. Als er zurückkam, waren sie zu dritt. Das gigantische Spiel rechtfertigte eben fast alle Sünden.

Es begann mit Donner, ein Gewitter kündigte sich an und die Journalisten registrierten besorgt, dass die Tropfen auch auf ihre Schreibmaschinen fielen. Auf dem Platz wurden 50 Grad gemessen, weshalb wohl in verschiedenen Rückblicken davon die Rede ist, man habe um zwölf Uhr mittags angepfiffen. Auch Uwe Seeler erlag in seinen Memoiren diesem Irrtum, und das Epos des kürzlich gestorbenen Schriftstellers Ror Wolf über dieses Spiel hat einen kleinen Schönheitsfehler. "Zwölf Uhr in Mexiko, in einer heißen / zerpfiffnen Schüssel: Celsius sechzig Grad. / Es kochte furchtbar, doch das Resultat / gilt als Bonbon in den Expertenkreisen", so beginnt Wolfs Gedicht.

Beckenbauer spielt mit Arm in der Schlinge

Und nun beginnt auch das Spiel. Wer alle Chancen nachlesen will, möge sich den kicker vom 18. Juni 1970 besorgen. Die Fachzeitschrift kam damals mit einer Seite nicht aus. Was aber ist wirklich geblieben von diesem "Kampf wie aus den Heldensagen", um mit Ror Wolf zu sprechen? Natürlich der frühe Rückstand durch Boninsegna nach acht Minuten, dem die Deutschen bis in die Nachspielzeit nachlaufen. Natürlich Schiedsrichter Arturo Yamasaki, der den Deutschen drei Elfmeter versagt, zwei an Beckenbauer und einen an Seeler. "Der Schiedsrichter ist immer dann energisch, wenn ein Foul außerhalb des Strafraums begangen wurde. Innerhalb des Strafraums, da scheint ihn panische Angst zu überkommen", tadelt ihn Huberty. Für Radioreporter Oskar Klose wird Deutschland "offensichtlich benachteiligt."

Beckenbauer muss sich nach dem nur mit Freistoß geahndeten Foul fast eine Stunde mit einer schmerzhaften Schulterverletzung herumschlagen. Das eindringliche Bild vom jungen Kaiser mit dem Arm in der Schlinge, die ab der Verlängerung um seine Schulter hängt, gehört auch zum Erbe dieses Spiels. Es symbolisiert den unbedingten Kampf einer Mannschaft gegen das Pech - und das Unrecht, in das sie sich zusehends versetzt sieht. Die Italiener schinden Zeit, wo es nur geht, der Schiedsrichter tut nichts dagegen und die Sonne brennt unbarmherzig. Ganz besonders für die, die ein Tor aufholen müssen.

Nach der Halbzeit kommt Libuda für Löhr, der erstmals seine weißen Glückssocken nicht trägt, worauf er seine unglückliche Leistung später zurückführen wird. Abwehrchef Schnellinger bittet Co-Trainer Jupp Derwall in der Kabine um ein Zeichen, wenn er nach vorne gehen soll - Schön erfährt von dem Geheimabkommen nichts. Dann Wiederanpfiff: für einen einzigen Sturmlauf. Overath trifft die Latte, der Schuss des zweiten Jokers Held, der Patzke ablöst, wird von Facchetti artistisch aus dem Tor geschlagen. Als Seeler nachsetzt, wird er umgerissen. Es gibt wieder keinen Elfmeter. Die Massen spüren die Ungerechtigkeit, "Alemania" kommt es tausendfach von den Rängen. "Die Mexikaner spüren, was hier los ist. Wie sich eine Mannschaft aufbäumt gegen ein fehlendes Tor, gegen das fehlende Glück", sagt Kommentator Huberty.

"Ausgerechnet Schnellinger"

Als Italiens Torwart Albertosi Müller anschießt und der Ball auf der Linie tanzt, aber sich wieder vom Tor wegdreht, gibt auch Huberty auf: "Es soll nicht sein." Es läuft bereits die Nachspielzeit. Nun kommt Schnellinger, Derwall hat ihn mit Blicken nach vorne beordert. Schön hat es zwar gesehen, aber nicht verstanden und fragt seinen Assistenten pikiert: "Jupp, mit wem telefonierst du da?" In der 90. Minute, als Schön bereits dem Sport-Informations-Dienst an der Bank ein Interview gibt, macht sich das "Ferngespräch" bezahlt. Grabowski flankt von links vor das Tor, und der Mailänder wirft sich mit langem Bein in die Flugbahn des Balles. Er trifft, zum einzigen Mal in seinem Leben, für Deutschland. Hubertys Jubel ist Legende. "Schnellinger! Nein, nein, nein, nein. Schnellinger. 1:1. Der war’s. Durch Schnellinger. Unglaublich. Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen, ausgerechnet Schnellinger. Es ist nicht zu glauben."

In Deutschland schläft im Grunde niemand. Und wer es doch tut, wird gegen 0.45 Uhr vom Torjubel geweckt. Ein Kaufmann aus der Oberpfalz büßt dabei sein halbes Ohr ein, weil er vor Freude gegen eine Lampe gesprungen ist, die zersplittert. Ein Redakteur der Bild-Zeitung, der zu Testzwecken an ein EKG angeschlossen wurde, verzeichnet 139 Herzschläge in dieser Minute. "So erregt hatte sich noch nicht einmal der erste Mensch auf dem Mond gefühlt. Das Herz von Neil Armstrong schlug nur 120-mal in der Minute", stellt das Blatt fest.

Zweimal Müller in der Verlängerung

Dabei kommt das Beste erst noch. Die unglaubliche Verlängerung, vor der die auf dem Platz liegenden Spieler massiert werden. Einige haben Wadenkrämpfe. Kaum hat sie begonnen, da wird Müller, dessen unerbittlicher Bewacher Rosato ausgewechselt wurde, munter. Nach einer Ecke schießt er Deutschland in Führung, mit ganz wenig Kraft, aber umso mehr Instinkt. Sein Kullerball nach einem Missverständnis in der Abwehr der Italiener verendet schier hinter der Linie. "Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt", staunt Huberty, der eben noch gemutmaßt hat, dass eine Steigerung "ja wohl kaum noch möglich ist."

Doch lange währt die Freude nicht. Stürmer Held treibt sich bei einem Freistoß in der eigenen Abwehr herum und wehrt einen Ball mit der Brust vor die Beine von Burgnich ab - 2:2. Nun haben die Italiener wieder Oberwasser. Yamasaki übersieht ein Foul an Libuda, im Gegenzug erzielt Riva das 3:2. Da stehen sie nun am Anstoßkreis, Müller und Seeler, und Huberty bekommt Mitleid. "Man müsste schon fast von einem Wunder sprechen, wenn es der deutschen Mannschaft wieder gelingen würde, den Ausgleich zu erzielen, dann müsste man sagen, es sind physische Wunderknaben." Fünf Minuten später sind sie es. Müller ist wieder zur Stelle, diesmal mit dem Haarschopf. Seeler hat mit seinem hochroten Kopf die Vorlage gegeben.

Vom 3:3 bis zum 3:4 dauert's nur 14 Sekunden

Doch wer sich beim 3:3 ein Bier aus der Küche geholt hat, nimmt den ersten Schluck, als es schon wieder 3:4 steht. Vom Anstoß weg schlagen die Italiener zu. 14 Sekunden dauert das nur, und kein Deutscher kommt an den Ball, ehe der eingewechselte Rivera den Vorhang für dieses Drama schließt. Nun kommt auch diese deutsche Mannschaft nicht mehr heran, sonst hätte es erstmals in der WM-Geschichte einen Losentscheid über einen Finalisten gegeben. Der Schlusspfiff bei mittlerweile angeschaltetem Flutlicht kommt für die entkräfteten Spieler einer Erlösung gleich, Domenghini muss sich sogar übergeben.

Die Zuschauer erheben sich von ihren Plätzen, applaudieren mit offenen Mündern. In Italien, wo man diese Partie nur "das verrückte Spiel" nennt, finden spontane Straßenfeste statt. In Wolfsburg ziehen 2000 italienische Arbeiter durch die Straßen und skandieren "Kartoffel kaputt - Spaghetti schmeckt gut." Sepp Maier dagegen will nie mehr Spaghetti essen, auch keine Pizza, so wütend ist er auf die Italiener. Bei anderen fließen die Tränen.

Im Kabinengang weint Ersatzspieler Wolfgang Weber, im Bus Berti Vogts - obwohl die jubelnden Mexikaner Spalier stehen. Alle spüren: Sie haben Großes geleistet, und nicht immer muss man dafür gewinnen. Als Helmut Schön zur Pressekonferenz kommt, applaudieren die Journalisten. Dann sagt er: "Ich habe unendlich viel erlebt im Fußball, aber diese Partie gegen Italien war an Spannung nicht zu überbieten." Kollege Valcareggi stöhnt: "Ich bin zu alt für solche Aufregungen." So oder so ähnlich sprachen sie alle. "Das hier war das Größte, was ich bisher erlebt habe", sagt Franz Beckenbauer. Und Sepp Maier ist vielleicht der Erste, der es ausspricht: "Das war das Spiel des Jahrhunderts."

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