Vor 30 Jahren: Elfer, Brehme, Weltmeister

Heute vor 30 Jahren wird Deutschland in Rom zum dritten Mal Weltmeister. So knapp der Sieg im Finale gegen Argentinien auch ausfällt, so verdient ist der Titel. Auf dem Weg dorthin bleibt die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer ungeschlagen und enttäuscht nie. In der Vorrunde hat sie schon nach zwei Spielen (4:1 gegen Jugoslawien und 5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate) das Achtelfinale erreicht. Sie kann sich ein 1:1 gegen Kolumbien erlauben, wird Gruppensieger und darf in Mailand bleiben.

Was ein Vorteil ist, denn mit Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann stehen drei Profis von Inter Mailand in der Stammelf. Auch ist die norditalienische Metropole für deutsche Fans leicht zu erreichen, bei allen fünf Partien in San Siro hat das Beckenbauer-Team Heimvorteil. Die Fans dürfen noch ein 2:1 über Europameister Niederlande bejubeln, als Rudi Völler zu Unrecht vom Platz gestellt wurde, und ein 1:0 gegen die Tschechen, nachdem der Kaiser zum einzigen Mal grollt. Im Halbfinale geht es nach Turin und nach 120 Minuten ohne Sieger (1:1) gegen England ins Elfmeterschießen. Zwei Engländer verschießen, alle Deutschen treffen. Der Weg nach Rom ist frei. DFB.de blickt zurück aufs WM-Finale am 8. Juli 1990 - heute vor 30 Jahren.

Erstmals Neuauflage eines WM-Finales

In der Frankfurter DFB-Zentrale klingelten die Telefone am Morgen nach dem Halbfinale schon ab fünf Uhr. Alle wollten Karten, selbst für die regulär günstigsten (47 Mark) wurden bis zu 4000 Mark geboten. Doch vergebens, das Spiel war ausverkauft, wenn auch viele Italiener Karten in der Hoffnung erworben hatten, ihr Team zu sehen. Und so ging nur noch auf dem Schwarzmarkt etwas. Erstmals gab es die Neuauflage eines WM-Finales, und das auch noch bei nächster Gelegenheit. Die Revanche von 1986 machten aus dem DFB-Team noch fünf Spieler mit. Lothar Matthäus, der genesene Rudi Völler, Thomas Berthold - sowie Pierre Littbarski und Klaus Augenthaler, die damals auf der Bank saßen. Diesmal rückte Littbarski in die Elf, in der Thomas Häßler blieb. Teamchef Franz Beckenbauer wählte das Kölner Duo auch aus Verbundenheit. Häßler hatte die Elf erst nach Italien geschossen und Littbarski wollte er nicht noch mal auf der Bank lassen bei einem WM-Finale. Leicht fiel es ihm nicht, Olaf Thon aus der Startelf zu lassen.

Co-Trainer Berti Vogts erzählte 2016 der Sport Bild, was im deutschen Hotel in Rom am Abend vor dem Finale geschah. "Franz zündete sich eine Zigarette an, sagte: 'Wir sind schon Weltmeister. Die Argentinier haben Verletzte, Gesperrte, unsere Aufstellung steht. Wir spielen über die Flügel.' 'Mit wem?', fragte ich. 'Mit Olaf Thon', sagte er. Thon hatte er im Halbfinale gegen England für Pierre Littbarski aufgestellt, ihm nach dem Sieg versprochen, dass er drinbleibt. 'Geht nicht', sagte ich. 'Du hast Littbarski vor dem Halbfinale versprochen, dass er im Finale wieder spielt. Weil wir Argentinien mit ihm und Häßler über die Flügel aufreißen müssen.' Franz sprang auf, ging wütend auf sein Zimmer. Frühmorgens schrieb er elf Spieler auf die Tafel – mit Häßler und Littbarski. Er sagte: 'Diese Elf wird heute Weltmeister. Ohne Wenn und Aber.'"

Mittags um zwölf erfuhren es die Spieler, Thon soll die Sitzung wütend verlassen haben. Auch Uwe Bein war enttäuscht, aber es konnten eben nur elf spielen. Die Frage, wer sich um Weltstar Diego Maradona kümmern sollte, beantwortete Beckenbauer diesmal anders als 1986. Nicht Lothar Matthäus, dessen Offensivkraft er nicht opfern wollte, sondern Guido Buchwald gab den Wachhund. Beckenbauer: "Den wichtigsten Mann stellt man nicht für eine Sonderaufgabe ab." Der Stellenwert von Matthäus war binnen vier Jahren noch mal deutlich gestiegen.

Vier Argentinier fürs Finale gesperrt

Der in Italien kaum überzeugende Weltmeister hatte indes große Personalsorgen. So sehr er den Triumph über Italien im Elfmeterschießen – schon dem zweiten in Folge – feierte, erwies er sich doch bei näherer Betrachtung als Pyrrhus-Sieg. Mit Claudio Cannigia, Julio Olarticoechea, Sergio Batista (alle zwei Gelbe Karten) und Rotsünder Ricardo Giusti waren gleich vier Spieler fürs Finale gesperrt. Schon seit dem zweiten Spiel fehlte Torwart Nery Pumpido. Weltmeistertrainer Carlos Bilardo, immer noch im Amt, musste improvisieren. Caniggia-Vertreter Gustavo Dezotti gab sein Startelfdebüt, Roberto Sensini hatte nur in der Auftaktpartie gespielt. Beckenbauer, der intern anders redete, sah keinen Vorteil darin: "Die, die neu in die Mannschaft kommen – und das im Endspiel – werden sich zerreißen." Für den Kaiser schloss sich ein Kreis. Argentinien war sein erster Gegner als Teamchef und würde nun sein letzter werden. Am Anfang stand ein 1:3 in Düsseldorf in einem Testspiel, in einer anderen Zeit, mit einer anderen Mannschaft. Jetzt, mit der angeblich besten, die er je bei einer WM gesehen hatte, sollte es die Kaiserkrönung geben.

Am Samstag feiern die Deutschen einen ersten Sieg gegen die "Gauchos". Im Olympiastadion kommen sie eine halbe Stunde früher als von der FIFA vorgeschrieben zum Training und verjagen die Argentinier, die sich in eine Hälfte zurückziehen. "Ihr habt sie heute verdrängt und so werdet ihr es auch morgen machen", nutzt Beckenbauer diesen Vorgang psychologisch. Wer kann, kommt natürlich nach Rom. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sich selbstverständlich angesagt. Weil er 1986 kein Glück gebracht hatte, witzelte Beckenbauer: "Vielleicht überlegt er es sich noch einmal." Das tat er nicht, er brachte sogar den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und zehn Minister mit. Argentiniens Präsident Carlos Menem war da etwas rücksichtsvoller. Da er beim 0:1 gegen Kamerun zum Auftakt Pech brachte, blieb er lieber zuhause. Er verkündete aus der Heimat, er sei "absolut sicher", dass sein Land den Titel verteidigen werde. Die Experten hoben indes die Deutschen auf den Favoritenschild. Auch Fritz Walter, Zeit Lebens immer etwas pessimistisch, glaubte zu wissen: "Franz gewinnt den Pokal!"

Deutsche Fans strömen nach Rom

Am Sonntag sind rund 40.000 Deutsche in Rom. Nicht alle haben Tickets, wollen aber in der Nähe der Mannschaft und des Großereignisses sein. In jedem Fall dominieren deutsche Fahnen auf den Rängen, der Favorit hat auch die meisten Sympathien, zumal die Italiener auch auf deutscher Seite sind. Argentinien hat ihre Mannschaft eliminiert und Deutschland spielt mit zwei "Römern" – Berthold und Völler. Als die Hymnen gespielt werden, gibt es für die der Argentinier laute Pfiffe. Maradona reagiert darauf mit einem Schimpfwort, wie Lippenleser Rummenigge erkannt haben will. Der Anpfiff erfolgt um 20 Uhr. Die ganze Welt schaut auf dieses Spiel, 1,5 Milliarden TV-Zuschauer wird man zählen. Die ARD-Übertagung sehen bei Anpfiff 27,93 Millionen, bei Abpfiff sind es gar 29,71 – Einschaltquotenrekord für das deutsche Fernsehen. Am Mikrofon sitzt Gerd Rubenbauer, der den internen Kampf gegen Heribert Faßbender gewonnen hat. Co-Kommentator ist wie bisher bei ARD-Spielen Karl-Heinz Rummenigge, 1982 und 1986 noch selbst auf dem Platz.

Argentinien hat Anstoß, Rubenbauer gesteht: "Auch wir hier oben haben feuchte Hände." Es entwickelt sich ein Spiel auf ein Tor, das der Argentinier. In der dritten Minute setzt Völler einen Volleyschuss nach Brehme-Flanke übers Tor. Es folgen Distanzschüsse, die nahezu alle geblockt werden oder übers Tor fliegen. Die Mannschaft strotzt vor Selbstbewusstsein, ist "immer einen Schritt schneller als der Gegner" (Rummenigge), der sein Heil in der Defensive sucht. Das findet Rummenigge "völlig untypisch südamerikanisch". Buchwald gefällt mit mehreren Tempoläufen, auch über die Flügel, so dass Rubenbauer ihn zum "besten Rechtsaußen Deutschlands" erklärt und fragt: "Wer ist denn hier der Offensive? Maradona oder Buchwald?" Diego Maradona kommt vor der Pause nur einmal zum Abschluss. In der 38. Minute darf ihn auch Buchwald nicht hindern, da gibt es einen Freistoß aus 17 Metern. Maradona schießt über das Tor von Bodo Illgner, das durch einen Brehme-Rückpass am stärksten gefährdet wird – aber Illgner ist auf der Hut. Das Pausenfazit von Rubenbauer: "Deutschland spielt besser, aber wir haben nichts davon."

"Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister"

Carlos Bilardo wechselt in der Halbzeit, bringt Pedro Monzon für Oscar Ruggeri, Verteidiger für Verteidiger. Während die deutschen Stürmer kaum Chancen haben, setzen Mittelfeld und Abwehr offensive Akzente. Littbarski spielt wie aufgedreht, sein Schlenzer zischt knapp vorbei. Dann hechtet Rechtsverteidiger Thomas Berthold mit dem Kopf voraus in einen Brehme-Freistoß – drüber. Auch Klaus Augenthaler hält es in seinem letzten Länderspiel nicht mehr hinten. In der 58. Minute bietet sich ihm die Chance zu seinem ersten Tor im deutschen Dress, im Fünfmeterraum versucht er Torwart Sergio Goycochea auszutanzen und wird von diesem gelegt. In der folgenden Konfusion fabriziert Pedro Troglio fast ein Eigentor, doch Monzon rettet auf der Linie. Der Elfmeter bleibt aus, da kann Rummenigge noch so zetern: "Das war ein ganz klarer Pfiff." Rubenbauer sagt den denkwürdigen Satz: "Ich wage den kessen Spruch: Deutschland wird auch ohne Elfmeter Weltmeister!"

Der deutsche Druck nimmt weiter zu. Littbarski flankt einen Freistoß auf Brehme, der aus 18 Metern volley abzieht – der Torwart ist zur Stelle. In der 64. Minute neigt sich die Waage noch mehr auf die deutsche Seite. Monzon, erst 19 Minuten im Spiel, rennt Klinsmann mit den Beinen voraus über den Haufen. Klinsmann krümmt sich vor Schmerz, Monzon hat schon Feierabend – Rot! Wie gegen die Tschechen ist die Überzahl ein Hemmschuh für die Deutschen. Die Konzentration scheint zu schwinden, es gibt einen Bruch im Spiel und selbst die deutschen Anhänger lassen nach: es wird ruhig im Olympiastadion. 20 Minuten lang gibt es keine Chancen. Schließlich schickt Matthäus Völler auf die Reise. Völler: "Wir hatten das trainiert. Ich stehe in der Mitte und Lothar paßt auf halbrechts." Tausend Mal trainiert, nun hat es sich rentiert. Der Römer dringt in den Strafraum ein, wird von Sensini gecheckt. Den Ball trifft der Argentinier dagegen nicht. Man muss in dieser Szene wohl nicht unbedingt fallen, Völler aber fällt. "Da hat der Rudi ein bisschen geholfen", wird Beckenbauer hinterhersagen. Auf der Pressetribüne sind sie sich einig – ein Konzessionselfmeter. "Den an Augenthaler hätte ich zehnmal eher gegeben", sagt Rubenbauer.

Halb Argentinien stürmt auf den Mexikaner Edgardo Codesal Mendez ein, Maradona holt sich noch eine Verwarnung ab. Ein Argentinier schießt den Ball, den sich Brehme schon auf den Punkt gelegt hat, weg. Kein Drama, nur ein Ablenkungsversuch. Brehme wird hinterher sagen, es habe sieben, acht Minuten gedauert zwischen Pfiff und Ausführung. Es sind nur 1:57 Minuten. Aber ist es ein Wunder, dass es ihm so viel länger vorgekommen ist? Du darfst Sportgeschichte schreiben und man lässt Dich nicht, Sekunden werden zur Ewigkeit. Übrigens darf er nur schießen, weil Matthäus in der Pause den rechten Schuh nach einem Stollenbruch gewechselt hat und sich mit dem neuen nicht sicher fühlt. Brehme fühlt sich sicher. "Ich habe nicht daran gedacht, was dieser Elfmeter für eine Bedeutung hat. Ich habe gar nichts gedacht." Zur Sicherheit ruft ihm Völler zu: "Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister."

Brehme überwindet Elfmeterkiller Goycochea

Sein Gegenüber Goycochea hat bei dieser WM schon vier Elfmeter gehalten, an ihm sind die Jugoslawen und die Italiener verzweifelt. Die Deutschen? Die nicht. Brehme schießt sehr präzise mit rechts nach links unten – wie gegen England. Goycochea hat die Ecke, macht sich noch länger, als er ist, aber der Ball zischt zwischen seiner rechten Hand und dem Pfosten ins Netz. Der Rest ist Schaulaufen, unterbrochen nur noch von einem weiteren argentinischen Platzverweis gegen Dezotti, der Kohler am Hals packt und umreißt. Frustreaktionen einer hoffnungslos unterlegenen Mannschaft, die in Bestbesetzung gewiss ein anderer Gegner gewesen wäre als an diesem Abend, wo Statistiker 23:1 Torschüsse zählen. Nach 47:50 Minuten der zweiten Hälfte pfeift Senor Mendez ab - und Deutschland ist zum dritten Mal Weltmeister, es ist 21.50 Uhr.

Franz Beckenbauer läuft nach der Siegerehrung einsam über den Platz, während seine Spieler eine Ehrenrunde versuchen, was angesichts der Fotografenmeute nicht leicht ist. Das Bild vom einsamen, selbst versunkenen Kaiser geht um die Welt und wird Teil seiner Aura. Er ist seit diesem 8. Juli 1990 erst der Zweite nach dem Brasilianer Mario Zagalo, der als Spieler und Trainer diesen Titel holt. Darauf weist ihn Fieldreporter Jörg Wontorra gleich in der Einstiegsfrage hin, und der Kaiser antwortet lächelnd: "Zufälle gibt’s!"

Widerspruch! Der Sieg von Rom ist alles andere als ein Zufall. In der Heimat brechen spontane Straßenfeste aus. Ein glückliches Land ist noch etwas glücklicher seit jenem 8. Juli. 1990 ist das Jahr der Deutschen. Im Überschwang der Gefühle sagt Beckenbauer auf der Pressekonferenz, als man ihn auf die Möglichkeiten, die sich durch die Wiedervereinigung ergeben könnten: "Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden auf Jahre hinaus nicht zu besiegen sein." Niemand will in diesem Moment widersprechen. 50.000 feiern die Mannschaft am nächsten Tag, dem eine sehr kurze Nacht vorausgegangen ist, auf dem Frankfurter Römer – da wo sie schon im Mittelalter die Kaiser gekrönt haben.

Aufstellung: Illgner – Berthold (74. Reuter), Augenthaler, Kohler, Brehme – Littbarski, Matthäus, Buchwald, Häßler – Völler, Klinsmann.

Tore: 1:0 Brehme (85., Foulelfmeter).

Zuschauer: 73.603

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Heute vor 30 Jahren wird Deutschland in Rom zum dritten Mal Weltmeister. So knapp der Sieg im Finale gegen Argentinien auch ausfällt, so verdient ist der Titel. Auf dem Weg dorthin bleibt die Mannschaft von Teamchef Franz Beckenbauer ungeschlagen und enttäuscht nie. In der Vorrunde hat sie schon nach zwei Spielen (4:1 gegen Jugoslawien und 5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate) das Achtelfinale erreicht. Sie kann sich ein 1:1 gegen Kolumbien erlauben, wird Gruppensieger und darf in Mailand bleiben.

Was ein Vorteil ist, denn mit Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann stehen drei Profis von Inter Mailand in der Stammelf. Auch ist die norditalienische Metropole für deutsche Fans leicht zu erreichen, bei allen fünf Partien in San Siro hat das Beckenbauer-Team Heimvorteil. Die Fans dürfen noch ein 2:1 über Europameister Niederlande bejubeln, als Rudi Völler zu Unrecht vom Platz gestellt wurde, und ein 1:0 gegen die Tschechen, nachdem der Kaiser zum einzigen Mal grollt. Im Halbfinale geht es nach Turin und nach 120 Minuten ohne Sieger (1:1) gegen England ins Elfmeterschießen. Zwei Engländer verschießen, alle Deutschen treffen. Der Weg nach Rom ist frei. DFB.de blickt zurück aufs WM-Finale am 8. Juli 1990 - heute vor 30 Jahren.

Erstmals Neuauflage eines WM-Finales

In der Frankfurter DFB-Zentrale klingelten die Telefone am Morgen nach dem Halbfinale schon ab fünf Uhr. Alle wollten Karten, selbst für die regulär günstigsten (47 Mark) wurden bis zu 4000 Mark geboten. Doch vergebens, das Spiel war ausverkauft, wenn auch viele Italiener Karten in der Hoffnung erworben hatten, ihr Team zu sehen. Und so ging nur noch auf dem Schwarzmarkt etwas. Erstmals gab es die Neuauflage eines WM-Finales, und das auch noch bei nächster Gelegenheit. Die Revanche von 1986 machten aus dem DFB-Team noch fünf Spieler mit. Lothar Matthäus, der genesene Rudi Völler, Thomas Berthold - sowie Pierre Littbarski und Klaus Augenthaler, die damals auf der Bank saßen. Diesmal rückte Littbarski in die Elf, in der Thomas Häßler blieb. Teamchef Franz Beckenbauer wählte das Kölner Duo auch aus Verbundenheit. Häßler hatte die Elf erst nach Italien geschossen und Littbarski wollte er nicht noch mal auf der Bank lassen bei einem WM-Finale. Leicht fiel es ihm nicht, Olaf Thon aus der Startelf zu lassen.

Co-Trainer Berti Vogts erzählte 2016 der Sport Bild, was im deutschen Hotel in Rom am Abend vor dem Finale geschah. "Franz zündete sich eine Zigarette an, sagte: 'Wir sind schon Weltmeister. Die Argentinier haben Verletzte, Gesperrte, unsere Aufstellung steht. Wir spielen über die Flügel.' 'Mit wem?', fragte ich. 'Mit Olaf Thon', sagte er. Thon hatte er im Halbfinale gegen England für Pierre Littbarski aufgestellt, ihm nach dem Sieg versprochen, dass er drinbleibt. 'Geht nicht', sagte ich. 'Du hast Littbarski vor dem Halbfinale versprochen, dass er im Finale wieder spielt. Weil wir Argentinien mit ihm und Häßler über die Flügel aufreißen müssen.' Franz sprang auf, ging wütend auf sein Zimmer. Frühmorgens schrieb er elf Spieler auf die Tafel – mit Häßler und Littbarski. Er sagte: 'Diese Elf wird heute Weltmeister. Ohne Wenn und Aber.'"

Mittags um zwölf erfuhren es die Spieler, Thon soll die Sitzung wütend verlassen haben. Auch Uwe Bein war enttäuscht, aber es konnten eben nur elf spielen. Die Frage, wer sich um Weltstar Diego Maradona kümmern sollte, beantwortete Beckenbauer diesmal anders als 1986. Nicht Lothar Matthäus, dessen Offensivkraft er nicht opfern wollte, sondern Guido Buchwald gab den Wachhund. Beckenbauer: "Den wichtigsten Mann stellt man nicht für eine Sonderaufgabe ab." Der Stellenwert von Matthäus war binnen vier Jahren noch mal deutlich gestiegen.

Vier Argentinier fürs Finale gesperrt

Der in Italien kaum überzeugende Weltmeister hatte indes große Personalsorgen. So sehr er den Triumph über Italien im Elfmeterschießen – schon dem zweiten in Folge – feierte, erwies er sich doch bei näherer Betrachtung als Pyrrhus-Sieg. Mit Claudio Cannigia, Julio Olarticoechea, Sergio Batista (alle zwei Gelbe Karten) und Rotsünder Ricardo Giusti waren gleich vier Spieler fürs Finale gesperrt. Schon seit dem zweiten Spiel fehlte Torwart Nery Pumpido. Weltmeistertrainer Carlos Bilardo, immer noch im Amt, musste improvisieren. Caniggia-Vertreter Gustavo Dezotti gab sein Startelfdebüt, Roberto Sensini hatte nur in der Auftaktpartie gespielt. Beckenbauer, der intern anders redete, sah keinen Vorteil darin: "Die, die neu in die Mannschaft kommen – und das im Endspiel – werden sich zerreißen." Für den Kaiser schloss sich ein Kreis. Argentinien war sein erster Gegner als Teamchef und würde nun sein letzter werden. Am Anfang stand ein 1:3 in Düsseldorf in einem Testspiel, in einer anderen Zeit, mit einer anderen Mannschaft. Jetzt, mit der angeblich besten, die er je bei einer WM gesehen hatte, sollte es die Kaiserkrönung geben.

Am Samstag feiern die Deutschen einen ersten Sieg gegen die "Gauchos". Im Olympiastadion kommen sie eine halbe Stunde früher als von der FIFA vorgeschrieben zum Training und verjagen die Argentinier, die sich in eine Hälfte zurückziehen. "Ihr habt sie heute verdrängt und so werdet ihr es auch morgen machen", nutzt Beckenbauer diesen Vorgang psychologisch. Wer kann, kommt natürlich nach Rom. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte sich selbstverständlich angesagt. Weil er 1986 kein Glück gebracht hatte, witzelte Beckenbauer: "Vielleicht überlegt er es sich noch einmal." Das tat er nicht, er brachte sogar den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und zehn Minister mit. Argentiniens Präsident Carlos Menem war da etwas rücksichtsvoller. Da er beim 0:1 gegen Kamerun zum Auftakt Pech brachte, blieb er lieber zuhause. Er verkündete aus der Heimat, er sei "absolut sicher", dass sein Land den Titel verteidigen werde. Die Experten hoben indes die Deutschen auf den Favoritenschild. Auch Fritz Walter, Zeit Lebens immer etwas pessimistisch, glaubte zu wissen: "Franz gewinnt den Pokal!"

Deutsche Fans strömen nach Rom

Am Sonntag sind rund 40.000 Deutsche in Rom. Nicht alle haben Tickets, wollen aber in der Nähe der Mannschaft und des Großereignisses sein. In jedem Fall dominieren deutsche Fahnen auf den Rängen, der Favorit hat auch die meisten Sympathien, zumal die Italiener auch auf deutscher Seite sind. Argentinien hat ihre Mannschaft eliminiert und Deutschland spielt mit zwei "Römern" – Berthold und Völler. Als die Hymnen gespielt werden, gibt es für die der Argentinier laute Pfiffe. Maradona reagiert darauf mit einem Schimpfwort, wie Lippenleser Rummenigge erkannt haben will. Der Anpfiff erfolgt um 20 Uhr. Die ganze Welt schaut auf dieses Spiel, 1,5 Milliarden TV-Zuschauer wird man zählen. Die ARD-Übertagung sehen bei Anpfiff 27,93 Millionen, bei Abpfiff sind es gar 29,71 – Einschaltquotenrekord für das deutsche Fernsehen. Am Mikrofon sitzt Gerd Rubenbauer, der den internen Kampf gegen Heribert Faßbender gewonnen hat. Co-Kommentator ist wie bisher bei ARD-Spielen Karl-Heinz Rummenigge, 1982 und 1986 noch selbst auf dem Platz.

Argentinien hat Anstoß, Rubenbauer gesteht: "Auch wir hier oben haben feuchte Hände." Es entwickelt sich ein Spiel auf ein Tor, das der Argentinier. In der dritten Minute setzt Völler einen Volleyschuss nach Brehme-Flanke übers Tor. Es folgen Distanzschüsse, die nahezu alle geblockt werden oder übers Tor fliegen. Die Mannschaft strotzt vor Selbstbewusstsein, ist "immer einen Schritt schneller als der Gegner" (Rummenigge), der sein Heil in der Defensive sucht. Das findet Rummenigge "völlig untypisch südamerikanisch". Buchwald gefällt mit mehreren Tempoläufen, auch über die Flügel, so dass Rubenbauer ihn zum "besten Rechtsaußen Deutschlands" erklärt und fragt: "Wer ist denn hier der Offensive? Maradona oder Buchwald?" Diego Maradona kommt vor der Pause nur einmal zum Abschluss. In der 38. Minute darf ihn auch Buchwald nicht hindern, da gibt es einen Freistoß aus 17 Metern. Maradona schießt über das Tor von Bodo Illgner, das durch einen Brehme-Rückpass am stärksten gefährdet wird – aber Illgner ist auf der Hut. Das Pausenfazit von Rubenbauer: "Deutschland spielt besser, aber wir haben nichts davon."

"Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister"

Carlos Bilardo wechselt in der Halbzeit, bringt Pedro Monzon für Oscar Ruggeri, Verteidiger für Verteidiger. Während die deutschen Stürmer kaum Chancen haben, setzen Mittelfeld und Abwehr offensive Akzente. Littbarski spielt wie aufgedreht, sein Schlenzer zischt knapp vorbei. Dann hechtet Rechtsverteidiger Thomas Berthold mit dem Kopf voraus in einen Brehme-Freistoß – drüber. Auch Klaus Augenthaler hält es in seinem letzten Länderspiel nicht mehr hinten. In der 58. Minute bietet sich ihm die Chance zu seinem ersten Tor im deutschen Dress, im Fünfmeterraum versucht er Torwart Sergio Goycochea auszutanzen und wird von diesem gelegt. In der folgenden Konfusion fabriziert Pedro Troglio fast ein Eigentor, doch Monzon rettet auf der Linie. Der Elfmeter bleibt aus, da kann Rummenigge noch so zetern: "Das war ein ganz klarer Pfiff." Rubenbauer sagt den denkwürdigen Satz: "Ich wage den kessen Spruch: Deutschland wird auch ohne Elfmeter Weltmeister!"

Der deutsche Druck nimmt weiter zu. Littbarski flankt einen Freistoß auf Brehme, der aus 18 Metern volley abzieht – der Torwart ist zur Stelle. In der 64. Minute neigt sich die Waage noch mehr auf die deutsche Seite. Monzon, erst 19 Minuten im Spiel, rennt Klinsmann mit den Beinen voraus über den Haufen. Klinsmann krümmt sich vor Schmerz, Monzon hat schon Feierabend – Rot! Wie gegen die Tschechen ist die Überzahl ein Hemmschuh für die Deutschen. Die Konzentration scheint zu schwinden, es gibt einen Bruch im Spiel und selbst die deutschen Anhänger lassen nach: es wird ruhig im Olympiastadion. 20 Minuten lang gibt es keine Chancen. Schließlich schickt Matthäus Völler auf die Reise. Völler: "Wir hatten das trainiert. Ich stehe in der Mitte und Lothar paßt auf halbrechts." Tausend Mal trainiert, nun hat es sich rentiert. Der Römer dringt in den Strafraum ein, wird von Sensini gecheckt. Den Ball trifft der Argentinier dagegen nicht. Man muss in dieser Szene wohl nicht unbedingt fallen, Völler aber fällt. "Da hat der Rudi ein bisschen geholfen", wird Beckenbauer hinterhersagen. Auf der Pressetribüne sind sie sich einig – ein Konzessionselfmeter. "Den an Augenthaler hätte ich zehnmal eher gegeben", sagt Rubenbauer.

Halb Argentinien stürmt auf den Mexikaner Edgardo Codesal Mendez ein, Maradona holt sich noch eine Verwarnung ab. Ein Argentinier schießt den Ball, den sich Brehme schon auf den Punkt gelegt hat, weg. Kein Drama, nur ein Ablenkungsversuch. Brehme wird hinterher sagen, es habe sieben, acht Minuten gedauert zwischen Pfiff und Ausführung. Es sind nur 1:57 Minuten. Aber ist es ein Wunder, dass es ihm so viel länger vorgekommen ist? Du darfst Sportgeschichte schreiben und man lässt Dich nicht, Sekunden werden zur Ewigkeit. Übrigens darf er nur schießen, weil Matthäus in der Pause den rechten Schuh nach einem Stollenbruch gewechselt hat und sich mit dem neuen nicht sicher fühlt. Brehme fühlt sich sicher. "Ich habe nicht daran gedacht, was dieser Elfmeter für eine Bedeutung hat. Ich habe gar nichts gedacht." Zur Sicherheit ruft ihm Völler zu: "Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister."

Brehme überwindet Elfmeterkiller Goycochea

Sein Gegenüber Goycochea hat bei dieser WM schon vier Elfmeter gehalten, an ihm sind die Jugoslawen und die Italiener verzweifelt. Die Deutschen? Die nicht. Brehme schießt sehr präzise mit rechts nach links unten – wie gegen England. Goycochea hat die Ecke, macht sich noch länger, als er ist, aber der Ball zischt zwischen seiner rechten Hand und dem Pfosten ins Netz. Der Rest ist Schaulaufen, unterbrochen nur noch von einem weiteren argentinischen Platzverweis gegen Dezotti, der Kohler am Hals packt und umreißt. Frustreaktionen einer hoffnungslos unterlegenen Mannschaft, die in Bestbesetzung gewiss ein anderer Gegner gewesen wäre als an diesem Abend, wo Statistiker 23:1 Torschüsse zählen. Nach 47:50 Minuten der zweiten Hälfte pfeift Senor Mendez ab - und Deutschland ist zum dritten Mal Weltmeister, es ist 21.50 Uhr.

Franz Beckenbauer läuft nach der Siegerehrung einsam über den Platz, während seine Spieler eine Ehrenrunde versuchen, was angesichts der Fotografenmeute nicht leicht ist. Das Bild vom einsamen, selbst versunkenen Kaiser geht um die Welt und wird Teil seiner Aura. Er ist seit diesem 8. Juli 1990 erst der Zweite nach dem Brasilianer Mario Zagalo, der als Spieler und Trainer diesen Titel holt. Darauf weist ihn Fieldreporter Jörg Wontorra gleich in der Einstiegsfrage hin, und der Kaiser antwortet lächelnd: "Zufälle gibt’s!"

Widerspruch! Der Sieg von Rom ist alles andere als ein Zufall. In der Heimat brechen spontane Straßenfeste aus. Ein glückliches Land ist noch etwas glücklicher seit jenem 8. Juli. 1990 ist das Jahr der Deutschen. Im Überschwang der Gefühle sagt Beckenbauer auf der Pressekonferenz, als man ihn auf die Möglichkeiten, die sich durch die Wiedervereinigung ergeben könnten: "Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden auf Jahre hinaus nicht zu besiegen sein." Niemand will in diesem Moment widersprechen. 50.000 feiern die Mannschaft am nächsten Tag, dem eine sehr kurze Nacht vorausgegangen ist, auf dem Frankfurter Römer – da wo sie schon im Mittelalter die Kaiser gekrönt haben.

Aufstellung: Illgner – Berthold (74. Reuter), Augenthaler, Kohler, Brehme – Littbarski, Matthäus, Buchwald, Häßler – Völler, Klinsmann.

Tore: 1:0 Brehme (85., Foulelfmeter).

Zuschauer: 73.603

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